Algerien: Zoff an der Armee- und Staatsspitze
Was ist da los?

von Bernard Schmid

11/2018

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Vorbemerkung: Das vorliegende Artikelmanuskript datiert vom 04. Oktober 18. Seitdem gingen die Säuberungen im algerischen Armeeapparat munter weiter, im selben Sinne wie beschrieben; am 14. Oktober 18 wurden fünf geschasste Generäle gar eingeknastet. Vgl. dazu einen Artikel jüngeren Datums, wenngleich aus einer teilweise kritikwürdigen Quelle: https://algeria-watch.org/?p=69775  

Dereinst bildete sie das Rückgrat der politischen Macht im Land, und noch immer bildet sie einen wichtigen Einflussfaktor. Die Armee in Algerien spielte - und spielt zum Teil noch – eine wichtige Rolle in der Innenpolitik. Nun aber fallen einige ihrer führenden Köpfe einer beispielslosen Säuberungswelle zum Opfer, auch wenn diese unblutig verläuft und nicht mit der Guillotine, sondern mit Zwangsversetzungen in den Ruhestand einhergeht.

Es war faktisch die „Nationale Befreiungsarmee“ (ALN), die bei der Unabhängigkeit von der Kolonialmacht Frankreich im Jahr 1962 die Macht übernahm. Den zivilen Flügel der „Nationalen Befreiungsfront“ (des FLN), die seit 1954 gegen die französische Herrschaft kämpfte und die ab 1962 zur Staats-, ab dem darauffolgenden Jahr zur Einheitspartei bis 1989 umgewandelt wurde, hatten sowohl die französische Repression als auch innere „Säuberungen“ dezimiert. Einer der intelligentesten Köpfe des FLN in der Untergrundzeit war Abane Ramdane, der 1956 mit dem „Kongress der Soumam“ – er fand klandestin im algerischen Berbergebiet statt – versucht hatte, die Bewegung einer zivilen Kontrolle zu unterstellen und ihr ein politisches Programm zu verleihen, zu welchem der Laizismus gehörte. Doch Angehörige des militärischen Arms der Befreiungsfront fürchteten um ihre Machtstellung innerhalb der Bewegung, und später im Land nach der angestrebten Unabhängigkeit. In den letzten Tagen des Jahres 1957 wurde Ramdane unter einem Vorwand nach Marokko eingeladen, dort in einen Hinterhalt gelockt und von Leuten aus den „eigenen Reihen“ ermordet.

Im Sommer 1962 nahm die „Grenzarmee“ der ALN, die bis dahin in den Nachbarländern Marokko und Tunesien bis zum Ende der Kampfhandlungen des Kolonialkriegs ausharrte und – im Unterschied zur städtischen Guerilla des FLN – nicht durch die Repression gebeutelt worden war, die Macht in die Hand. Dies führte zu Kämpfen zwischen unterschiedlichen politischen Fraktionen in der Hauptstadt Algier, doch die Bevölkerung ging massenhaft auf die Strassen, um ein schnelles Ende der Kampfhandlungen zu fordern, unter dem Kriegsmüdigkeit ausdrückenden Slogan: „Sieben Jahre sind genug!“ De facto profitierte der Armeeapparat von der Situation nach dem inneren Waffenstillstand. Die ALN wurde zur „Nationalen Volksarmee“ (ANP) und zur Stütze der Macht.

In ihren Reihen fanden sich viele Profiteure des Schwarzmarkts, nachdem der Niedergang der staatssozialistischen Versuche zum Aufbau einer eigenständigen Ökonomie – die in den 1980er Jahre gestoppt wurden, zugunsten der Konzentration auf eine reine Exportökonomie für Erdöl und Erdgas, die den Großteil ihrer Bedarfsgüter importiert – die Schattenwirtschaft aufblühen und gedeihen ließ. Tatsächlich halten viele führende Militärs faktische Monopolstellungen beim, legalen oder illegalen, Import von Grundbedarfsgütern. Im Hafen von Algier kennt der Volksmund etwa den „Zuckergeneral“, den „Konservengeneral“ und ähnliche Figuren, die jeweils ihre Hand schützend über einen lukrativen Sektor der informellen Wirtschaft halten.

Doch seitdem Ende Mai dieses Jahres im Hafen von Oran in einem Container mit vorgeblichem Büchsenfleisch aus Brasilien gut 700 Kilogramm Kokain aufgefunden wurden, kamen einige dieser Bastionen ins Wanken. Seitdem begann eine Verhaftungswelle, Teile des weitverzweigten Wirtschaftsimperiums rund um den Geschäftsmann, Fleischimporteur und Immobilienmakler Kamel Chikhi alias „El Bouchi“ zu zerlegen. Chikhi trug den – wohl etwas übertriebenen - Spitzennamen „der Pablo Escobar von Kouba“, nach einem Stadtteil von Algier. Seine Karriere ist übrigens bezeichnend dafür, wie seit den 1990er Jahren eine neue Bourgeoisie außerhalb der bis dahin allein Ton angebenden Bürokratie von Armee und FLN-Parteiapparat entstanden ist und sich mit ihnen nunmehr einen Teil der Pfründe teilt.
Chikhi und seine Familie standen im Bürgerkrieg der Jahre 1992 bis 1999 nicht auf Seiten der Armee. Sie begannen damals als Unternehmer und Kriegsgewinnler in der Stadt Lakhdaria südöstlich von Algier, einer absoluten Hochburg der 1992 verbotenen und danach im Untergrund kämpfenden „Islamischen Rettungsfront“ (FIS). De facto profitierten sie von der „wilden“ Privatisierung von Dienstleistungen wie etwa Transportunternehmen, die bis dahin in staatlicher Hand waren, jedoch durch die Staatsmacht jedenfalls in den Bürgerkriegszonen – aber aufgrund des 1994 beschlossenen drastischen Sparprogramms de IWF für die öffentliche Hand in Algerien - nicht mehr wahrgenommen wurden. Kamel Chikhis Cousin Omar war eines der Gründungsmitglieder der „Bewaffneten islamischen Gruppen“ (GIA), die ab Mitte der neunziger Jahre eine mörderische Kampfführung betrieben, fiel jedoch 1999 unter das zum Ausgang des Bürgerkriegs verabschiedete Amnestiegesetz. Der Geschäftsmann selbst finanzierte eifrig Moscheen und Koranschulen in der Region.

Der immer breitere Kreise ziehende Kokain-Skandal führt nun dazu, dass im algerischen Establishment die Karten neu gemischt werden. Störende Konkurrenten werden auf diesem Wege ausgeschaltet, auch in den Reihen der Armee. Eine Gruppe von Zivilisten um den Bruder des schwerkranken Staatspräsidenten Abdelaziz Bouteflika, den erheblichen Einfluss auf die Staatsgeschäfte nehmenden Said Bouteflika, versucht wachsende Teile des Geschäftslebens auch in der Schattenwirtschaft an sich zu ziehen. Zugleich gilt es, die Kandidatur des grundsätzlich amtsunfähigen Abdelaziz Bouteflika für die nächste Präsidentschaftswahl – voraussichtlich im April 2019 – vorzubereiten.

Am 18. September wurde so der Oberbefehlshaber der LuftstreitkrÄfte, Generalmajor Abdelkader Lounès, durch das Verteidigungsministerium zwangsweise in den Ruhestand versetzt. Ihm ging Ende August die Zwangspensionierung von Ahcène Tafer, des Oberkommandierenden der Landstreitkräfte, voraus. Insgesamt wurden seit Juni dieses Jahres und dem Ausbruch des Kokain-Skandals bereits ein Dutzend hoher und höchster Militärs aus dem aktiven Dienst verdrängt. Offiziell stets ohne Angabe von Gründen.

Hinter den Kulissen tobt auch ein Kampf zwischen Seilschaften, die unterschiedliche politische Ausrichtungen propagieren. Bleibt auch der Nachbar Marokko – gegenüber dem Algerien die Befreiungsbewegung für die besetzte Westsahara, Polisario, seit Jahrzehnten unterstützt und auch auf seinem Boden beherbergt – der offizielle Erzfeind, so stellt sich doch die Frage der Beziehungen zu anderen benachbarten Mächten. Seit Ausbruch des „arabischen Frühlings“ 2011 hatte die Regierungsspitze weitgehend die Positionen des syrischen Regimes unterstützt und angegeben, hinter den sich damals andeutenden Umwälzungen in der Regierung steckten Islamisten, die mit westlicher Unterstützung die Nationalstaaten unterminieren wollten. Doch in den letzten Wochen wärmen sich die Beziehungen zur Türkei, zu Qatar und zu islamistischen Fraktionen in Libyen auf, da das Außenministerium das Land auf regionaler Ebene nicht isoliert sehen möchte.

Zugleich bleibt Russland der Hauptlieferant Algeriens für Waffen und Rüstungsgüter, doch gerät sein Einfluss zunehmend mit dem der USA in Konkurrenz. Teile des Establishments in Nordamerika blicken über den Tellerrand ihres traditionellen Bündnisses mit Marokko, und ein Ende September vorgestellter offizieller US-Bericht lobt ausdrücklich die Erfolge der algerischen Armee im Kampf gegen das Eindringen jihadistischer Kräfte in der südlich angrenzen Sahelzone.

All diese Auseinandersetzungen um die Ausrichtung der Politik Algeriens tragen dazu bei, die eskalierenden Fraktionskämpfe zu verschärfen.

Einigkeit im Etablishment des Landes stiftet hingegen die Abgrenzung zum Nachbarn und Erzrivalen Marokko, wobei die Verflechtung beider Staaten mit den internationalen Großmächten wie Frankreich und den USA dazu beiträgt, zu verhindern, dass deren Konkurrenz in einen potenziell „heißen“ militärischen Konflikt wie 1963 umschlägt. In Frankreich etwa gibt es seit vorigem Jahr Doppelmitgliedschaften in den jeweiligen parlamentarischen Freundschaftsgesellschaften mit Marokko und Algerien, die dazu beitragen sollen, die trilateralen Beziehungen zu vertiefen. Nichtsdestotrotz mangelt es nicht an beiderseitigen Sticheleien, wie im März, als Algeriens Außenminister Abdelkader Messahel verkündete, die marokkanischen Fluggesellschaft RAM (Royal Air Maroc) transportiere „nicht nur Passagiere“ – eine durchsichtige Anspielung auf die ökonomische Bedeutung des Haschischhandels im Königreich. Als im April der Unfall eines algerischen Militärflugzeugs in Boufarik über 200 Tote kostete, wies hingegen die marokkanische Seite triumphierend darauf hin, 26 Mitglieder der Polisario hätten sich in dem Armeeflugzeug befunden. Am 4. und 5. Dezember sollen Marokko, Algerien und die Polisario nun am UN-Sitz in Genf miteinander verhandeln. Vermittler im Auftrag der UN ist Horst Köhler, der frühere deutsche Bundespräsident.

Editorischer Hinweis

Wir erhielten diesen Artikel vom Autor für diese Ausgabe.