Thesen der SAV-Bundesleitung zum Kosova

11-2014

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Vorbemerkung:

Am 31. Oktober 2014 wurde hier bei TREND ein Beitrag veröffentlicht, der mit „Antwort zu den Thesen der SAV Bundesleitung zu Kosova – 'Was lange währt, ist längst nicht gut'“ überschrieben ist und von Max Brym verfasst wurde. Das besagte Thesenpapier der SAV vom 25. September gibt es jetzt hier zum Nachlesen.

In seiner Einleitung konstatiert Max, dass im letzten Mitgliederrundbrief der SAV nur die Thesen der SAV-Bundesleitung veröffentlicht wurden, seine Antwort hingegen nicht. Das lag schlicht und ergreifend daran, dass wir Max' Text nicht erhalten hatten. Es kann keine Rede davon sein, dass „die SAV kein Interesse an einer demokratischen Debatte innerhalb der Organisation“ hat. Von einem „internen Schreiben der SAV zu Kosova und gegen meine Person“ ist uns nichts bekannt.

SAV-Thesenpapier vom 25. September 2014
 

1. Wie wir in unseren Briefen an den OGV München vom Sommer 2013 und vom Mai 2014 geschrieben haben, gehört auch unsere Haltung zum Kosova zu den Fragen, wo Diskussionsbedarf existiert. Mit diesem Thesenpapier wollen wir versuchen, die für unsere Debatte zentralen Fragen herauszuarbeiten. Von daher hat dieser Text keinen Anspruch, ein umfassendes Bild von Geschichte, aktueller Lage und unserer Positionierung in allen Fragen, die das Kosova betreffen, zu geben. Da es vor allem zur Einschätzung der Organisation LPV („Bewegung für Selbstbestimmung“) und zur Nationalen Frage, konkret zu unserer Einstellung im Hinblick auf die serbische Minderheit Klärungsbedarf besteht, wollen wir uns darauf konzentrieren. Dieses Thesenpapier knüpft auch an den Artikel „Die aktuelle Lage im Kosova und die Position von MarxistInnen“ an, den wir im August 2011 veröffentlicht haben.

Zur Geschichte und zur aktuellen politischen Lage

2. Die Geschichte der albanischen Bevölkerungsmehrheit im Kosova (wie das Gebiet auf albanisch genannt wird) ist eine Geschichte der Unterdrückung. Erst wurden die dort lebenden Menschen vom Osmanischen Reich niedergehalten, dann von Serbien – sowohl unter kapitalistischen als auch unter stalinistischen Vorzeichen.

Die Jahrhunderte andauernde osmanische Herrschaft, die eine Islamisierung der AlbanerInnen zur Folge hatte, wurde 1912, zur Zeit des Ersten Balkankriegs, durch Serbien abgelöst. Zu diesem Zeitpunkt stellten die AlbanerInnen längst die Bevölkerungsmehrheit. Viele SerbInnen waren nach der Unabhängigkeit Serbiens 1878 dorthin zurückgegangen (1690 hatte es bereits einen ersten größeren Exodus gegeben).

Auch wenn der multiethnische Partisanenkampf gegen den Faschismus und die ökonomische Entwicklung in den ersten Jahrzehnten der bürokratischen Planwirtschaft die nationalen Widersprüche in wichtigen Teilen der Arbeiterklasse zurückgedrängt hatten und sich bei vielen sogar ein jugoslawisches Nationalbewusstsein entwickelt hatte, wurde die Nationale Frage unter Tito jedoch nie gelöst und gab es keine wirklich harmonische Entwicklung der verschiedenen ethnischen Gruppen. Nachdem die Nationale Frage im Stalinismus ungelöst blieb, bedienten sich die dortigen Herrschenden im Zuge der kapitalistischen Restauration der Spaltungspolitik, um ihre Macht zu festigen. 1989 ließ Milosevic den Autonomiestatus des Kosova einschränken. In den Folgejahren kam es zu Boykotthandlungen und Enteignungsmaßnahmen gegen AlbanerInnen.

3. Ein klassisches Merkmal von Kolonialpolitik ist die Beschränkung der Wirtschaft auf bestimmte Primärprodukte, eine einseitige Ausrichtung auf einzelne rohstofferzeugende Produktionszweige. Das traf das ganze letzte Jahrhundert auch auf das Kosova zu. Bis heute dominiert die Landwirtschaft. Im Zuge der Wiedereinführung des Kapitalismus halbierte sich in den neunziger Jahren die Produktivität.

4. Bis Ende der Neunziger spitzte sich die ökonomische, soziale und politische Krise (mitsamt einer Forcierung von Enteignungen von AlbanerInnen) dramatisch zu. Diese Entwicklung mündete in den Kosova-Krieg 1999. Danach kam das Kosova unter UN-Hoheit und erhielt faktisch den Status eines Protektorats.

5. 2008 wurde das Kosova mit seinen heute 2,1 Millionen Menschen offiziell unabhängig. Allerdings kann von wirklicher Selbstbestimmung der Bevölkerung nicht gesprochen werden. Bis heute hält die Präsenz der NATO in Form der KFOR-Truppen an, die EULEX (die sogenannte Rechtsstaatlichkeitsmission der EU) hat über etliche Institutionen das Sagen.

Die neue kosovarische Regierung verfügt keine Kontrolle über den weitgehend serbischen Norden des Kosova. Serbien selber betrachtet das Nord-Kosova als autonome Provinz der eigenen Republik.

6. Zunächst war die Demokratische Liga des Kosovo (LDK) unter Rugova (Präsident 2002-2006) im Kosova die stärkste Partei, danach gewann die Demokratische Partei des Kosovo (PDK) die Oberhand, deren Vorsitzender heute der ehemalige UCK-Oberkommandierende Thaci ist. Seit 2008 ist Thaci Regierungschef. Die Konkurrenz dieser beiden Parteien drückt letztendlich den Machtkampf zweier bürgerlicher Eliten in der Region aus. 2010 kam die PDK auf 32 Prozent und die LDK auf 25 Prozent. Bei der vorgezogenen Wahl am 8. Juni erhielt die PDK 31 Prozentpunkte, die LDK 26 Prozent. Dass die Wahlbeteiligung von 47,5 Prozent 2010 auf 41,6 Prozent 2014 nochmal weiter zurückging, unterstreicht die Ablehnung des Establishments durch weite Teile der Bevölkerung.

7. Neben der Stationierung von 2.500 ausländischen Soldaten (von denen die Bundeswehr mit 800 Soldaten bis heute das größte Kontingent stellt) macht den Menschen im Kosova die Ausplünderung des Landes durch meist multinationale Konzerne zu schaffen. Die Region gleicht einem neoliberalen El Dorado. In kaum einem anderen Abschnitt Europas können Kapitalisten so frei schalten und walten, wenn es um Privatisierungen und „Rosinenpickerei“ geht. In kaum einem anderen Abschnitt Europas ist das soziale Elend so ausgeprägt. Die Arbeitslosigkeit beträgt 50 Prozent. Wobei die eigentliche Arbeitslosenquote sogar noch höher liegt, da von den etwa eine Million Erwerbsfähigen nur 325.000 einen Job haben. Vor allem die Jugendarbeitslosigkeit ist erschreckend – in einem Land, in dem fast die Hälfte der Bevölkerung 18 Jahre und jünger ist.

LPV („Bewegung für Selbstbestimmung“)

8. Die Organisation LPV („Vetevendosje“), die aus dem Kosovarischen Aktions-Netzwerk (KAN) hervorging, wurde 2005 gegründet.

Sie konnte sich maßgeblich auf radikalisierte Jugendliche stützen, die für die Unabhängigkeit des Kosova kämpften. Ihr bis heute populärster Repräsentant ist Albin Kurti, der Ende der neunziger Jahre Sekretär vom politischen Kopf der UCK und – wie andere der LPV-Kräfte – von maoistischen Ideen beeinflusst war. 1997 und 1999 gehörte Albin Kurti zu den AnführerInnen von Großprotesten gegen Milosevic – was ihn 1999 eine 20-jährige Haftstrafe einbrachte, die mit dem Sturz von Milosevic endete.

Später protestierten viele Studierende und andere gegen die UN- und EU-Besatzung. 2007 wurden dabei zwei Demonstranten von Sicherheitskräften erschossen – und Kurti erneut verhaftet. 2009 konnten bei ähnlichen Protesten zweimal an die 70.000 Menschen mobilisiert werden.

Bei den Wahlen 2010 holte die LPV 12,7 Prozent. Im Juni 2014 konnte sie sich (allerdings bei einer rückläufigen Wahlbeteiligung) leicht auf 13,6 Prozent verbessern.

9. Die LPV ist in den letzten Jahren in Widerspruch mit der pro-kapitalistischen und korrupten Thaci-Regierung geraten. Sie greift nicht nur nationale, sondern auch soziale Forderungen auf.

10. Im Kern stellte die LPV in den Jahren nach ihrer Gründung eine kämpfende nationalistische Organisation dar. Hauptziel war und ist die völlige Unabhängigkeit sowohl von der UN als auch von Serbien.

In ihrem „100-Punkte-Programm“ spricht sich die LPV für ein öffentliches Bildungs- und Gesundheitssystem aus. Allerdings tritt sie nicht konsequent für eine öffentliche Daseinsvorsorge ein. Vielmehr lehnt sie weitere Privatisierungen ab und plädiert in bestimmten Fällen für eine Rücknahme solcher Verkäufe. Letztendlich strebt sie eine Mischwirtschaft an, in der ein öffentlicher neben einem privaten Sektor bestehen soll.

Im Wahlkampf 2014 trat sie für eine progressive Besteuerung ein. Bis heute gelten Steuersätze von fünf und zehn Prozent. Zudem sollen alle, die weniger als 170 Euro im Monat zur Verfügung haben, von steuerlichen Abgaben befreit werden.

Zudem argumentiert sie für eine bürgerliche Demokratie (mit Gewaltenteilung, Parlamentarismus, bürgerlichem Staatsapparat etc.).

Darüber hinaus stellt die LPV die Forderung auf, dass der Kosova in die EU und in die NATO aufgenommen werden soll.

11. Kernforderung der LPV ist weiterhin die komplette Unabhängigkeit des Kosova. Außerdem strebt sie an, dass der Kosova (mittels Verfassungsänderungen und einem Referendum) Teil Albaniens wird.

Der serbischen Minderheit werden Bürgerrechte zugestanden, sowie das Recht auf eine eigene Kultur und Religion. Mehr jedoch nicht. Von besonderen Schutzrechten für die Minderheit ist nicht die Rede.

12. Organisationen beurteilen wir nie ausschließlich auf Basis ihres Programms. Neben der Programmatik wird der Charakter von Organisationen und Parteien auch von ihren Wurzeln, der sozialen Basis, der Politik und der Entwicklungsrichtung bestimmt.

Sicherlich existieren unterschiedliche Kräfte in der LPV. Doch hat der Bewegungscharakter offensichtlich in den letzten Jahren an Bedeutung eingebüßt, während die Parlamentsfraktion an Gewicht gewonnen hat.

Relevante Kräfte gehören selber zum bürgerlichen Lager und scheinen nicht deshalb in Opposition zu PDK und LDK zu stehen, weil sie fundamentale inhaltliche beziehungsweise ideologische Differenzen haben, sondern weil sie sich beim Streit um Einfluss, Kapital, Macht zu kurz gekommen wähnen. Dazu kommt, dass sie nicht grundsätzlich Privatisierungen ablehnen, sondern primär dagegen sind, dass sich ausländische Unternehmen Betriebe und Ressourcen unter den Nagel reißen.

13. Offensichtlich stellte die LPV, mangels anderer Kräfte, für Teile der Jugend und der Arbeiterklasse in den vergangenen Jahren einen Bezugspunkt dar. Wobei das in den letzten drei, vier Jahren abgenommen hat. Von daher würden wir, sollten wir in der Region vertreten sein, versuchen, ArbeiterInnen und Jugendliche, die sich (noch) auf die LPV orientieren, zu erreichen. Aber wir würden uns sicherlich nicht ausschließlich darauf konzentrieren. Wesentlich wäre es, die Prozesse in den Gewerkschaften zu verfolgen und offen für neue Kräfte zu sein.

Die LPV ist heute eine bürgerlich-nationalistische Organisation, die für die soziale Marktwirtschaft eintritt und das Land in die EU sowie in die NATO aufgenommen sehen möchte. Angesichts dieser Positionen und ihrer Entwicklungsrichtung halten wir es für falsch, heute offen zur Wahl der LPV aufzurufen (wie Max das auf „kosova-aktuell“ gemacht hat). Stattdessen wäre es beim jetzigen Stand der Dinge richtig, allgemeine Aussagen zur Wahl zu treffen und Vorschläge zu machen (also so etwas wie „Wahlprüfsteine“ aufzustellen). Denkbar wäre es, einzelne KandidatInnen gezielt zu unterstützen.

14. Wir haben den Eindruck, dass Max die Kräfte in der Organisation, die stärker auf die Arbeiterklasse orientieren beziehungsweise für sozialistische Ideen offen sind, überschätzt. Sicher gibt es verschiedene Flügel in der LPV, doch muss man die Verschiebungen und Veränderungen der Formation wahrnehmen. Abgesehen davon, dass wir anders als Max einen Wahlaufruf sowie eine direkte Wahlkampfunterstützung für falsch halten, sind wir auch der Ansicht, dass es ein Fehler ist, in einem Wahlaufruf gar nicht auf die LPV-Positionen zur EU und zur NATO einzugehen.

15. Obwohl Thaci und seine PDK aus der Parlamentswahl mit knapp 31 Prozent als stärkste Kraft hervorgingen, werden sie nun aller Voraussicht nach ihre Regierungsämter einbüßen. Denn in den Wochen nach der Wahl haben sich mehrere oppositionelle Parteien unter Führung der konservativen LDK zusammen getan, um an die Stelle der Thaci-Administration zu treten.

Die LDK sowie die beiden weiteren Formationen AAK und Nisma (deren Spitzenkandidat unter Thaci Transportminister war), die rasch nach der Wahl ankündigten, gemeinsam die neue Regierung bilden wollen, erhielten bei der Wahl 41 Prozent. Angesichts dessen stellte die Führung der LPV die Weichen dafür, mit diesen Kräften zusammen auf den Regierungsbänken Platz zu nehmen. Zu Beginn der Sondierungen nannte die LPV-Spitze eine Beendigung des Privatisierungsprozesses, eine Absage an weitere Verhandlungsgespräche mit Serbien sowie eine Offenlegung aller unter EU-Regie geschlossenen Verträge als Bedingungen für den Eintritt in die Regierung.

Dass sich die maßgeblichen Kräfte in der LPV bereit zeigen, schon jetzt so weit zu gehen, bestätigt unsere Charakterisierung dieser Formation. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Albin Kurti selber in ein paar Jahren zum Chef einer bürgerlich-nationalistischen Regierung im Kosova aufsteigt. Die innerparteiliche Opposition gegen diesen Kurs scheint sich in Grenzen zu halten.

Auf „kosova-aktuell“ wurden in den ersten vier Wochen nach der Wahl lediglich zwei Artikel veröffentlicht, die sich zur Frage einer Regierungsbeteiligung der LPV positionieren. Der Beitrag von Genc Mustafa vom 4. Juli „Stürzt Thaci – Für eine Regierung der nationalen Rettung“ beantwortet die Frage positiv, der andere Artikel von Ilir Berisha vom 3. Juli „Kosova – Warum ich gegen eine Koalitionsregierung bin“ negativ. Max verfasste am 30. Juni einen zusätzlichen Beitrag. „Eine 'Expertenregierung' in Kosova ist ein koloniales Produkt“ beschränkt sich auf eine Kritik an der EU, die sich in einem öffentlich gewordenen Strategiepapier für eine „Regierung von Technokraten“ ohne Beteiligung der LPV aussprach. Selbst der Beitrag von Ilir Berisha „Kosova – Warum ich gegen eine Koalitionsregierung bin“ lehnt im übrigen zwar eine Koalition mit LDK und Co. ab, bricht aber eine Lanze für ein Tolerierungsmodell – was nichts anderes als eine andere Form von Regierungsbeteiligung darstellt. In dem Leserbrief „Für eine radikale linke“ von Ilir C. datiert vom 17. September wird die Regierungsbeteiligung der LPV dezidiert abgelehnt, eine Sozialdemokratisierung kritisiert und ein sozialistisches Programm gefordert, aber keine Strategie für die linke und die Arbeiterbewegung vorgebracht – sondern an der LPV festgehalten, ohne indes substanzielle Kräfte innerhalb der Formation beziehungsweise in ihrem Umfeld zu benennen, die für solch einen Kurswechsel kämpfen könnten.

Die serbische Minderheit

16. Die Weltbank gibt an, dass im Kosova 88 Prozent Kosova-AlbanerInnen leben, sieben Prozent SerbInnen und die übrigen fünf Prozent weiteren ethnischen Minderheiten wie TürkInnen, Roma und BosnierInnen zuzurechnen sind. Während die SerbInnen heute keine zehn Prozent stellen, machen der Norden sowie die serbischen Enklaven (darunter auch im Süden des Kosova) etwa ein Viertel des gesamten Territoriums aus.

17. Bis ins 19. Jahrhundert hinein wurde das West-Kosova mehrheitlich von AlbanerInnen bewohnt, das Ost-Kosova (das auch als der „historische Kern“ betrachtet wird) hingegen überwiegend von SerbInnen. Nach der Unabhängigkeit Serbiens 1878 änderte sich das, viele SerbInnen wanderten aus; seit gut hundert Jahren, auf alle Fälle seit Beginn der Herrschaft Serbiens über das Kosova, waren AlbanerInnen klar in der Mehrheit.

18. Die serbische Minderheit beläuft sich heute auf maximal 150.000 der gut zwei Millionen Menschen auf dem Gebiet des Kosova. Im Krieg 1999 wurden 200.000 SerbInnen und Roma vertrieben, von denen bei weitem nicht alle zurückgekehrt sind. 2004 kam es zu pogromähnlichen Angriffen gegen die serbische Minderheit.

19. Gesundheits- und Bildungssystem sowie weitere Einrichtungen im Norden werden aus Serbien finanziert und funktionieren wie in der Nachbarrepublik. Zwar bekommen LehrerInnen, ÄrztInnen und andere Berufsgruppen im Norden des Kosova ihren Lohn vom serbischen Staat. Zudem bezieht die ohnehin überwiegend ältere Bevölkerung im Nord-Kosova, aber noch mehr in den serbischen Enklaven im Süden ihre Rente aus Serbien. Es stimmt aber nicht, dass das Gros der dortigen Menschen ihr Einkommen durch den serbischen Staatsapparat bezieht.

Auch im Norden leben 15 Prozent in Armut, zwölf Prozent sind erwerbslos. Diese Themen werden in Umfragen als brennende Fragen angegeben. Das hat in den letzten Jahren noch zugenommen, nicht zuletzt weil 2010 der sogenannte Kosovo-Zuschlag für serbische Beschäftigte im Nord-Kosova auf Grund von „Sparmaßnahmen“ gestrichen wurde.

20. Bei Kämpfen zwischen SerbInnen und der albanischen Polizei sowie der KFOR im Juli 2011 kam ein kosovarischer Polizist ums Leben. Zu diesen Konflikten war es gekommen, nachdem der kosovarische Staatsapparat versucht hatte, über die Außengrenzen im Norden die Kontrolle zu gewinnen – um den Handel zwischen Serbien und dem Nord-Kosova zu unterbinden beziehungsweise einzudämmen. Die LPV rief seinerzeit zur Mobilmachung auf, um die Grenze zu verteidigen.

Die LPV trat für einen Rückzug der KFOR-Truppen ein sowie für eine Übergabe der Kontrolle an den kosovarischen Staatsapparat – womit sie einen Appell an den bürgerlichen Staat richtete. Diese Politik haben wir damals kritisiert. Wir haben in dem Artikel „Die aktuelle Lage im Kosova und die Position von MarxistInnen“ 2011 erklärt, dass wir bei Konflikten zwischen bürgerlichen kosovarischen Staatsorganen und serbischen Staatsorganen keine Partei ergreifen.

21. Als MarxistInnen treten wir für das Recht auf Selbstbestimmung bis hin zur Unabhängigkeit ein. Mitunter kann das sogar eine Annäherung der arbeitenden Bevölkerung zweier Nationalitäten befördern – wie im Falle der Trennung von Schweden und Norwegen 1905. Auch im Hinblick auf Finnland war es vor hundert Jahren wichtig, dass die Bolschewiki unmissverständlich für das Recht auf Selbstbestimmung eintraten, um das Verhältnis zwischen den ArbeiterInnen Finnlands und Russlands zu verbessern.

Allerdings warnen wir vor Illusionen in eine Unabhängigkeit auf kapitalistischer Basis. Zumal der kosova-albanische Nationalismus in den letzten Jahren einen Doppelcharakter bekommen hat: auf der einen Seite (gegenüber den SerbInnen und anderen Minderheiten) tonangebend in Staat und Gesellschaft, den Anschluss an Albanien anstrebend, auf der anderen Seite weiter gegängelt durch KFOR und ELEX.

Außerdem treten wir neben dem Selbstbestimmungsrecht der Kosova-AlbanerInnen auch für das Recht der SerbInnen im Norden des Kosova auf Selbstbestimmung und die Möglichkeit, über eine Zugehörigkeit zum Kosova beziehungsweise zu Serbien selber entscheiden zu dürfen, ein. Eine allgemeine Zusicherung auf Bürgerrechte sowie auf eine eigene Kultur und Religion reichen nicht aus.

Die serbische Minderheit befürchtet heute, in einem unabhängigen Kosova zu einer diskriminierten Minderheit degradiert zu werden, die als Sündenbock herhalten muss. Um ihnen diese Angst zu nehmen, sind Angebote an die SerbInnen im Nordteil in Richtung einer gemeinsamen Lösung nötig. Hier müssen konkrete Forderungen entwickelt und getestet werden, wie eine gemeinsame Kommission von ArbeiterInnen beider Nationalitäten zur Kontrolle über die natürlichen Reichtümer beispielsweise der Mine Trepca, Vorschläge zu Grenzkontrollen, zum Rückkehrrecht, zum gemeinsamen multi-ethnischen Kampf gegen Sozialabbau und Privatisierungen sowie für eine sozialistische Föderation in der gesamten Region.

Diskutiert werden sollten Fragen wie die Wahl einer demokratischen verfassungsgebenden Versammlung der arbeitenden (und erwerbslosen) Bevölkerung sowie der verarmten Bauernschaft. Wichtig ist es derweil, für den Aufbau kämpferischer, multi-ethnischer Gewerkschaften und die Schaffung einer Arbeiterpartei mit sozialistischem Programm einzutreten.

22. Wir müssen konstatieren, dass die LPV die Frage der serbischen Minderheit ignoriert beziehungsweise sich darauf beschränkt, ihnen Bürgerrechte zuzugestehen. Bestimmte Aktivitäten wie zum Beispiel die Wahlkampfveranstaltung mit dem reaktionären US-Diplomaten William Walker 2010 (der 1998/99 Chef der OSZE-Mission war und dem NATO-Bombardement den Weg geebnet hatte), ausgerechnet in Mitrovica, müssen als besondere Provokation aufgefasst werden.

23. Leider bleibt Max in seiner Auseinandersetzung mit der serbischen Minderheit sehr allgemein, plädiert abstrakt für einen Minderheitenschutz, entwickelt jedoch keine Vorschläge, wie auf die Ängste der serbischen Minderheit konkret eingegangen werden sollte.

Mehr noch: Wenn Max in seinen zahlreichen Artikeln die Frage von Vertreibung aufgreift, so beschränkt er sich hierbei weitgehend auf das Schicksal der AlbanerInnen und geht über die negativen Erfahrungen der SerbInnen einfach hinweg. Das trifft zum Beispiel auf den Artikel „Nord-Kosova: Versuch einer marxistischen Analyse“ vom 19. Dezember 2011 zu. Darin heißt es: „Im Norden Kosovas, ab der geteilten Stadt Mitrovica, leben circa 40.000 Serben. Genaue Zahlen hierzu gibt es nicht. Neben den Serben leben in Nord-Kosova aber auch noch einige tausend Albaner. Die Albaner sind zweifellos in der Minderheit. Wie kam es zu dieser Situation? Im Januar 2000 wurden unter den Augen des französischen Militärs 11.200 Albaner aus dem Norden Kosovas vertrieben.“ Und weiter: „Die serbische Mehrheit in Nord-Kosova hat das Recht, ohne jegliche Unterdrückung in Kosova zu leben. Es darf allerdings mit diesem Recht kein Schindluder auf der Basis der ethnischen Säuberung betrieben werden. Die Vertreibungen aus Nord-Kosova fanden in jüngster Zeit statt. Völlig abgesehen von den historischen Vertreibungen, welche in der jüngsten Geschichte ein Alexander Rankovic unter dem Stichwort „Entwaffnung“ betrieb. In den fünfziger Jahren wurden 300.000 Albaner von Rankovic in die Türkei vertrieben.“

Die Vertreibung der 200.000 SerbInnen und Roma Ende der neunziger Jahre und die pogromähnlichen Angriffe gegen die serbische Minderheit tauchen in dem besagten Artikel von Max, wie auch in vielen anderen, in denen er sich mit der Vertreibungspolitik in der Region beschäftigt) nicht auf.

In seinen Darstellungen schwingt eine antiserbische und gleichzeitig pro-albanische Tendenz mit.

24. Von daher sehen wir gerade bezüglich unserer Haltung zur LPV als auch im Hinblick auf die Nationale Frage Diskussionsbedarf. Wir hoffen, dass dieses Thesenpapier hilft, die derzeit bestehenden Unterschiede zu klären und in der Entwicklung unserer Position zum Kosova weiterzukommen.

Editorische Hinweise

Wir erhielten den Text von den AutorInnen mit der Bitte um Veröffentlichung.