Stimmen aus dem linken Spektrum zu den Pariser Attentaten

Peter Mertens, Vorsitzender der belgischen Partei der Arbeit
Worauf warten wir, um dem IS den Sauerstoff zu kappen?

11/2015

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Ja, am Freitagabend habe ich Fußball geschaut. Ich schaute Talenten zu wie Kevin De Bruyre und Radja Nainggolan, hervorgegangen aus dem Stadtviertel Luchthal in Antwerpen, Ich sah den Ballzauberer Yannek Ferreira Carrasco und seine Vorlage an Michy Batshuayi. Das war der Planet der „Diables rouges“ (roten Teufel), verschiedenartig und bunt, ganz wie das Bild unseres Landes. Und dann war das, mit der unglaublichen Nachricht von Paris, die brutale Rückkehr auf den Planeten Erde. Zuerst will man es nicht glauben. Aber dann, allmählich, setzt sich die abscheuliche Realität doch durch.

Die Opfer von Paris repräsentierten die ganze Menschheit in ihrer Verschiedenartigkeit

Stéphane Albertini, Jorge Alonso de Celada, Élodie Breuil, Ciprian Calciu, Manuel Colaco Dias, Patricia San Martin Nunez, Asta Diakite, Elif Dogan, Fabrice Dubois, Mathias Dymarski, Djamila Houd, Milko Jozic, Kheireddine Sahbi, Halima Saadi, Estelle Rouat und 114 andere junge und weniger junge Menschen wurden ums Leben gebracht durch entfesselte Wahnsinnige. Diese Opfer sind Paris. Wie ihre Namen zeigen, stammen sie aus Algerien, Belgien, Brasilien, Chile, Frankreich, Großbritannien, Marokko, Mexiko, Portugal, Rumänien, Spanien, Tunesien, Schweden, der Schweiz. Alle Opfer des gleichen Wahnsinns.

Am Stade de France (Stadion von Frankreich) während des Freundschaftsspiels Frankreich-Deutschland waren die ersten Explosionen zu hören. Am Anfang glaubte man an Feuerwerkskörper. Dann kamen Zweifel auf. Vor Ort, in der französischen Mannschaft, war Lassana Diarra, Mannschaftskamerad von Michy Batshuayi bei Olympique Marseille. Während er in den Reihen der „Blauen“ spielte, wurde seine Kusine Asta Diakite von Feiglingen ermordet. „Asta Diakite war für mich ein Bezugspunkt, eine große Schwester. In diesem Klima des Terrors ist es wichtig, vereint zu bleiben angesichts eines Horrors, der weder Farbe noch Religion hat“, twitterte der internationale Fußballer am nächsten Morgen.

Ja, die Opfer von Paris repräsentierten die ganze Menschheit in ihrer Verschiedenartigkeit. Lassen wir nicht den Hass und den Terrorismus uns spalten. Das ist genau das, was die terroristischen Organisationen erreichen wollen.

Die ersten Opfer der Barbarei des IS waren irakische Bürger

Am Vorabend des Horrors von Paris begingen die Fanatiker des Islamischen Staates (IS) ein Attentat ganz in der Nähe des Hospitals von Bouri al-Barraineh in Beirut, der Hauptstadt des Libanon, das 37 Tote und 200 Verletzte zur Folge hatte. Zusammen sind das In Beirut und in Paris innerhalb von knapp zwei Tagen 158 Tote und 550 Verletzte.

Nein, der IS ist nicht allein im Krieg gegen „den Westen“. Die irren Fanatiker des IS sind davon überzeugt, dass der Endkampf für ihren heiligen Staat nahe ist. Sie sind im Krieg gegen jeden, der sich ihrer absurden Doktrin nicht beugt. Die ersten Opfer ihrer Barbarei waren irakische Bürger. Schiiten, Aleviten, Kurden und Jeziden wurden massakriert auf dem Altar der dschihadistischen Salafisten, nach der Destabilisierung der gesamten Region durch den von den USA im Irak geführten illegalen Krieg. Und nachdem die amerikanischen Truppen des Generals Petraeus jahrelang einen schmutzigen Krieg zwischen sektiererischen Todesschwadronen geschürt haben, um den irakischen Widerstand zu spalten und zu schwächen.

Zehntausende fliehen vor der Gewalt des IS. Sie fliehen aus einer Region, die durch die ausländischen Interventionen und durch eine extreme sektiererische Gewalt völlig destabilisiert worden ist.

Die Instrumentalisierung der Attentate durch die Rechtsextremisten nutzt nur dem Islamischen Staat

Welchen Grad von Zynismus legt die extreme Rechte an den Tag, die die Verantwortung für die hier vom IS verübte Gewalt Menschen zuweist, die vor der gleichen Gewalt des IS in ihrer Heimat geflohen sind? Wer heute die Verantwortung für den Terrorismus auf „die Flüchtlinge“ ablädt, wer das Feuer des Hasses und der Spaltung noch mehr schürt, spielt genau das von den Barbaren gewollte Spiel. Die Instrumentalisierung der Attentate durch die Rechtsextremisten nutzt in Wahrheit allein dem IS: mehr Spaltung, mehr Ausgrenzung, mehr Radikalisierung, weniger Zusammenleben.

Den IS finanziell trockenlegen

Der Erfolg der terroristischen Organisation IS beruht zum großen Teil aus seiner finanziellen Schlagkraft. Der IS kontrolliert ein Gebiet, das jeden Tag 350.000 Tonnen Rohöl produzieren kann. Es wird geschätzt, dass seine Produktionskapazität bei 20.000, maximal 50.000 Barrels liegt. Aber dieses Öl muss natürlich erst noch verkauft werden. Und der IS verkauft es nicht an den Planeten Mars. Schon 2014 signalisierte Jana Hubaskova, die Botschafterin der EU im Irak, dass manche europäische Länder auf indirekte Weise Öl kauften, das von den vom IS besetzten Ölfeldern stammt. Dieses Öl kam illegal nach Europa, wobei es unter anderem die türkische Grenze passierte. Und das Öl-Geld stellt die Lebensader des IS dar, um sich mit Waffen zu versorgen, Trainingslager zu finanzieren, „Loyalität“ zu erkaufen und – was nicht ohne Bedeutung ist – hohe Löhne zu zahlen. Denn Religion oder nicht, Geld bleibt immer noch Geld. Im Sommer 2014 ist ein Teil der Kämpfer von Al-Nusra so zum IS übergegangen aufgrund der „hohen Löhne“. Der Verkauf von Öl soll dem Islamischen Staat 360.000 bis 2 Millionen Dollar pro Tag einbringen.

Via der Staaten des Persischen Golfs wie Saudi-Arabien, Katar, die Vereinigten Arabischen Emirate und Kuweit, alles enge Bundesgenossen unserer Regierungen, fließt noch immer viel Geld zu den terroristischen Gruppen. Von Katar aus – dem Land, das mit der Organisierung der Fußballweltmeisterschaft großzügig belohnt worden ist – überweisen die Öl-Millionäre enorme Summen an die dschihadistischen Gruppen.

Im vergangenen Juni schrieb das Wall Street Journal: „Westliche Funktionäre haben Schwierigkeiten zu erreichen, dass Kuweit und andere Bundesgenossen am Golf Privatspenden an dschihadistische Gruppen stoppen. Diese Spenden boten oft ein Startkapital für Gruppen wie den Islamischen Staat, noch bevor dieser genügend groß geworden war, um Teile des Territorium kontrollieren zu können“.

Vor einigen Monaten erklärte der Sondergesandte der UNO für Syrien, Staffan de Mistura: „Wenn man den Sauerstoff abschneidet, das heißt die Versorgung mit Geld und Waffen, dann werden sich die kriegführenden Parteien wohl an einen Tisch setzten müssen.“

Dass dies noch nicht geschehen ist, übersteigt alle Vorstellungskraft. Seinerzeit ist der Iran ohne Probleme aus dem Versorgungsnetz für internationaler Bankoperationen SWIFT ausgeschlossen worden, das seinen Sitz in unserem Land hat. Die vom IS kontrollierten Banken jedoch haben monatelang ohne Probleme weiter funktioniert, und selbst heute ist der formelle und informelle Geldfluss noch immer nicht völlig gestoppt.

Die Bande mit Saudi-Arabien abschneiden

Im vergangenen Mai jubelte der Bürgermeister von Antwerpen, Bart De Wever, zusammen mit der gesamten Direktion des Hafenbetriebs mit fast lyrischen Worten der Ankunft der Saudis im Hafen der Metropole zu. Die Saudis erklärten tatsächlich, für 3,7 Milliarden Euro eine Abfallfabrik auf dem Dock Delwaide bauen zu wollen. Sie wollten täglich vier Schiffe mit Industrieabfällen aus Saudi-Arabien nach Antwerpen verschiffen, um sie in Ammoniak und Harnstoff umzuwandeln. It’s a dirty job, but somebody has to do it (Es ist ein schmutziges Geschäft, aber irgendjemand muss es machen). Dass genau Saudi-Arabien seit Jahren der größte Finanzier des Dschihadismus war, ist dem Bürgermeister und der Hafendirektion gleichgültig gewesen. Übrigens hat sich König Philipp noch im Januar dieses Jahres nach Saudi-Arabien begeben, um dem verstorbenen Herrscher Abdullah seine Reverenz zu erweisen und dem neuen König Salman die Hand zu schütteln. François Holland war auch dort, ebenso David Cameron.

„Saudi-Arabien hat weiterhin die extremistischen Hass Prediger unterstützt, bezahlt, sich verbreiten lassen. Was wurde getan? Und was tut man heute? Nichts. Die USA und fast alle europäischen Regierungen unterstützen Saudi-Arabien weiterhin durch dick und dünn. „Öl, Sie wissen doch… für Öl fallen alle Prinzipien“, hatte ich im Januar in einem Meinungsartikel auf dieser Seite von knack.be geschrieben.

Ja, das weiß man, Geld stinkt nicht. Offiziell kämpft Saudi-Arabien gegen den IS und unterstützt dieses Land das Antiterror-Programm der Vereinten Nationen. Aber das ist nicht mehr als Fassade. Alle Berichte besagen, dass die radikalsten Salafisten weiter ideologische und materielle Unterstützung vom saudischen Königreich erhalten. Nach einem von Wikileaks veröffentlichten Memo von Hillary Clinton sind die saudischen Geldgeber „die wichtigste Quelle finanzieller Unterstützung für sunnitische Terrorgruppe in aller Welt“ (sic!).

Es ist mehr denn an der Zeit, dass die USA und die europäischen Staaten, unserer inbegriffen, die Politik mit zweierlei Maß aufgeben und ihre finanziellen und militärischen Verbindungen mit Saudi-Arabien kappen. Jetzt!

Die Waffenlieferungen stoppen

Unlängst hat Schweden beschlossen, keine Waffen mehr nach Saudi-Arabien zu liefern. In unserem Land ist die Situation völlig anders. In der Zeit von 1998 bis 2012 hat Belgien Waffen an das saudische Königreich für mehr als zwei Milliarden Euro geliefert, wie sich aus der Liste der europäischen Exportgenehmigungen ergibt. Saudi-Arabien kauft im Durchschnitt ein Sechstel der gesamten belgischen Rüstungsproduktion und ist damit nach den USA der größte Kunde Belgiens. Es handelt sich um Waffen, die von der wallonischen FN hergestellt werden, aber auch um Hochtechnologiekomponenten für größere Waffensysteme, die in Flandern produziert werden. Im Februar haben belgische Unternehmen noch an einer Waffenbörse in Abu Dhabi, der Hauptstadt der Vereinigten Arabischen Emirate, teilgenommen, um dort ihre Waren den Käufern der Region anzupreisen. Viele dieser Waffen finden den Weg zum IS und anderen terroristischen Organisationen.

Die Terrorgruppe IS besitzt keinerlei Waffenfabrik und muss ihre Waffen also irgendwo anders besorgen. Die salafistischen Dschihadisten konnten sich enorme Mengen amerikanischer Waffen im Irak aneignen. Aber das ist nicht alles. Schon 2012 vermerkte die New York Times, dass die vom Westen an die Aufständischen in Syrien gelieferten Waffen sich in den Händen von Terroristen befinden.

Seitdem hat sich die Situation weiter verschlimmert. Im September übergaben die von den Amerikanern formierten „gemäßigten Rebellen“ ihre Waffen ganz einfach an den syrischen Zweig von Al Kaida. Am 9. Oktober erklärte die amerikanische Vize-Verteidigungsministerin Christine Wormuth, dass die Vereinigten Staaten nicht einmal mehr überprüfen, ob die Gruppierungen, die sie mit Waffen ausrüsten, Terroristen in ihren Reihen haben. Sie kontrollieren nur den Hintergrund der Anführer dieser Gruppen, Das genügt! Es gibt keinerlei Grund, nicht sofort ein Verbot des Exports von Waffen in diese Region zu erlassen.

Vereinigen wir endlich alle Anti-IS-Kräfte

Der von George W. Bush verkündete sogenannte „Krieg gegen den Terror“ ist nun schon vierzehn Jahre alt, aber welcher vernünftige Mensch würde von einem Erfolg sprechen? Die Bürgerrechte wurden eingeschränkt, die Armee ist auf den Straßen (das hat in Paris jedoch keinen der Anschläge verhindern können), wir wurden überflutet von Verallgemeinerungen über die Moslems, die extreme Rechte hat erneut überall in Europa den Wind in den Segeln, wir haben eine Intervention nach der anderen erlebt und zehntausende Menschen irren wegen des Krieges und der Gewalt umher. Und von all dem ist nicht, dass die Welt sicherer geworden ist.

Warum also das hartnäckige Festhalten an einer Außenpolitik, die nicht funktioniert?

„Die einzige dauerhafte Lösung für die heutige Krise in Syrien geht über einen von den Syrern und mit den Syrern geleiteten inklusiven politischen Prozess“, das war die Feststellung des UNO-Sicherheitsrats vom 17. August. Dieses Bewusstsein sollte auch der rote Faden unserer Außenpolitik werden. Es gibt offenkundig keine Zauberformel, um den IS zu zerschlagen. Nach mehr als vier Jahren Krieg haben alle kämpfenden Parteien in Syrien schrecklich viel Blut an den Händen. Aber um die salafistischen Dschihadisten des IS zu besiegen, muss mit allen lokalen Akteuren gesprochen werden. Es ist absurd, dass zu den gegenwärtigen Gesprächen über Syrien in Wien keine Syrer eingeladen waren.

Die Vereinten Nationen arbeiten seit Monaten an einer Friedenskonferenz, die die regionalen Akteure einbezieht. Unser Land kann diesen Prozess aktiv unterstützen.

Keine leichten Lösungen

Ich bin mir völlig bewusst, dass der Kampf gegen den Terrorismus auf verschiedenen Ebenen geführt werden muss und dass dies ein komplexer Prozess ist. Ich schrieb dies schon im Januar hier bei knack.be: „Es existieren leider keine ‚leichten Lösungen‘ im Kampf gegen den Terrorismus, und wer das behauptet, streut den Menschen Sand in die Augen. Es muss auf verschiedenen Ebenen gearbeitet werden, aber es ist deutlich, dass die Außenpolitik ein Teil der Strategie gegen den Terror sein muss“.

Es ist also viel Arbeit nötig.

„In Europa sprechen wir davon, die Grenzen zu schließen, das Asylrecht zu begrenzen, die Leute zurückzuschicken. Aber begreifen wir, dass wir damit nur von den Symptomen der echten Probleme sprechen? Das echte Problem ist, dass wir zu wenig getan haben, um das Chaos in der arabischen Welt zu verhindern und dass wir es teilweise geschürt haben“, schrieb die Journalistin Caroline de Gruyter am Samstag auf der niederländischen Internetseite NRC.

Wir können aufhören, dieses Feuer zu schüren, indem wir unsere Außenpolitik ändern. Einerseits, indem wir auf ein globales Herangehen setzen, um Spaltung und Rassismus entgegenzutreten und für eine inklusive Friedenskonferenz für Syrien mit den regionalen Akteuren arbeiten. Andererseits, indem wir dem IS den Sauerstoff abschneiden durch das Schließen des Hahns für die Geld- und Waffenzufuhr, und indem wir den Verbindungen mit Saudi-Arabien ein Ende machen.

Worauf waren wir noch?

 

Übersetzung aus dem französischen: Georg Polikeit


 

Quelle: http://www.kommunisten.de/  19.11.2015