In der
Entwicklungsgeschichte des Marxismus nimmt G. W.
Plechanow eine hervorragende Stellung ein. Er ist ein
sehr bedeutender Theoretiker des Marxismus. Friedrich
Engels schätzte Plechanows Begabung und seine
theoretische und praktische revolutionäre Tätigkeit
hoch ein. In einem Brief an Kautsky vom 3. Dezember
1891 bezeichnete er Plechanows Artikel als
ausgezeichnet.
Lenin empfahl in seinem
Aufsatz „Karl Marx" viele philosophische Werke
Plechanows. Er sah in Plechanows Schriften die für
seine Zeit beste Darstellung der Philosophie des
Marxismus und wies immer wieder darauf hin, daß die
ältere Generation der russischen Marxisten aus
Plechanows Arbeiten gelernt hat.
Plechanow spielte bei
der Begründung, Verteidigung und Ausarbeitung einiger
Fragen der marxistischen Theorie eine wichtige Rolle.
Unter den bekanntesten Theoretikern der II.
Internationale, zu denen Männer wie Franz Mehring und
Paul Lafargue gehörten, drang er besonders tief in
die marxistische Theorie ein. Plechanow war, wie
Lenin einmal sagte, unter den Sozialisten der beste
Kenner der Philosophie des Marxismus, und seine
philosophischen Arbeiten gehörten zu den besten in
der gesamten internationalen marxistischen
Literatur.
Zugleich spielte
Plechanow eine bedeutende praktische Rolle in der
Arbeiterbewegung am Ende des 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts. Seine
fortschrittliche Tätigkeit fiel in die Jahre 1883
bis 1903. Bis zu diesem Jahre stand er auf dem Boden
des revolutionären Marxismus. In der Geschichte der
damaligen russischen Arbeiterbewegung leistete er
einen bedeutenden Beitrag zur Entwicklung des
politischen Bewußtseins der russischen
Arbeiterklasse. Er organisierte die erste russische
marxistische Gruppe, die Gruppe „Befreiung der
Arbeit" (1883).
In der sowjetischen
Literatur wurde in letzter Zeit Lenins Urteil über
Plechanow gewöhnlich mit Stillschweigen übergangen
und nicht selten falsch dargestellt und dessen
historische Rolle in der Arbeiterbewegung
herabgesetzt. So wurde Plechanows theoretische
Tätigkeit auf die Propagierung und Popularisierung
der Ideen des Marxismus beschränkt. Er war indessen
neben Franz Mehring, Paul Lafargue und anderen einer
der größten Theoretiker des Marxismus.
Plechanow
popularisierte den Marxismus nicht nur in glänzender
Weise, sondern war ein selbständiger Forscher,
der in vielen Fragen der materialistischen
Geschichtsauffassung Klarheit geschaffen hat. Wir
erwähnen nur die Frage des gesellschaftlichen
Seins und des gesellschaftlichen Bewußtseins, das
Problem der gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeit, die
Rolle der Volksmassen und der Persönlichkeit
in der Geschichte, die relative Selbständigkeit in
der Entwicklung der Ideologie, die Analyse der Formen
des gesellschaftlichen Bewußtseins (der Kunst, der
Religion usw.). Plechanow hat in seinen Arbeiten zur
Geschichte des philosophischen, ästhetischen und
gesellschaftlich-politischen Denkens viele
selbständige und schöpferische Gedanken entwickelt.
*
Unter dem Einfluß
der gesellschaftlichen Entwicklung Rußlands, in
der die Arbeiterbewegung immer größere geschichtliche
Bedeutung gewann, sowie unter dem Einfluß der Werke
von Marx und Engels gelangte Plechanow allmählich zu
einer kritischen Revision seiner volkstümlerischen
Anschauungen. An der revolutionären Bewegung der
Volkstümler beteiligte er sich seit den siebziger
Jahren.
In Plechanows
Weltanschauung machten sich schon früh deutlich
sichtbare Risse bemerkbar. Er gelangte unvermeidlich
zur Anerkennung der materialistischen
Gesellschaftsauffassung, verharrte jedoch im großen
und ganzen bis 1883 auf dem Standpunkt der
revolutionären Volkstümler. In seinem Aufsatz „Das
ökonomische Entwicklungsgesetz der Gesellschaft"
formulierte er, ohne sich schon damals von seiner
idealistischen Weltanschauung loszusagen, die These,
daß den gesellschaftlichen Lebensbedingungen die
ökonomischen Vei'-hältnisse zugrunde liegen.
Etwas später erklärte
er im „Tschorny Peredel" im Namen der Redaktion:
„Wenn die russische Sozialrevolutionäre Partei bei
der Abfassung ihres praktischen Programms von den
Bedingungen der russischen gesellschaftlichen
Verhältnisse ausgeht, kann sie die Thesen des
wissenschaftlichen Sozialismus nicht außer acht
lassen, die ihr bei der Beurteilung der verschiedenen
Seiten und Formen des Volkslebens als Kriterium
dienen müssen."(1)
Plechanow kam dem
Marxismus immer näher. Zu den Zielen der
Organisation „Tschorny Peredel", erklärte er, gehöre
keinerlei besonderer Bauernsozialismus. „Wir leugnen
die Bedeutung der revolutionären Arbeit in unseren
Industriezentren durchaus nicht Wir können dies schon
deshalb nicht, weil wir nicht vorauszusehen vermögen,
aus welchen Schichten der werktätigen Bevölkerung die
Hauptkräfte der Sozialrevolutionären Armee kommen
werden, wenn die Stunde der ökonomischen Revolution
in Rußland schlägt."(2)
In dieser Erklärung
offenbarte sich Plechanows Abkehr von der
traditionellen Einstellung der Volkstümler und seine
Annäherung an eine andere Auffassung von der Rolle
der Arbeiterklasse in der gesellschaftlichen
Entwicklung Rußlands.
Gemeinsam mit seinen
Freunden aus dem „Tschorny Peredel" — Vera Sassuli
tsch, L. Deutsch, P. Axelrod und W. Ignatow —
vollzieht Plechanow im Jahre 1883 den endgültigen
Bruch mit den Volkstümlern. In der vom 25.-September
1883 datierten Erklärung über die Herausgabe der
„Bibliothek des modernen Sozialismus" war die Rede
von der Bildung der Gruppe „Befreiung der Arbeit" und
von dem endgültigen Bruch mit den alten
„anarchistischen Tendenzen".
Das Verständnis für den
wissenschaftlichen Sozialismus von Marx und Engels
wurde Plechanow erleichtert durch seine Kenntnis der
Lehren der russischen revolutionären Demokraten und
der bedeutenden materialistischen Philosophen Herzen,
Belinski, Tschernyschewski und Dobroljubow. Seine
Weltanschauung formte sich weitgehend unter dem
Einfluß ihrer fortschrittlichen Ideen. Von ihnen
übernahm er die besten revolutionären Traditionen,
erbte er ursprünglich die Ideen des philosophischen
Materialismus.
Seit der Gründung der
Gruppe „Befreiung der Arbeit" konnte man mit Recht
sagen, daß der Ideologie der Volkstümler nicht mehr
einzelne marxistische Ideen, sondern eine
marxistische Theorie gegenüberstand. In
verhältnismäßig kurzer Zeit übersetzte die Gruppe
„Befreiung der Arbeit" unter Plechanows Leitung
zahlreiche Werke von Marx und Engels ins Russische
und veröffentlichte sie, darunter das „Manifest der
Kommunistischen Partei", „Lohnarbeit und Kapital",
„Das Elend der Philosophie" und „Die Entwicklung des
wissenschaftlichen Sozialismus". In den neunziger
Jahren erschienen die Broschüren „Ludwig Feuerbach",
„Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur
Wissenschaft", „Der achtzehnte Brumaire des Louis
Bonaparte" und andere.
Außerdem
veröffentlichte die Gruppe Plechanows zahlreiche von
ihren Mitgliedern verfaßte Broschüren. Die
wichtigsten von ihnen waren Plechanows Arbeiten
„Sozialismus und politischer Kampf", „Unsere
Meinungsverschiedenheiten", „Das Programm der
sozialdemokratischen Gruppe .Befreiung der Arbeif",
„Die politischen Aufgaben der russischen Sozialisten"
und andere.
Von Anfang an hatte der
Marxismus in Rußland erbitterte Kämpfe mit den
Volkstümlern zu bestehen. Nur im Kampf mit den
Volkstümlern konnte der Marxismus in Rußland wachsen
und erstarken. Die Anschauungen der Volkstümler, die
damals unter den fortschrittlichen Arbeitern und den
revolutionär gesinnten Intellektuellen
vorherrschten, bildeten das stärkste geistige
Hindernis für die Verbreitung des Marxismus und die
Entwicklung der sozialdemokratischen Bewegung in
Rußland.
Deshalb war der Kampf
gegen die Volkstümler die Hauptaufgabe der
russischen Marxisten. Er war die unerläßliche
Voraussetzung für die Entwicklung des Marxismus und
für die Schaffung einer sozialdemokratischen
Arbeiterpartei.
Die Gruppe „Befreiung
der Arbeit" wandte sich unter Plechanows Leitung
gegen' die Volkstümler. In seinen Arbeiten
„Sozialismus und politischer Kampf" und „Unsere
Meinungsverschiedenheiten" wies Plechanow nach, daß
Rußland bereits den Weg der kapitalistischen
Entwicklung beschritten hatte und daß die Aufgabe des
Revolutionärs darin bestand, sich auf die
Arbeiterklasse als die durch die Entwicklung des
Kapitalismus hervorgebrachte neue revolutionäre Kraft
zu stützen.
Der subjektivistischen
Gesellschaftstheorie der Volkstümler stellte
Plechanow die marxistische Lehre von der
gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeit und ihrer
Ausnutzung durch die Marxisten gegenüber. Der
Volkstümler, sagte er, pflege
an die Stelle der objektiven geschichtlichen Gesetze
seinen eigenen Willen und Willkür zu setzen. Dem
Verschwörertum der „Narodnaja Wolja", ihrem
Blanquismus liege der Subjektivismus zugrunde. Das
Verschwörertum berücksichtige die Geschichte nicht,
bemühe sich nicht, ihre Gesetze zu verstehen und die
eigene revolutionäre Tätigkeit im Einklang mit ihnen
zu lenken.
Der Marxist baue sein
Programm auf den Gesetzen der Gesellschaft auf. „Für
uns ergibt sich das Wünschenswerte aus dem
Notwendigen und ersetzt dieses auf keinen Fall in
unseren Überlegungen."(3)
Plechanows Arbeiten
„Sozialismus und politischer Kampf" und „Unsere
Meinungsverschiedenheiten" erschütterten die
Volkstümler schwer und bereiteten den Boden für den
Sieg des Marxismus in Rußland vor. Lenin bezeichnete
Plechanows Broschüre „Sozialismus und politischer
Kampf" als erste Darstellung der Anschauungen des
russischen Sozialismus. Plechanow gab in seinen
Arbeiten eine grundsätzlich marxistische Antwort auf
die dringlichsten Fragen der gesellschaftlichen und
geschichtlichen Entwicklung Rußlands und sah sie in
engem Zusammenhang mit den Fragen der marxistischen
Philosophie.
*
Im Kampf mit den
Volkstümlern gab Plechanow eine geschlossene und
systematische Darstellung der marxistischen
Philosophie. Naturgemäß beschäftigte er sich vor
allem mit den Fragen des historischen Materialismus,
insbesondere mit den Fragen der gesellschaftlichen
Gesetzmäßigkeit und der Rolle der Persönlichkeit in
der Geschichte. Dies erforderte der Kampf gegen die
soziologischen und politischen Anschauungen der
Volkstümler.
Bereits in seinen
ersten marxistischen Arbeiten informierte Plechanow
seine Leser in glänzender Form über die dialektische
Methode von Marx und Engels, und dabei — dies ist
besonders zu beachten — bemühte er sich, diese
Methode auf die gesellschaftlichen und politischen
Verhältnisse in Rußland und auf die
Auseinandersetzungen mit den Volkstümlern. über die
zukünftige geschichtliche Entwicklung Rußlands
anzuwenden. In seiner Schrift „Unsere
Meinungsverschiedenheiten" wies Plechanow nach, daß
die Grundlage der Weltanschauung der Volkstümler die
Metaphysik ist. Der Volkstümler hat kein Verständnis
für die dialektischen Widersprüche im
gesellschaftlichen Leben. Er betrachtet alle
Erscheinungen in der Geschichte vom Standpunkt der
formalen Logik aus und läßt die wirkliche Entwicklung
und Veränderung außer acht.
Im
Jahre 1889 gab Plechanow in einer Broschüre, deren
Zweck die Entlarvung des zum Zarismus übergelaufenen
Volkstümlers Tichomirow war, eine überzeugende
Darstellung der marxistischen Dialektik in ihrer
Anwendung auf die dringlichsten Fragen der
revolutionären Bewegung in Rußland. Er wies nach, daß
nicht nur in der Natur, sondern auch in der
Gesellschaft Sprünge unvermeidlich sind und daß die
Revolution ein unbestreitbares Gesetz der
Gesellschaft ist.
In dem Aufsatz „Zum
sechzigsten Todestage Hegels" (1891) und in dem
Vorwort zu Engels' Schrift „Ludwig Feuerbach" (1892)
schilderte Plechanow die dialektische Methode in
ihrem Gegensatz zur Metaphysik und unterstrich
dabei die revolutionäre Bedeutung der
Dialektik. In Anlehnung an Herzen betonte er immer
wieder, daß die Dialektik die Algebra der Revolution
sei. Er entwickelte die Kritik des Evolutionismus und
seiner Widerspiegelung auf politischem Gebiet, der
Allmählichkeits-Theorie.
Da Plechanow sich über
die Notwendigkeit einer „philosophischen Abgrenzung"
von den Gegnern des Marxismus klar war, schrieb er
eine größere philosophische Arbeit „Zur Frage der
Entwicklung der monistischen Geschichtsauffassung"
(1895). Dieses Buch dachte er sich als zweiten Teil
seiner Schrift „Unsere Meinungsverschiedenheiten". Es
erschien unter dem Namen N. Beltow und war das erste
legale Werk, in dem in glänzender polemischer Form
eine in sich geschlossene Darstellung des
marxistischen Materialismus gegeben wurde. Dort gab
er die Antwort auf den Feldzug der Volkstümler gegen
den Marxismus und seine Philosophie. Lenin sagte
einmal, daß sich eine ganze Generation russischer
Marxisten an diesem Buch geschult hat.
Diese Arbeit Plechanows
wurde von Engels positiv beurteilt, der besonders
hervorhob, daß sie gerade zur rechten Zeit erschienen
sei. Hier wurden die Verleumdungen Michailowskis,
Kriwenkos und anderer Volkstümler über den Marxismus
widerlegt, die gegen die Lehre von Marx den Vorwurf
erhoben, daß ihre Ausgangsthesen und ihre Prinzipien
falsch seien.
Die Bedeutung dieses
Werkes von Plechanow bestand nicht nur in der
systematischen Darstellung der wichtigsten Thesen
des dialektischen und historischen Materialismus,
sondern auch in der Konkretisierung und Ausarbeitung
einer Reihe philosophischer Ideen. Der Darstellung
des Inhalts des modernen Materialismus ging eine
Darstellung der theoretischen Quellen des Marxismus
voraus. Plechanow betrachtete den modernen
Materialismus von Marx und Engels als das Ergebnis
der vorausgegangenen fortschrittlichen Entwicklung
der Philosophie und Soziologie. In der Philosophie
des Marxismus sah Plechanow die größte bisherige
Umwälzung im menschlichen Denken. Die Entstehung des
Marxismus war das notwendige, gesetzmäßige Ergebnis
der weltgeschichtlichen Entwicklung. Mit Recht
stellte Plechanow fest, daß der neue Materialismus
nicht einfach eine Wiederholung der Lehren der
französischen Materialisten am Ende des 18.
Jahrhunderts sei. Er wurde bereichert durch die
fortschrittlichen Errungenschaften der
vorhergegangenen Philosophie.
Bei der Darstellung des
Inhalts der marxistischen Philosophie ging Plechanow
vorzugsweise auf die materialistische
Geschichtsauffassung ein.
Im Rahmen der
Darstellung und Begründung der wichtigsten -Thesen
der materialistischen Geschichtsauffassung übte
Plechanow Kritik an der subjekti-vistischen
Soziologie der Volkstümler und entlarvte den
reaktionären Utopis-mus in ihrer Politik und die
Metaphysik in ihrer Theorie. Mit Recht erklärte er,
daß die subjektiv-idealistische Geschichtsauffassung,
die die objektive geschichtliche Gesetzmäßigkeit
ignoriert und die Willensfreiheit der Persönlichkeit
anerkennt, im Grunde zum Fatalismus führt.
Plechanow stellte fest,
daß dem Programm der Volkstümler und dem Programm
der russischen Marxisten zwei einander ausschließende
Weltanschauungen — der Idealismus und der
Materialismus — zugrunde lagen. Der Idealismus der
Volkstümler hängt mit ihrem politischen
Subjektivismus zusammen; der Materialismus
der russischen Marxisten führt zum richtigen
Verständnis der gesellschaftlichen und
geschichtlichen Gesetzmäßigkeiten und zur Schaffung
der einzig möglichen revolutionären Taktik.
Obwohl das Buch „Zur
Frage der Entwicklung der monistischen
Geschichtsauffassung" Plechanows bestes
philosophisches Werk und am konsequentesten im
Geiste der Philosophie des Marxismus geschrieben ist,
enthielt es doch einige Mängel und Fehler, die in
Plechanows späteren Arbeiten weiterentwickelt
wurden. So überschätzte Plechanow zum Beispiel die
Rolle des geographischen Milieus in der Entwicklung
der Gesellschaft und ignorierte die marxistische
Lehre vom Staat.
In den neunziger Jahren
beschäftigte Plechanow sich auch mit' einigen Fragen
der marxistischen Philosophiegeschichte. Im Jahre
1896 veröffentlichte er in deutscher Sprache die
Arbeit „Beiträge zur Geschichte des Materialismus".
Darin untersuchte Plechanow die Geschichtsauffassung
der französischen Materialisten und der Historiker
der Restaurationszeit und schaffte dadurch Klarheit
über die Genesis der Marxschen Gesellschaftstheorie.
In dem Kapitel „Marx" gab er eine glänzende
Darstellung des historischen Materialismus und
gelangte zu dem Schluß, daß die Theorie von Marx für
das Proletariat ein zuverlässiger Wegweiser im Kampf
für seine Befreiung ist. „Diese Theorie, die die
Bourgeoisie durch den ihr angeblich anhaftenden
Fatalismus erschreckt, erfüllt das Proletariat mit
beispielloser Energie."(4)
Die „Beiträge zur
Geschichte des Materialismus" waren jedoch nicht frei
von Fehlern. So schrieb Plechanow zum Beispiel den
französischen Materialisten fälschlich Elemente des
Agnostizismus zu und überschätzte die
Gesellschaftstheorien der Historiker der
Restaurationszeit.
Plechanows Behandlung
von Fragen der marxistischen Philosophiegeschichte
stellte zweifellos einen bedeutenden Beitrag zur
marxistischen Theorie dar. Plechanow geht von den
grundlegenden Ideen vion Marx und Engels aus und
behandelt zum ersten Mal in der marxistischen
Literatur eine Reihe sehr wichtiger Probleme der
Philosophiegeschichte. Hierher gehören: 1. die
Bestimmung des Gegenstandes der Philosophiegeschichte
als Geschichte der Entstehung und Entwicklung einer
wissenschaftlichen, materialistischen Weltanschauung
im Kampf mit dem Idealismus; 2. die Bearbeitung der
Frage der Klassenbed'ngt-heit der philosophischen
Lehren und im Zusammenhang damit die Kritik der
Methodologie der bürgerlichen Philosophiehistoriker;
3. die Bearbeitung der Frage der historischen
Kontinuität in der Entwicklung der philosophischen
Lehren; 4. die Behandlung einiger Fragen der
Periodisierung der Philosophiegeschichte, speziell
der Geschichte der russischen Philosophie, und 5. die
Analyse einzelner philosophischer Lehren (der
französische Materialismus des 18. Jahrhunderts,
einige Fragen der Hegeischen Philosophie, der
Materialismus Ludwig Feuerbachs, die philosophischen
Anschauungen der russischen revolutionären
Demokraten usw.).
Schließlich ist zu
bemerken, daß es Plechanows geschichtliches Verdienst
ist, eine Reihe von Fragen im Zusammenhang mit der
Bearbeitung der Geschichte der marxistischen
Philosophie behandelt zu haben. Hier sind zu nennen:
1. die Frage der von Marx und Engels in der
Philosophie herbeigeführten Revolution; 2. die
Untersuchung der theoretischen Quellen der
Philosophie von Marx und
Engels und 3. die Frage des Verhältnisses der
marxistischen Philosophie zur vorhergehenden
Philosophie.
Plechanows literarische
Hinterlassenschaft auf diesem Gebiet ist bisher noch
nicht analysiert worden.
*
Wir haben festgestellt,
daß Plechanow sich durch die Auseinandersetzungen mit
der bürgerlichen Soziologie vor allem gezwungen sah,
die Fragen der materialistischen
Geschichtsauffassung zu begründen und einige von
ihnen zu bearbeiten. Dabei entwickelt Plechanow eine
neuartige Argumentation, betont er neue Seiten des
Problems, die in der marxistischen Literatur noch
nicht behandelt wurden, konkretisierte er einige
wichtige Fragen der Theorie und entwickelte sie
selbständig weiter. Er forderte eine schöpferische
Methode bei der Analyse von gesellschaftlichen
Tatsachen.
Bei der Darstellung des
wissenschaftlichen Gehalts der marxistischen
Philosophie unterstrich Plechanow ihren Zusammenhang
mit der praktischen Tätigkeit des Proletariats,
ihren aktiven Charakter. Die marxistische Philosophie
nannte er „Philosophie der Tat".
Der Verteidigung und
Begründung des historischen Materialismus widmete
Plechanow eine Reihe glänzender Aufsätze, in denen er
die idealistischen und die vulgärmaterialistischen
Geschichtsauffassungen kritisierte. In dem Aufsatz
„Über die materialistische Geschichtsauffassung"
(1897) verteidigte Plechanow den historischen
Materialismus gegen die Angriffe der Gegner des
Marxismus, die die Lehre von Marx eines
vulgärökonomischen Materialismus beschuldigten und
ihr gegenüber die abgeschmackte „Theorie der
Faktoren" entwickelten.
In seinen Schriften zum
historischen Materialismus begründete er allseitig
den monistischen Charakter der Geschichtsauffassung
von Marx und Engels. Die Wechselwirkung von Faktoren,
bemerkte Plechanow richtig, erklärt an sich noch
nichts, und wer sich auf sie beruft will einer
Antwort ausweichen. Notwendig ist eine Analyse.
Diese Analyse führte Marx zu der Feststellung der von
der gesamten Praxis des Lebens bestätigten
unbestreitbaren Wahrheit, daß die Grundlagen der
gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen die
Produktivkräfte bilden, deren Entwicklung eine
Umwälzung in den Wechselbeziehungen der Produzenten
und damit in der ganzen Gesellschaftsstruktur
hervorruft.
In einer Reihe von
Aufsätzen zur Verteidigung des historischen
Materialismus unterzog Plechanow den „ökonomischen
Materialismus" einer gründlichen Kritik und wies
nach, daß diese beiden Formen des Materialismus in
absolutem Gegensatz zueinander stehen. Sehr richtig
bemerkte er, daß der „ökonomische Materialismus" nur
eine Spielart des historischen Idealismus ist.
In seiner Kritik des
„ökonomischen Materialismus" betonte Plechanow in
seinen Schlußfolgerungen, daß die Anhänger dieser
Richtung in der Geschichtswissenschaft die Rolle der
Volksmassen in der Geschichte ignorieren, die aktive
Rolle des Menschen in der Entwicklung der
Produktivkräfte und in der Veränderung der
gesellschaftlichen Verhältnisse nicht erklären können
und bei der Erklärung der Ursachen des historischen
Prozesses in Idealismus verfallen. Bei der
Widerlegung des „ökonomischen Materialismus" und des
Idealismus erläuterte Plechanow eingehend und
allseitig die relative Selbständigkeit in der
Entwicklung der Ideologie, die unüberwindliche Kraft
der fort
schrittlichen Ideen in der Entwicklung der Geschichte
und die aktive Rückwirkung der Ideen auf die Basis
der Gesellschaft. Wenn die fortschrittliche Ideologie
einer Klasse, stellte er fest, mit ihren realen
ökonomischen Interessen zusammenfällt, wird sie zu
einer unüberwindlichen Kraft, falls in ihr der
tatsächliche Verlauf der Geschichte erfaßt und zum
Ausdruck gebracht wird. Über die Theorie von Marx
sagte Plechanow, daß sie ein zuverlässiger. Wegweiser
für das Proletariat ist, und es mit beispielloser
Energie erfüllt.
Aber während
Plechanow in seinen Arbeiten den Grundgedanken der
Marxschen Geschichtsauffassung propagierte, wich er
bei der Lösung der Frage nach den Ursachen der
Entwicklung der Produktivkräfte von der Marxschen
Auffassung ab. Im Zusammenhang mit der Überschätzung
der Bedeutung des geographischen Milieus für die
Entwicklung der Gesellschaft begegnen wir in seinen
Arbeiten einigen widerspruchsvollen Urteilen zu
dieser Frage. Einerseits sprach er mit Recht von der
inneren Logik der Entwicklung der Produktivkräfte,
anderseits stellte er manchmal — zum Beispiel in
seiner Arbeit „Grundfragen des Marxismus" (1908) —
die These auf, daß die Entwicklung der
Produktivkräfte durch die Besonderheiten des
geographischen Milieus bestimmt werde.
In seinem Aufsatz
„Über die materialistische Geschichtsauffassung"
stellte Plechanow eine unrichtige These über die Entstehung
und das Wesen des Staates auf. Im Hinblick auf eine Äußerung Labriolas,
nach der der Staat die Organisation der Herrschaft einer gesellschaftlichen
Klasse über die anderen Klassen ist, behauptete er, sie bringe nicht die
volle Wahrheit zum Ausdruck. Auch in Griechenland ist nach Plechanow die
Entstehung des Staates weitgehend auf die
Notwendigkeit der gesellschaftlichen Arbeitsteilung
zurückzuführen.
Deshalb ging er
auch nicht auf eine Analyse des marxistischen
Staatsbegriffs ein, wonach der Staat die
Zwangsorganisation der Herrschaft einer Klasse über
die anderen Klassen, eine Organisation zur
Unterdrückung der ausgebeuteten Klassen ist. Einer
Untersuchung dieser Hauptfunktion des Staates der
antagonistischen Gesellschaft ging Plechanow aus dem
Wege. Es braucht kaum gesagt zu werden, daß dadurch
seine Propagierung der marxistischen Lehre vom
Klassenkampf entwertet werden mußte.
In seinen Aufsätzen
über die materialistische Geschichtsauffassung, in
denen er gleichzeitig die verschiedenen Formen des
historischen Idealismus^ kritisier te, beschäftigte
sich Plechanow konkret mit einzelnen Problemen des
historischen Materialismus. Besonders wichtig ist
seine Behandlung der Frage der Rolle der
Persönlichkeit in der Geschichte. Sein Aufsatz „Zur
Frage der Rolle der Persönlichkeit in der
Geschichte" war die beste Darstellung dieses Problems
in der damaligen marxistischen Literatur.
Plechanow bemühte
sich, dieses Problem allseitig zu lösen. Er
untersucht folgende Aspekte der Frage: 1.
Persönlichkeit und Notwendigkeit; 2. die
Persönlichkeit und die objektive Gesetzmäßigkeit des
historischen Prozesses; 3. Persönlichkeit und
historische Zufälligkeit; 4. die Persönlichkeit und
die Entwicklung der Produktivkräfte und der
gesellschaftlichen Beziehungen«; 5. die aktive Rolle
der Persönlichkeit in der Entwicklung des
geschichtlichen Geschehens.
Um die marxistische
Lösung der Frage der Rolle der Persönlichkeit in der
Geschichte zu begründen, führt Plechanow eine Reihe
interessanter theoretischer Überlegungen und
konkreter Tatsachen an und widerlegte mit glänzendem
Scharfsinn die Anschauungen der Neukantianer Simmel,
Stammler und anderer. Er erläutert die marxistische
These über das Verhältnis von Freiheit und
Notwendigkeit und betonte, daß das freie Handeln der
Persönlichkeit der bewußte und freie Ausdruck der
Notwendigkeit ist. Das Bewußtsein der Notwendigkeit
macht die Persönlichkeit zu einer großen
gesellschaftlichen Kraft. Wie -einflußreich eine
Persönlichkeit auch sein mag, die allgemeine
Richtung der geschichtlichen Entwicklung kann sie
nicht verändern. Auf Grund ihrer besonderen geistigen
und charakterlichen Fähigkeiten kann sie nur die
individuelle Physiognomie der Ereignisse und einige
ihrer speziellen Folgen verändern. Plechanow
entschleierte den bürgerlichen Personenkult. Sehr
richtig bemerkte er: „Jedes Talent, das eine
gesellschaftliche
Kraft geworden ist,
ist eine Frucht der gesellschaftlichen
Verhältnisse."(6)
Plechanow
analysierte die Rolle der großen Persönlichkeit als
eines Initiators, der anderen an Weitblick und
Willenskraft überlegen ist und deshalb zur Lösung der
großen geschichtlichen Aufgaben beiträgt, die sich
aus dem gesetzmäßigen Verlauf der geschichtlichen
Entwicklung ergeben.
Plechanows Werke,
die die Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte
analysieren, waren von größter theoretischer und
politischer Bedeutung. Sie entschleierten den
bürgerlichen Personenkult, erklärten die Geschichte
richtig als Geschichte der Volksmassen und bestimmten
die tatsächliche Stellung und Bedeutung der großen
Persönlichkeit im geschichtlichen Prozeß. Plechanow
bereicherte die marxistische Argumentation
hinsichtlich der Rolle der Persönlichkeit in der
Geschichte durch die Konkretisierung einzelner Seiten
des Problems.
*
Ein großes
Verdienst Plechanows in den neunziger Jahren ist sein
Auftreten gegen den philosophischen Revisionismus in
der deutschen Sozialdemokratie. Seine Arbeiten zur
Verteidigung der Philosophie des Marxismus, speziell
der materialistischen Geschichtsauffassung, spielten
eine bedeutende Rolle bei der Entlarvung der
antimarxistischen Anschauungen von Bernstein, Conrad
Schnvdt und anderen.
Zur Verteidigung
der Philosophie des Marxismus gegen den Angriff der
deutschen Revisionisten schrieb Plechanow eine Reihe
von Artikeln, die in der deutschen und russischen
Presse erschienen. Besonders wichtig unter ihnen sind
„Bernstein und der Materialismus", „Conrad Schmidt
gegen Karl Marx und Friedrich Engels", „Materialismus
oder Kapitalismus" und „Noch einmal der
Materialismus".
Gleichzeitig setzte
sich Plechanow mit einer Reihe öffentlicher
Vorlesungen in Genf und Zürich für die Philosophie
des Marxismus ein.
Im Kampf gegen die
Revisionisten verteidigte er den philosophischen
Materialismus und übte Kritik am Neukantianismus,
der zum Banner des Kampfes der Bourgeoisie gegen den
Marxismus geworden war. Plechanow wies die
Un-haltbarkeit der eklektischen Anschauungen der
Neukantianer nach und betonte ihnen gegenüber den
monistischen Charakter der Anschauungen des
Marxismus. Er wies darauf hin, daß die Versuche
Conrad Schmidts, die Kritik von
Marx und Engels am Kantianismus zu
diskreditieren, völlig hilflos sind. Die logische
Kritik an der Philosophie Kants und seiner neuesten
Anhänger ergänzte er durch den Hinweis auf ihre
Klassenwurzeln. „Die Abneigung der Bourgeoisie gegen
den Materialismus und ihre Vorliebe für die
Philosophie Kants", bemerkte Plechanow, „erklärt sich
sehr gut durch den gegenwärtigen Zustand der
Gesellschaft Die Bourgeoisie sieht in der Lehre Kants
eine wirksame .geistige Waffe' im Kampf gegen die
radikalen Bestrebungen der Arbeiterklasse. Deshalb
ist auch der Kantianismus unter den gebildeten
Bourgeois Mode geworden."(6)
Während Plechanow
die Metaphysik und Sophistik der Revisionisten
enthüllte, popularisierte er die wichtigsten Thesen
der materialistischen Dialektik und betonte dabei
ihren revolutionären theoretischen Gehalt. Sehr
richtig stellte er fest, daß Bernstein auf die
Dialektik verzichtete, weil er die Bourgeoisie nicht
mit den „Greueln der gewaltsamen Revolution"
erschrecken wollte.
Zu der Zeit als
Plechanow dep philosophischen Materialismus
verteidigte, wies er die Angriffe der Revisionisten
gegen den historischen Materialismus zurück und
betonte dabei, daß die materialistische
Geschichtsauffassung die einzig wissenschaftliche
Erklärung der Geschichte ist. Er wies'die
Unhaltbar-keit der idealistischen
Geschichtsauffassung nach und stellte fest, daß der
historische Materialismus die geschichtliche
Unvermeidlichkeit und gesetzmäßige Ablösung der
kapitalistischen Produktionsweise durch den
Sozialismus begründet.
Plechanows
Auftreten gegen den philosophischen Revisionismus in
der deutschen Sozialdemokratie war von großer
Bedeutung bei der Verteidigung der marxistischen
Philosophie gegen die Angriffe der Revisionisten.
Plechanow verteidigte die Einheit und Geschlossenheit
der marxistischen Weltanschauung. Lenin äußerte sich
positiv über Plechanows Artikel gegen Bernstein und
Conrad Schmidt. In dem für die „Arbeiterzeitung"
(1399) bestimmten Aufsatz „Unser Programm" betonte
er, daß Plechanow völlig im Recht war, als er
Bernstein so scharf kritisierte.
Plechanows Kritik
enthielt jedoch Abweichungen vom marxistischen
Materialismus und gelegentlich bedenkliche Fehler
und Konzessionen an die Gegner des Marxismus. Er
kritisierte die philosophischen Revisionisten sehr
oft nicht vom Standpunkt des dialektischen
Materialismus, sondern vom Standpunkt des
vormarxistischen Materialismus aus und berief sich,
um die Thesen des modernen Materialismus zu beweisen,
auf die Anschauungen der Materialisten des 17. und
18. Jahrhunderts. Seine Kritik des philosophischen
Revisionismus beruhte manchmal auf einer
Verwechslung des metaphysischen und des dialektischen
Materialismus. In einzelnen Fragen machte er
Konzessionen an den Agnostizismus. So verteidigte er
zum Beispiel die Hieroglyphentheorie, die er dann in
der Polemik gegen die Revisionisten in dem Aufsatz
„Noch einmal der Materialismus" (1899)
weiterentwickelte.
Trotz der genannten
Mängel seiner Kritik war Plechanows Auftreten gegen
den kantianischen Idealismus von großer theoretischer
und politischer Bedeutung. In seinem offenen Brief
an Kautsky — „Wofür haben wir ihm zu danken?" —
verteidigte Plechanow den wissenschaftlichen
Sozialismus von Marx und
erklärte, es gehe jetzt darum, „wer wen begraben
soll, die Sozialdemokratie Bernstein oder Bernstein
die Sozialdemokratie".(7)
Plechanows Kritik
des Revisionismus spielte eine große Rolle in dem
Kampf der revolutionären Sozialdemokraten gegen den
Opportunismus in der II. Internationale^ Lenin sagte
einmal: „Wir wollen ... hervorheben, daß der einzige
Marxist in der internationalen Sozialdemokratie, der
an den unglaublichen Plattheiten, die die
Revisionisten zusammenredeten, vom Standpunkt des
konsequenten, dialektischen Materialismus aus Kritik
übte, Plechanow war."(8)
Zu Beginn der
neunziger Jahre bildete sich in Rußland gegen die
revolutionäre Sozialdemokratie eine Einheitsfront
der „Ökonomisten" und der „legalen Marxisten", die
die Bernsteinsche Plattform verteidigten. „Der Kampf
gegen Bernstein in Rußland", schrieb Plechanow am 21.
April 1899 an Axelrod, „Ist die dringlichste Aufgabe
des Augenblicks. Wir müssen dem Einfluß unserer
Kathedermarxisten den Einfluß der revolutionären
Marxisten entgegenstellen."(9)
Deshalb
beschäftigte sich Plechanow bei der Begründung der
materialistischen Geschichtsauffassung sehr
eingehend mit den Fragen der marxistischen Theorie
des Klassenkampfes. In dem „Vorwort zur zweiten
russischen Ausgabe des .Manifestes.der
Kommunistischen Partei'" (1900) und in seinen
Artikeln gegen Struve behandelte er fast alle
wesentlichen Probleme der Marxschen Lehre. Er machte
den Versuch, den Inhalt der Anschauungen seiner
Vorgänger zu erforschen. Zu diesem Zweck
charakterisierte und beurteilte er die Anschauungen
Saint-Simons und der Historiker der Restaurationszeit
Thierry, Mignet und Guizot. Aber in seiner
Beurteilung der Anschauungen der Vorgänger von Marx
und Engels brachte er diese manchmal in unkritischer
Weise in Verbindung mit der marxistischen Lehre vom
Klassenkampf, ohne ihre qualitative Verschiedenheit
zu betonen.
Diese Darstellung
hatte unvermeidlich zur Folge, daß die neuen
Gesichtspunkte, die Marx und Engels in die Theorie
des Klassenkampfes hineingetragen hatten, verwässert
wurden. In diesem Zusammenhang schaffte Plechanow
nicht genügend Klarheit über die sehr wichtige
marxistische These von der Diktatur des Proletariats.
Bei der Behandlung
der marxistischen Thesen über den Klassenkampf
betonte er jedoch, daß der Klassenkampf überall der
Teilung der Gesellschaft in Klassen entspringt und
daß der Klassenkampf des Proletariats dieses zur
Diktatur führt. Die Art ihrer Verwirklichung hängt
nach Plechanows Ansicht von zahlreichen Umständen ab.
„Gerade weil die Sozialdemokratie nicht alle die
Umstände vorauszusehen vermag, unter denen die
Arbeiterklasse ihre
Herrschaft
wird aufrichten müssen, kann sie prinzipiell
nicht auf ein gewaltsames Handeln verzichten. Sie muß
immer an die alte, bewährte Regel denken: Wenn du den
Frieden willst, rüste dich zum Kriege."(10)
Die Fragen des
Klassenkampfes und der sozialen Revolution des
Proletariats spielten bei Plechanow eine große Rolle
in seinen Artikeln gegen Struve. Darin deckte er die
Gründe auf, die Struve zur Revision der marxistischen
Theorie der Revolution veranlaßten, und wies nach,
daß Struve an die Stelle
des Widerspruchs zwischen den Produktivkräften
und den Produktionsverhältnissen die These vom
Widerspruch zwischen den Eigentumsverhältnissen der
jeweiligen Gesellschaft und ihrem Rechtswesen setzte.
Plechanow gelangte zu dem Schluß, daß in Struves
Anschauungen der Standpunkt der bürgerlichen Schule
Brentanos die Oberhand gewonnen hatte. Die
revisionistische Fragestellung in bezug auf
Rechtswesen und Wirtschaft verwirrt und verdunkelt
das Problem des Widerspruchs zwischen den
Produktivkräften und der ökonomischen Struktur im
höchsten Grade, indem sie an die Stelle dieses
Grundwiderspruchs einen zweitrangigen Widerspruch
setzt und den Gedanken der Ab-schwächung der
Widersprüche in der modernen Gesellschaft ins Spiel
bringt.
Mit Recht wies Plechanow darauf hin, daß Struve nicht
der erste und nicht der letzte Verkünder der Theorie
von der „Abschwächung" der Widersprüche zwischen
Proletariat und Bourgeoisie ist, daß diese Theorie,
die sich als „kritischen" Sozialismus ausgibt, weit
verbreitet ist und daß die „Abschwächung" der
Widersprüche zwischen den Kapitalisten und den
Arbeitern in der bürgerlichen Wirtschaftsliteratur
zu den beliebtesten Themen gehört.
Plechanow widerlegte die Ansichten der bürgerlichen
Wirtschaftstheoretiker Goschen und
Schultze-Gävernitz, die Anhänger der Schule Bastiats
waren, und gelangte durch eine Analyse des
Zahlenmaterials zu dem Schluß, daß die
gesellschaftlichen Widersprüche, von ihrer
ökonomischen Seite betrachtet, immer mehr anwachsen,
daß die Ungleichheit in der Verteilung des
Nationaleinkommens immer größer wird und die
Ausbeutung der Arbeiter durch die Kapitalisten sich
ständig verschärft. Die Verschlechterung der Lage der
Arbeiter nimmt nach Plechanows Ansicht zeitweise und
stellenweise absoluten Charakter an. Die heutige
Wirklichkeit bestätigt das von Marx entdeckte
allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation
und die Verschärfung der Klassenwidersprüche.
Plechanow wies im einzelnen nach, daß alle modernen
bürgerlichen Ideologen, von Werner Sombart bis
Struve und dem Revisionisten Bernstein, die Marxsche
Lehre von der Revolution und ihre
dialektisch-materialistische Grundlage zu widerlegen
suchen, indem sie ihr verschiedene Formen des
sogenannten neukantianischen „ethischen Sozialismus"
gegenüberstellen.
Plechanows Kritik des „ethischen Sozialismus" gehört
zu den besten Seiten seiner Polemik gegen Bernstein,
Struve und andere Gegner des Marxismus. Er stellte
fest, daß der Kampf gegen den wissenschaftlichen
Charakter des Sozialismus zu den wichtigsten Punkten
ihres Angriffs gegen die Marxsche Lehre gehört. Den
Sozialismus von der Wissenschaft abtrennen und aus
ihm ein ..ethisches Ideal" machen, das vom realen
Leben, vom Kampf des Proletariats für die Revolution
und für die Eroberung der politischen Macht losgelöst
ist — das ist die Aufgabe der bürgerlichen „Kritik"
am Marxismus. Die „Ethisierung" des Sozialismus
bedeutete vor allem Kampf gegen die Marxsche Theorie
der Revolution und der Diktatur des Proletariats.
Durch das süßliche Gerede vom friedlichen Streben
nach dem sozialistischen Ideal wollten die
Revisionisten den wissenschaftlichen Sozialismus von
Marx ersetzen.
Durch seine scharfe und fundierte Kritik an den
Anschauungen Struves und seiner bürgerlichen
Lehrmeister in den Fragen der materialistischen
Geschichtsauffassung und des wissenschaftlichen
Kommunismus gelangte Plechanow zu dem richtigen
Schluß, daß die „Kritiker" die Theorie von Marx ihres
revolutionären Gehalts beraubten.
Plechanows Artikel gegen Struve und andere
bürgerliche „Kritiker" waren nicht frei von den für
seine Ansichten überhaupt charakteristischen Mängeln.
Er war in seinen Gedankengängen oft abstrakt und
akademisch. In seiner Kritik an Struve ging er nicht
auf die konkreten geschichtlichen Bedingungen der
gesellschaftlichen Entwicklung und auf den Kampf mit
dem Opportunismus in Rußland ein. Vor allem aber
kamen Plechanows Artikel gegen Struve zu spät.
Im Kampf mit den Gegnern des Marxismus betonte
Plechanow immer wieder, daß die materialistische
Geschichtsauffassung zu den größten Errungenschaften
des theoretischen Denkens des 19. Jahrhunderts
gehört. Die materialistische Erklärung der
Geschichte ist die einzig wissenschaftliche Deutung
des Geschichtsverlaufs. Durch sie ist die Geschichte
der Menschheit zum Gegenstand einer exakten
Wissenschaft und der Sozialismus zum
wissenschaftlichen Sozialismus geworden.
Rücksichtslos kritisierte Plechanow alle Versuche der
bürgerlichen Ideologen und der Revisionisten,- den
historischen Materialismus zu einem ökonomischen
Vulgärmaterialismus zu machen und mit dem Idealismus
in Verbindung zu bringen.
*
Im Jahre 1908 schrieb Plechanow sein Buch
„Grundfragen des Marxismus", in dem er die
wichtigsten Fragen der marxistischen Philosophie
darlegte. Dieses Werk fällt in die Zeit, in der
Plechanow sich vorbehaltlos zum Mensche-wismus
bekannte, und dies mußte sich natürlich in einem
gewissen Grade auf den Inhalt seines Buches
auswirken. Viele Fehler und Mängel seiner früheren
Arbeiten finden sich hier in verstärkter Form wieder.
Aber auch in dieser Arbeit ist er im ganzen der
Philosophie des dialektischen Materialismus treu
geblieben. In seiner allgemeinen Definition des
Marxismus betonte Plechanow mit Recht, das der
Marxismus der moderne Materialismus ist und die
gegenwärtig höchste Stufe in der Entwicklung des
Materialismus darstellt. Er vertrat jedoch die
Ansicht, daß nur der historische Materialismus und
die politische Ökonomie „in ihren Grundzügen fast
ausschließlich das Werk von Marx und Engels sind".(11)
Was die philosophische Seite des Marxismus betrifft,
so nahm Plechanow hier, wie in seinen früheren
Werken, einen falschen Standpunkt ein. Für ihn
bestand kein Zweifel daran, daß Feuerbach nicht nur
der Vorgänger der philosophischen Anschauungen von
Marx gewesen ist, sondern auch ihre Grundlage
geschaffen hat. Der wichtigste Teil der Philosophie
Feuerbachs ist seiner Ansicht nach für immer in die
Philosophie von Marx und Engels eingegangen. „Selbst
in seiner Kritik an Feuerbach", meint
Plechanow, „entwik-kelt und ergänzt Marx in seinen
Thesen oft genug dessen Gedanken."(12)
Die Untersuchung der wichtigsten Thesen der
Feuerbachschen Philosophie führte ihn zu der
Uberzeugung, daß die Marxsche Erkenntnistheorie nicht
nur direkt von der Feuerbachschen Erkenntnistheorie
abstammt, sondern eigentlich mit dieser identisch
ist.
In seinem geschichtlichen Exkurs neigte Plechanow
dazu, den vormarxistischen Materialismus mit dem
dialektischen Materialismus gleichzusetzen. Unter
Hinweis darauf, daß der Materialismus in allen seinen
Formen gemein same
Voraussetzungen für die Lösung der Grundfrage der
Philosophie aufweist, entdeckte Plechanow völlig
unberechtigt eine Verwandtschaft des alten
Materialismus mit dem marxistischen Materialismus
und identifizierte diese beiden Formen des
Materialismus manchmal sogar, indem er die
geschichtliche Kontinuität zwischen ihnen überbetont.
Seiner Ansicht nach war es grundfalsch, die
Weltanschauung von Marx und Engels als verschieden
von den Anschauungen Feuerbachs zu betrachten. Da er
den wesentlichen Unterschied zwischen dem
Materialismus von Marx und Engels und dem
Materialismus Feuerbachs nicht erkannte, suchte er in
unberechtigter Weise eine Verbindung zwischen den
Anschauungen mancher Naturforscher und den
philosophischen Anschauungen der Begründer des
Marxismus herzustellen.
Die Untersuchung der Frage des Verhältnisses zwischen
dem Marxismus und der vorhergehenden Entwicklung des
Materialismus ist der schwächste Punkt in Plechanows
Buch „Grundfragen des Marxismus".
Plechanows Charakteristik der Dialektik von
Marx und Engels war im allgemeinen richtig; er
erkannte ihre wesentliche Verschiedenheit von der
idealistischen Dialektik Hegels. Aber die Dialektik
stand bei ihm nicht in innerem Zusammenhang mit der
Erkenntnistheorie. Dies hat Lenin zu der Bemerkung
veranlaßt: „Die Dialektik ist eben die
Erkenntnistheorie (Hegels und) des Marxismus: gerade
diese .Seite' der Sache (es ist nicht eine .Seite',
sondern das Wesen der Sache) ließ Plechanow
unbeachtet, von anderen Marxisten ganz zu schweigen."(13)
Die Dialektik
reduzierte sich bei Plechanow auf die Gesamtheit der
Forschungsmethoden ohne Zusammenhang mit dem
dialektischen Erkenntnis-t prozeß. Ganz allgemein
bemühte er sich allerdings gelegentlich, hier den
notwendigen Zusammenhang zu finden. So bemerkte er
zum Beispiel in seinem Vorwort zu Engels' Buch
„Ludwig Feuerbach": „Ohne die Dialektik ist die
materialistische Erkenntnistheorie unvollständig,
einseitig, ja sogar unmöglich." Diese These
entwickelte er jedoch nicht weiter. In den
„Grundfragen des Marxismus" betonte er dagegen die
weitgehende Identität der philosophischen
Anschauungen von Feuerbach und Marx. Die
wesentlichsten Mängel seiner Analyse des
dialektischen Materialismus sind also: 1. die
Betrachtung der Dialektik ohne Zusammenhang mit der
Erkenntnistheorie; 2. die Außerachtlassung des
wissenschaftlichen Charakters der Dialektik; 3. die
Vermengung des dialektischen Materialismus mit dem
vormarxistischen Materialismus bei der Lösung mancher
Probleme; 4. gewisse Konzessionen an den
Agnostizismus.
In den „Grundfragen des
Marxismus" finden sich auch bedenkliche Fehler und
Abweichungen von der materialistischen
Geschichtsauffassung. Plechanows falsche Auffassung
von der Bedeutung des geographischen Milieus für die
Entwicklung der Produktivkräfte erreichte hier ihren
Höhepunkt.
Ein beträchtlicher Teil
der „Grundfragen des Marxismus" ist der Untersuchung
und Begründung von Problemen des historischen
Materialismus gewidmet. Bei der Darstellung des
Inhalts der materialistischen Geschichtsauffassung
bemühte sich Plechanow, einzelne Fragen zu
konkretisieren. So bemerkte er zum Beispiel im
Zusammenhang mit der Marxschen These von den Typen
der sozialökonomischen Formationen richtig, daß die
asiatische und die antike Produktionsweise zwei
nebeneinander existierende Typen der ökonomischen
Entwicklung darstellen, die die Gentilgesellschaft
abgelöst haben. Bei der Kennzeichnung der
Wechselwirkung zwischen Produktivkräften und
Produktionsverhältnissen wies er auf die aktive
Rolle der Produktionsverhältnisse hin und übte Kritik
am „ökonomischen Materialismus".
In seinem bekannten
Schema der gesellschaftlichen Entwicklung, das im
ganzen sehr anfechtbar ist, machte er nicht ohne
Grund einen Versuch, die Frage der Wechselbeziehung
zwischen der Mentalität des gesellschaftlichen
Menschen und der Ideologie in der Gesellschaft zu
klären. Die Fragestellung selbst ist richtig.
Plechanow betrachtete jedoch fälschlich die
Mentalität ais eine Zwischenschicht des Bewußtseins
zwischen der Ökonomik und der sozialen und
politischen Ordnung einerseits und den ideologischen
Formen in der Gesellschaft anderseits. Nach seiner
Darstellung haben alle Ideologien eine gemeinsame
Wurzel — die jeweilige gesellschaftliche Mentalität,
die durch das gesellschaftliche Sein bestimmt wird.
Plechanows „Grundfragen
des Marxismus" enthalten trotz bedenklicher Mängel
und Fehler eine richtige Begründung der meisten
Thesen der materialistischen Geschichtsauffassung
und wertvolles konkretes Material über die
Abhängigkeit der Ideologie von den sozialökonomischen
Verhältnissen und ihre relative Selbständigkeit.
Dieses Werk Plechanows ist auch im Ausland sehr
bekannt geworden.
In seiner
menschewistischen Periode war Plechanow immer noch
imstande, sich gegen eine neue Spielart des
philosophischen Idealismus, den Machismus, zu wenden
und in diesem Zusammenhang nochmals auf dem Gebiet
der Religionskritik zu arbeiten.
Plechanows Auftreten
gegen den Machismus war von großer Bedeutung, obwohl
er hier über gewisse Grenzen nicht hinauskam und in
manchen Fragen von der marxistischen Philosophie
abwich. Man darf auch nicht vergessen: „Plechanow
trachtete in seinen Bemerkungen gegen die Machisten
weniger danach, Mach zu widerlegen, als vielmehr der
Fraktion der Bolschewiki Schaden zuzufügen."16
Plechanow kritisierte nicht den Machismus der
Menschewiki, er ging über ihre Verzerrungen der
marxistischen Philosophie hinweg und suchte in seiner
Kritik den „Empiriomonismus" als die Philosophie der
Bolschewiki darzustellen.
Aber von den zahllosen
Theoretikern der II. Internationale wandte sich nur
Plechanow gegen den Machismus und seine Anhänger in
Rußland. Unter den Führern des Menschewismus vertrat
er allein den Materialismus im Kampf gegen die neue
Spielart des philosophischen Idealismus. In
glänzender polemischer Form suchte er die Thesen des
Machismus und seiner Spielart, des Bogdanowschen
Empiriomonismus, zu widerlegen.
Für ihn bestand kein
Zweifel daran, daß der Machismus und die Philosophie
des Marxismus diametrale Gegensätze bildeten und zwei
einander ausschließende Weltanschauungen waren. An
den Machisten Bogdanow schrieb er einmal: „Daß Sie
außerhalb des Marxismus stehen, ist für alle klar,
die wissen, daß das ganze Gebäude dieser Lehre auf
dem dialektischen Materialismus ruht, und die
begreifen, daß Sie als überzeugter Machist nicht auf
dem materialistischen Standpunkt stehen und stehen
können."(15)
Plechanow betonte
immer wieder den Gegensatz zwischen der marxistischen
Philosophie und dem Machismus und forderte eine
theoretische Abgrenzung vom Machismus. Mit Recht wies
er darauf hin, daß jede weltanschauliche Unklarheit
angesichts der politischen Reaktion in Rußland sich
schädlich auswirken mußte. „Man kann kein Marxist
sein, wenn man die philosophische Grundlage des
Marxismus ablehnt."(16)
Die Anschauungen
Machs und Bogdanows betrachtete Plechanow als eine
Spielart der Philosophie des subjektiven Idealismus.
Mach steht hinsichtlich der Grundfrage der
Philosophie ganz und gar auf dem Standpunkt des
Idealisten Berkeley (18. Jahrhundert). Plechanow
stellte mit Recht fest, daß der Empiriomonismus
Bogdanows eine Spielart des Machismus ist und sich
prinzipiell von diesem nicht unterscheidet.
Im Rahmen seiner
Kritik an den machistischen Anschauungen Bogdanows
entwickelte Plechanow eine ganze Reihe richtiger
Thesen über die Materie, über ihr Wesen, über die
Zuverlässigkeit unserer Erkenntnis usw. Aber bei
seiner Kritik des Machismus verzichtete er auf eine
Analyse der modernen Naturwissenschaft, sah er nicht,
daß die neueste Revolution in der Naturwissenschaft
aufs engste mit der Krise in der Naturwissenschaft
verbunden war. Er übersah den sehr wichtigen Umstand,
daß der Machismus mit der reaktionären Richtung in
der Physik, mit dem „physikalischen Idealismus"
zusammenhing.
Die innere
Verbindung des Machismus mit den reaktionären
Richtungen in der Naturwissenschaft sah er nicht und
begriff nicht, daß der Machismus sich die Krise der
Naturwissenschaft zunutze macht und die Entstehung
und Entwicklung reaktionärer Richtungen in der
Naturwissenschaft fördert. In seiner Kritik übersah
er den Zusammenhang zwischen der Entwicklung der
machistischen Philosophie und der in der
Naturwissenschaft entstandenen Krise, den
Zusammenhang zwischen dem philosophischen Idealismus
und den reaktionären Richtungen in der
Naturwissenschaft. Ohne diese Erkenntnis aber kann
man die Philosophie Machs und seiner Anhänger nicht
ernsthaft und gründlich kritisieren. Lenin schrieb
einmal: „Sich mit dem Machismus auseinandersetzen und
diesen Zusammenhang ignorieren — wie es Plechanow tut
—, heißt sich über den Geist des dialektischen
Materialismus lustig machen.(17)
Plechanows Kritik
am Machismus lief im wesentlichen auf den Beweis der
These hinaus,-daß der Machismus zu unsinnigen
solipsistischen Schlußfolgerungen führt. Außerdem
beging er in seiner Polemik gegen Bogdanow
bedenkliche theoretische Fehler.
In die Zeit der
Kritik am Machismus fällt Plechanows Polemik gegen
die Simplifizierung in der Philosophie, gegen die
Vulgarisierung des Marxismus. In seiner Rezension des
Buches „Die Rechtfertigung des Kapitalismus in der
westeuropäischen Philosophie" von Schuljatikow (1909)
kritisierte er die simplifizierenden philosophischen
Anschauungen des Verfassers und seine
vulgarisierende Methode bei der Analyse der
Geschichte der westeuropäischen Philosophie. Subtil
und tief stellte er die Frage der Parteilichkeit in
der Philosophie. Kritisch bemerkte er gegenüber
Schuljatikow: „Die Aufgabe der Untersuchung wird sehr
vereinfacht,
wenn er
voraussetzt, daß die Philosophie
Einfachheit ist durchaus nicht immer ein
Vorzug."1'
Während
Schuljatikow die falsche Ansicht vertrat, daß die
Philosophie die nächstliegenden Interessen der
Bourgeoisie zum Ausdruck bringe, und die relative
Selbständigkeit in der Entwicklung der Philosophie
ignorierte, stellte Plechanow fest: „Tatsächlich
läuft die Behauptung, daß .restlos alle
philosophischen Termini' der Kennzeichnung von
gesellschaftlichen Klassen, Gruppen, Zellen und ihren
Wechselbeziehungen dienen, auf eine solche
Vereinfachung einer außerordentlich wichtigen Frage
hinaus, daß man schon von Primitivität sprechen kann."(18)
Mit Recht wies
Plechanow auf die relative Selbständigkeit in der
Entwicklung der Ideologie hin, auf die Tatsache, daß
die ökonomische Entwicklung der Gesellschaft alle
übrigen Seiten ihrer Entwicklung „in letzter Instanz"
bedingt. Das Buch von Schuljatikow nannte er in
diesem Zusammenhang eine Parodie auf den Marxismus.
Plechanows Kritik
an Schuljatikow deckte sich mit Lenins kritischen
Bemerkungen über dessen Buch.
In der vielseitigen
und reichhaltigen literarischen Hinterlassenschaft
Plechanows spielt das Problem des Wesens der
Religion, die Frage ihrer Entstehung und ihrer
Bekämpfung eine bedeutende Rolle. In seinen
philosophischen Arbeiten unterstrich er immer wieder
den inneren Zusammenhang des philosophischen
Idealismus mit der Religion, machte er den sozialen
und politischen Inhalt der Religion sichtbar. Die
Bourgeoisie betrachtet die Religion als eines der
wichtigsten geistigen Mittel zur sozialen Knechtung
des Proletariats.
Sehr interessant
sind die unter dem Gesamttitel „Uber das sogenannte
religiöse Suchen in Rußland" erschienenen Aufsätze
Plechanows. Sie richten sich gegen das Gottschaffen
und Gottsuchen und analysieren im Zusammenhang damit
die Anschauungen Bogdanows, Lunatscharskis, M.
Gorkis, L. Tolstois und Mereshkowskis. Abgesehen von
ihrer außerordentlich großen politischen Bedeutung,
sind die in diesen Aufsätzen behandelten Fragen auch
in theoretischer Hinsicht sehr wichtig. Es geht hier
um die Frage der Entstehung und des Wesens der
Religion. Diese Aufsätze, in denen ein umfangreiches
ethnographisches Material verwendet wird, behandeln
das Problem im ganzen zweifellos richtig und erörtern
einzelne seiner Seiten.
Plechanows Aufsätze
zur Religionskritik konkretisieren den Marxismus auf
diesem Gebiet, sie bereichern ihn durch neue Ideen
auf der Grundlage der Untersuchung ethnographischer
Tatsachen und durch eine neue Argumentation.
Plechanows Auftreten gegen das Gottschaffen und
Gottsuchen während der Jahre der Reaktion in Rußland
war in politischer Hinsicht sehr bedeutungsvoll. In
der Propagierung des Gottschaffens durch die
Menschewiki und „linken" Liquidatoren widerspiegelte
sich unmittelbar der Einfluß der in Rußland
herrschenden politischen Reaktion.
Plechanows Kampf gegen das Gottschaffen und
Gottsuchen war ein Kampf gegen die bürgerliche
Ideologie, gegen ihr Eindringen in das Bewußtsein der
Arbeiterklasse.
Plechanows
philosophische Arbeiten zur Verteidigung, Begründung
und Entwicklung des historischen Materialismus im
Kampf gegen die bürgerlichen Ideologen und die
Revisionisten bedeuten trotz gewisser Abweichungen
vom Marxismus und gelegentlicher bedenklicher Fehler
im ganzen eine dauerhafte Errungenschaft des
Marxismus. In einer Reihe von Fragen konkretisierte
Plechanow den historischen Materialismus und
entwickelte einige seiner Probleme weiter. „Seine
persönlichen Verdienste in der Vergangenheit",
schreibt Lenin über ihn, „sind gewaltig. In den
zwanzig Jahren von 1883 bis 1903 hat er zahlreiche
vortreffliche Werke geschrieben, besonders gegen die
Opportunisten, die Machisten und die Volkstümler.(20)
Plechanow gehörte
zu den politischen Führern und Theoretikern der II.
Internationale. Er war jedoch weit davon entfernt,
die neue historische Epoche, die um die
Jahrhundertwende begonnen hatte, zu verstehen. Die
entscheidenden Mängel in der Weltanschauung der
Führer und Theoretiker der II. Internationale waren
mehr oder weniger auch für ihn kennzeichnend. Auch
seine Isolierung von der praktischen Arbeiterbewegung
in Rußland trug wesentlich dazu bei, daß er für die
wichtigsten politischen und theoretischen Aufgaben
kein Verständnis hatte. Die wesentlichen
Veränderungen, die die neue historische Epoche für
die russische Arbeiterbewegung am Vorabend der
"bürgerlich-demokratischen Revolution mit sich
brachte, begriff er nicht. Er sah nicht, daß das
Zentrum der revolutionären Bewegung sich vom Westen
nach dem Osten, nach Rußland verlagert hatte.
Die neue
historische Epoche stellte die marxistische
Gesellschaftswissenschaft vor neue und große
theoretische Aufgaben. Die welthistorischen
Ereignisse in Rußland unter den neuen Bedingungen
der gesellschaftlichen Entwicklung in der Periode
des Imperialismus warfen neue theoretische Probleme
auf und verlangten ihre schöpferische Lösung.
Der größte Denker,
der die Theorie des Marxismus weiterentwickelte und
durch neue Entdeckungen und Errungenschaften
bereicherte, war Lenin. Lenin wurde der Theoretiker
und der politische Führer des Proletariats in der
neuen historischen Epoche. Niemals aber hat Lenin
Plechanows Verdienste um die internationale
Arbeiterbewegung vergessen. Er sah in ihm einen
hervorragenden Theoretiker des Marxismus, einen
kämpferischen Materialisten, der viele Jahre lang
einen erfolgreichen Kampf gegen die bürgerliche
Philosophie führte und ein reiches philosophisches
Erbe hinterließ.
Übersetzt von E.
Salewskl
Endnoten
1)
W. Plechanow, Werke, Bd. I, S. 109, russ.
2) Ebenda, S. 131
3) W. Plechanow, Werke, Bd. II, S. 113, russ.
4) W. Plechanow, Werke, Bd. VIII, S. 192, russ.
5) Ebenda, S. 300
6) G W.Plechanow, Werke, Bd. XI, S. 136, russ.
7)
Ebenda, S. 35.
8) W.I.Lenin, Marxismus und
Revisionismus, Berlin 1948, S. 5.
9) Der Briefwechsel zwischen
G. W. Plechanow und P.B. Axelrod, Bd.
2, S. 81, russ.
10) G.W. Plechanow, Werke, Bd.
II, S. 321, russ.
11) G.W.Plechanow,
Werke, Bd. XVIII, S. 182, russ.
12) Ebenda, S. 189
13) W.I.Lenin, Aus dem
philosophischen Nachlaß, Berlin 1954, S. 288.
14) W.I.Lenin, Materialismus
und Empiriokritizismus, Berlin 1952, S. 346, Fußnote.
15) G.W. Plechanow,
Werke, Bd. XVII S. 2, russ.
16)
Ebenda, S. 48.
17)
W.I.Lenin,
Materialismus und Empiriokritizismus, Berlin 1952, S.
241.
18) G. W.Plechanow, Werke, Bd.
XVII, S. 142, russ.
19) Ebenda, S. 144/145.
20) W. I. Lenin, Werke, Bd.
20, S. 333, russ.
Quelle: B.
A. Tschagin: G. W. Plechanow – Ein hervorragender
Theoretiker des Marxismus. In:
Zu Hegels sechzigstem Todestag. Düsseldorf
1978. S. 38-55, der Originaltext
erschien in:
Nachrichtenblatt der Unversität
Leningrad, 1956, Nr. 23.
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