Editorial
Der Blick auf das Ganze


von Karl Mueller

11/2018

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onlinezeitung

Herbert Becker ist zurecht über die Literaturempfehlungen empört, auf die er zufällig in einer rheinischen Universitäts-Buchhandlung stieß. Mit Schriften von Botho Strauß bis Ernst Jünger sollen Lehramt-Studierende im Fachbereich Germanistik und vergleichende Literaturwissenschaft ideologisch zugerichtet werden. Er resümiert:"Dieses Abdriften in reaktionäre ideologische Meinungen scheint gewünscht."

Dies ist mir zu milde ausgedrückt. Eher scheint diese reaktionäre ideologische Ausrichtung einem bundesweiten heimlichen Lehrplan zu folgen. An der Freien Universität Berlin wird z.B. Lehramt-Studierenden unter dem Begriff "Rezeptionsästhetik" verordnet,  Literatur nur noch aus den Empfindungen der rezipierenden Schüler*innen heraus  interpretieren zu lassen. Gesellschaftliche Zusammenhänge, die sich im Kunstprodukt durch die Persönlichkeit des/der Kunstschaffenden rückspiegeln, werden damit als Gegenstand der Werkinterpretation ausgeschlossen. Der Blick auf das Ganze wird damit versperrt und durch eine subjektivistisch-narrative Herangehensweise ersetzt. So lernen die Schüler*innen, wie sich die "bürgerliche Monade"(Marx) durch ihre persönliche Wahrnehmung scheinbar selbst konstituiert. Doch ihre gesellschaftlich geformte Individualität - z.B. in Gestalt der Schulpflicht, ist ein gesellschaftlich bedingter Widerspruch in sich. Ihn zu erfahren und sich seiner gesellschaftlichen Konstitutionsbedingungen bewußt zu werden, formen hingegen "eingreifendes Denken"(Brecht).

So bleibt zu hoffen, dass sich die Schüler*innen gesellschaftskritische Fragen an Werk und Künstler trotz Notendrucks nicht verbieten lassen und beginnen, eingreifende Fragen zu stellen. Als zukünftige Lehrer*innen könnten - oder besser - sollten Lehramt-Studierende selber eingreifendes Denken erlernen, indem sie sich gegen eine reaktionäre ideologische Ausrichtung ihres Studiums wehren. Auf dem Gebiet der sogenannten "Rezeptionsästhetik" könnnten sie z.B. der Frage nachgehen, warum Hans Robert Jauß, ein hochdekorierter Offizier der Waffen-SS, der im Faschismus Philosophie studierte, in der BRD Professor und bedeutender Protagonist  dieser "Rezeptionsästhetik" werden konnte. Um dies ideengeschichtlich zu erfassen, wäre für solche Untersuchungen sicherlich ein Blick in Georg Lukács "Zerstörung der Vernunft" zielführend.

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Während es heute  im Bildungssektor darum geht, das Erlernen eines "eingreifenden Denkens" zu unterbinden, das den Kapitalismus, um ihn abzuschaffen, auf den Prüstand stellt, ging es in den 1970er Jahr darum, dieses Denken, das infolge der 1968er Bewegung im Bildungssektor angekommen war, dort wieder zu eliminieren. Zwei Maßnahmen prägten diese Rollback-Strategie: Berufsverbote und Unvereinbarkeitsbeschlüsse. Eine Veranstaltung des BA Berlin-Neukölln widmete sich im vergangenen Oktober diesem Thema. Und wie den Mitteilungen von Karl-Heinz Schubert in dieser Ausgabe zu entnehmen ist, fehlte auch dort der Bezug auf den gesamtgesellschaftlichen Kontext. Dem Blick auf das Ganze wurde gezielt mit einer subjektivistisch-narrativen Herangehensweise entgegengearbeitet, indem Berufsverbote als reine Willkürakte einzelner leitender Beamte dargestellt wurden. Das war mit Sicherheit kein Einzelfall, denn diese Veranstaltung entsprach dem heute gängigen Geschichtsbild, wo sich "Jeder selbst der Nächste ist".  Wir haben uns deshalb entschieden, in dieser Ausgabe die Politik der Berufsverbote und der Unvereinbarkeitsbeschlüsse mit Bezug auf die historischen Fakten der BRD-Klassenwirklichkeit darzustellen.

Was es heißt, entgegen dem ideologischen Mainstream die Dialektik der kapitalistischen Entwicklung als einen gesamtgesellschaftlichen Prozess zu untersuchen, zeigen die Untersuchungen: Und es gibt sie doch! und Disruption – Zerstörerischer Angriff des Kapitals, die wir in diese Ausgabe aufgenommen haben.

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