Ein neues „erstes“ Buch
von Tomasz Konicz erschienen
Eine Generalabrechnung mit dem deutschen Hegemonialstreben in Europa

Eine Besprechung mit Leseprobe von Ulrich Leicht

11/2015

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Tomasz Konicz, freier Journalist, der regelmäßig Artikel und Analysen bei Telepolis, in „Konkret“ (Auf ein Neues - 06/15), dem „Neuen Deutschland“ und bei „Exit“ schreibt und veröffentlicht, hat sein erstes „richtiges“ Buch geschrieben -„Aufstieg und Zerfall des Deutschen Europa“ - der im Zusammenhang mit der eskalierenden systemischen Krisendynamik analysiert wird.

Im Klappentext zum Buch heißt es:

Der Ausbruch der Eurokrise markiert die Geburtsstunde des »Deutschen Europa«, in der die drückende ökonomische Überlegenheit der BRD in einen politischen Führungsanspruch umgewandelt wurde. Merkel und Schäuble bestimmten den Kurs der europäischen Krisenpolitik, die sich weitgehend an den Interessen der deutschen Exportindustrie ausrichtete. Im Buch soll die Durchsetzung dieser rücksichtslosen Politik Berlins, die Europa entlang der Verwertungsinteressen des deutschen Kapitals transformierte, ebenso beleuchtet werden wie die verheerenden sozioökonomischen Folgen dieses deutschen Dominanzstrebens in der Peripherie der Eurozone. Dieses Buch ist folglich zuallererst eine Generalabrechnung. Es ist eine Abrechnung mit einem verhängnisvollen Großmachtstreben der deutschen Funktionseliten aus Politik und Wirtschaft, das eine erstaunliche langfristige Konsistenz aufweist und auf ein altes Ziel hinarbeitet, an dessen Realisierung Deutschland bereits zwei Mal scheiterte: das Erreichen einer deutschen Hegemonie in Europa. Eine Kernthese des Buches lautet daher: Die deutschen Funktionseliten unternehmen einen dritten historischen Anlauf, um die Position einer europäischen Hegemonialmacht zu erringen – wobei dieser dritte Griff nach der Macht in Europa mit ökonomischen Mitteln und Methoden, als eine Art Wirtschaftskrieg, geführt wird.

Wer sich gesellschaftskritisch mit den brennenden Fragen unserer Zeit, ob den Entwicklungen um die Ukraine und in anderen osteuropäischen Ländern, mit der deutsch dominierten europäischen Austeritätspolitik gegenüber den nicht kerneuropäischen EU-Mitgliedsländern, mit der Erpressung und Kapitulation Griechenlands als vorläufigem Höhepunkt, mit der Flüchtlingsproblematik, dem Rassismus, Rechtspopulismus oder Neofaschismus, und wer sich mit den weltkapitalistischen Krisenprozessen und ihren Hintergründen auseinandersetzt, der wird unter anderem auch auf die Beiträge, Artikel, mitunter auch längeren Analysen des freien Journalisten Tomasz Konicz gestoßen sein. In nicht wenigen linken Publikationen – so in „Konkret“, im „Neuen Deutschland“ auf den Homepages von „Exit“, „Streifzügen“ und anderen – greift man gerne auf seine Darstellungen zurück. Sehr präsent ist Tomasz Konicz mit nahezu 300 Interventionen allein auf der Website des Onlinemagazins Telepolis, das sich anders als die Mainstream-Medien neben wissenschaftlichen, kulturellen und künstlerischen Aspekten des digitalen Zeitalters, erfreulich kritisch mit dem gesellschaftlichen und politischen Zeitgeschehen befasst. Dort wurden auch einige seiner Stellungnahmen, wie zur Krisenideologie, bereits als eBook zusammengestellt.

Seine vielfältigen „Vorarbeiten“ dort haben es Tomasz Konicz ermöglicht und offensichtlich auch ermutigt, nun in kürzester Zeit, sozusagen mit heißer Feder, sein wirklich erstes „richtiges“ Buch auf den Weg zu bringen. Den letzten Anstoß gab wohl der berüchtigte Brüsseler Krisengipfel vom 12./13. Juli diesen Jahres, dessen Ergebnis die Irish Times als „Peinigung Griechenlands“ durch das Diktat vornehmlich Deutschlands „dem Ersten in einem Europa der Ungleichheit“ charakterisierte und weiter schrieb:

Was ist der Unterschied zwischen der Mafia und der gegenwärtigen europäischen Führung? Die Mafia macht dir ein Angebot, das du nicht ausschlagen kannst. Die Führer der Europäischen Union machen dir ein Angebot, das du weder ausschlagen noch annehmen kannst, ohne dich dabei selbst zu vernichten.“

In der Einleitung zu seinem Buch vom Juli 2015 hebt Konicz zurecht die Bedeutung dieser Vorgänge hervor:

Die Dominanz der deutschen politischen Eliten innerhalb der entscheidenden Gremien der Währungsunion, ihre ungehinderten Möglichkeiten zur europaweiten Machtprojektion kraft der »europäischen« Institutionen, wurde bei dem deutschen Vabanque-Spiel gegen Hellas offensichtlich. Es ist evident. Deutschland führt wieder Krieg in Europa: einen Wirtschaftskrieg, bei dem es selbstverständlich nicht um die richtige Krisenpolitik für

Griechenland oder Südeuropa geht, sondern um die Festigung der Dominanz Deutschlands in der Eurozone auch wenn hierbei ganze Volkswirtschaften in den Abgrund gestoßen werden müssen.“ (S. 7)

Und es ist nicht so abwegig, seiner Einleitung als Motto ein makabres Wortspiel des Kabarettisten Wolfgang Neuss aus früheren Tagen voranzustellen: „Wir schaffen es, ohne Waffen-SS.“ und zu formulieren:

Hierzu waren keine Panzer und Flugzeuge, keine militärischen Interventionen notwendig. Hierfür steht Deutschlands Funktionseliten ein breites Spektrum ökonomischer Folterinstrumente zur Verfügung, die großenteils erst auf Drängen der deutschen Politik Eingang in die Strukturen von Europäischer Union und Eurozone fanden.“ (ebd.)

Auf den dann folgenden 180 Seiten und 10 Kapiteln des Buches gelingt es Tomasz Konicz eindrucksvoll und gut belegt durch reichliche Quellenverweise und illustriert mit 40 Grafiken zu ökonomischen Entwicklungen und Daten sein Anliegen darzulegen und seine Kernthesen auszuleuchten, auf die er einleitend aufmerksam macht:

1. Der Ausbruch der Eurokrise 2010 markiert die Geburtsstunde des

»Deutschen Europa«, „in der die drückende ökonomische Überlegenheit der BRD in einen politischen Führungsanspruch umgewandelt wurde.“ Im Buch wird die Durchsetzung dieser rücksichtslosen Politik Berlins, die Europa entlang der Verwertungsinteressen des deutschen Kapitals transformierte, ebenso nachgezeichnet wie die verheerenden sozioökonomischen Folgen dieses deutschen Dominanzstrebens in der Peripherie der Eurozone.

2. Wir sind Zeitzeugen eines verhängnisvollen Großmachtstrebens der herrschenden

deutschen Eliten aus Politik und Wirtschaft, die offensichtlich auf ein altes Ziel hinarbeiten, „das Erreichen einer deutschen Hegemonie in Europa.“ (S. 8) In diesem Zusammenhang erinnert Konicz an die bezeichnenden Aussagen des früheren deutschen Außenministers Klaus Kinkel von 1993:

...nach außen gilt es etwas zu vollbringen, woran wir zweimal zuvor gescheitert sind: im Einklang mit unseren Nachbarn zu einer Rolle zu finden, die unseren Wünschen und unserem Potential entspricht, ... Wir sind aufgrund unserer Mittellage, unserer Größe und unserer traditionellen Beziehungen zu Mittel und Osteuropa dazu prädestiniert, den Hauptvorteil aus der Rückkehr dieser Staaten nach Europa zu ziehen.“ (S. 29)

3. Anders als meist üblich bleibt Konicz nicht bei phänomenalen Beschreibungen der

Entwicklungen stehen, sondern ordnet sie auf dem Hintergrund weltkapitalistischer systemischer Krisenprozesse ein.

Das deutsche Dominanzstreben in der Eurozone, die damit einhergehende Eskalation  der zwischenstaatlichen Konflikte und der - nicht nur in der BRD - überschäumende Nationalismus und Chauvinismus sollen in Beziehung zu der schweren Systemkrise gesetzt werden, in der sich spätkapitalistische Weltsystem befindet. Es gilt folglich, unter Beibehaltung der genannten historischen Perspektive, diesen langfristigen Krisenprozess in seinen Grundzügen zu skizzieren, wie er von der linken Schule der Wertkritik - von Robert Kurz, der Krisis-Gruppe und dem Exit-Zusammenhang - erhellt wurde. Diese durch eskalierende innere Widersprüche des Kapitalverhältnisses angetriebene Krisendynamik frisst sich in einem dekadelangen historischen Krisenprozess schubweise von der Peripherie des kapitalistischen Weltsystems in Zentren.“ (S. 9)

Ohne die herrschenden Kreise für ihre Krisenpolitik aus der Verantwortung zu entlassen aber auch nicht nur moralisch für ihr Tun zu attackieren, beschreibt er meiner Meinung völlig richtig ihr Agieren als das von „Charaktermasken“:

Die Berliner Eliten agieren somit auch als Getriebene einer systemischen Krisendynamik, die sich ihnen - wie allen anderen Subjekten im Kapitalismus in Form zunehmender marktvermittelter »Sachzwänge« entgegenstellt. Berlin hat insofern einen Weg eingeschlagen, bei dem letztendlich die Krisenfolgen auf andere Länder abgewälzt werden. Dies bedeutet aber nicht, dass Deutschland immun gegen die zunehmenden krisenbedingten Verwerfungen wäre, die inzwischen nicht nur die Peripherie, sondern auch in zunehmendem Ausmaß die Zentren des kapitalistischen Weltsystems erschüttern. (…)

In dem Buch soll gerade explizit dargelegt werden, wie dieselbe Politik Berlins, die zur Ausformung des Deutschen Europa ab 2010 beitrug, zugleich den Keim des Zerfalls dieses imperialen deutschen Projekts pflanzte. Die deutsche Politik hintertreibt nicht nur die hegemonialen Ambitionen Berlins, sie beschleunigt letztendlich den Zerfallsprozess Europas wie des gesamten kapitalistischen Weltsystems. Die Politik Berlins soll hierbei gewissermaßen als eine ‚subjektive‘ Äußerung eines ‚objektiven‘, systemischen Krisenprozesses dargestellt werden, der ins Barbarische umzuschlagen droht, sollte er nicht von einer breiten, europäischen - und letztendlich globalen emanzipatorischen Bewegung überwunden werden.“ (S. 10)

Und so kommt Konicz abschließend

4. auf seine Vorstellungen eines notwendigen „Transformationskampfes“ zu sprechen:

„Der europaweite Kampf gegen das deutsche Spardiktat, gegen Verelendung, Rechtsextremismus und Entdemokratisierung, die Berlins Krisenpolitik nach sich zieht, kann folglich nur mit einer ‚transnationalen‘ und antikapitalistischen Stoßrichtung erfolgreich geführt werden - als Teil einer transformatorischen Politik, die den kategorialen Bruch mit dem in Agonie befindlichen Weltsystem von Kapital, Staat, Nation, Markt und Geld sucht. Es gilt folglich das kollabierende spätkapitalistischem System zu überwinden, das solche Monstrositäten wie Schäuble und Merkel hervorbringt - bevor es in Barbarei umschlägt und die Idee menschlicher Emanzipation ganz in Vergessenheit gerät. Aus diesen Überlegungen heraus soll im Buch der Begriff des Transformationskampfes zur Diskussion gestellt werden.“ (11)

Der interessierte Gesellschaftskritiker und oppositionelle Aktivist darf sich auf ein inhaltsreiches, flüssig geschriebenes und zu lesendes Buch freuen. Einen Teil der einleitenden Passagen haben wir oben bereits kennengelernt. Es folgen weitere 10 Kapitel, wobei 2.1 bis 2.4 und 3.1. bis 3.4 jeweils als Themenblöcke für die Topoi a) „vom europäischen Deutschland zum ‚Deutschen Europa‘– der Aufstieg“, bzw. b) „Krisenprozesse und Krisenkonkurrenz – der Zerfall“, zu sehen sind.

 

Inhalt

1. Einleitung
2.1 Ein europäisches Deutschland kämpft um einen deutschen Euro
2.2 Exkurs: die große deutsche Ostexpansion
2.3 Der großgehungerte Exportweltmeister
2.4 Eurokrise und Ausformung des »Deutschen Europa«
3.1 Eurokrise und Systemkrise
3.2 Die europäische Todesspirale oder Hartz IV für alle
3.3 Exkurs: Geopolitik der Eurokrise
3.4 Wege in den Zerfall – Zusammenfassung und Ausblick
4. Exportschlager deutsche Krisenideologie
5. Hellas als das Alpha und Omega des deutschen Europa

 

Es wäre zu wünschen, dass Tomasz Konicz diesem ersten Buchprojekt beim Unrast Verlag weitere folgen lässt. Auf seine vielfältigen journalistischen Interventionen noch einmal kompakt und zwischen zwei Buchdeckeln gebündelt zugreifen zu können, hat nochmal eine andere Qualität als sich die diversen Artikel zusammen zu suchen. Materialien dazu wird er auch in Zukunft sicher reichlich produzieren. Wir wünschen Erfolg.

Mögen Tomasz Konicz und sein Buch die verdiente Aufmerksamkeit und Leser finden. Eine Vortragsreise in diesen Tagen lädt Interessierte ein, beide kennen zu lernen.

Dazu soll auch die Leseprobe hier mit dem Abdruck des Kapitels 3.4. „Wege in den Zerfall – Zusammenfassung und Ausblick“ beitragen.

 

Tomasz Konicz
Aufstieg und Zerfall des Deutschen Europa
ISBN 978-3-89771-591-2

Erscheinungsdatum: September 2015
Seiten: 192 - Ausstattung: softcover - 14,00 €

Unrast-Verlag

Der Autor - Tomasz Konicz, geb. 1973 in Olsztyn/Polen, lebt unweit der westpolnischen Stadt Poznan. Er studierte Geschichte, Soziologie, Philosophie in Hannover sowie Wirtschaftsgeschichte in Poznan und ist tätig als freier Journalist mit Schwerpunkt Osteuropa und der Weltkrisenentwicklung – zuletzt: Die Nation in der Krise.
 

Editorische Hinweise

Wir erhielten die Rezension von U.Leicht für diese Ausgabe. Erstveröffentlichung erfolgte bei www.labournet.de

Ulrich Leicht, Vorstandsmitglied bei LabourNet, Rentner, Industriebuchbinder, langjähriger BR-Vorsitzender, gesellschaftskritischer Aktivist in der IG-Druck, IG Medien, zuletzt ver.di und bei der Gewerkschaftslinken, ehemals Mistreiter in den Projekten „Krisis“ und „Exit“ und Mitglied im Berliner Verein zu Förderung der MEGA-Edition e.V.