Karl Marx und
Friedrich Engels bedienten sich – in der Presse wie auch bei
mündlichen Ausführungen – umfassend der Polemik; sie
diskutierten leidenschaftlich und benutzten die Waffe der
Polemik glänzend im Kampf gegen ideologische Gegner, zur
Gewinnung und Überzeugung von Anhängern, zur Eroberung der
Massen.
„Ohne
Diskussionen, Dispute und Meinungsstreit ist keine Bewegung,
auch keine Arbeiterbewegung möglich“[1],
sagte der Gründer der Partei, W. I. Lenin.
Wie Lenin in seinem Referat über die nächsten Aufgaben der
Sowjetmacht bemerkte,
„lässt sich,
glaube ich, in polemischer Form am anschaulichsten das
bekräftigen, was ich in positiver Form in dem Artikel ... zu
umreißen versucht habe“
[2].
Lenin
hinterließ uns lebendige Beispiele revolutionärer Propaganda und
Überzeugungskunst.
Die Kunst der
Polemik
lehrte Lenin die Teilnehmer der marxistischen Arbeiterzirkel,
die er 1893 bis 1894 in Petersburg leitete. In seinen
Erinnerungen erzählt I. W. Babuschkin, Wladimir Iljitsch habe
sich oft bemüht,
„bei uns entweder
Widerspruch oder den Wunsch zu einem Streitgespräch zu wecken;
dann stachelte er einen auf, einem anderen die Richtigkeit
seines Standpunktes zu irgendeiner Frage zu beweisen. Dadurch
bekamen unsere Vorlesungen sehr lebendigen, interessanten
Charakter und feilten an der Redegewandtheit; diese
Unterrichtsmethode war das beste Mittel, um eine Frage durch die
Hörer klären zu lassen.“
[3]
Die Polemik ist
ein wichtiges Mittel zur Überzeugung der Menschen, ein
notwendiges Element propagandistischen Könnens.
Das Ziel
der
Propaganda
besteht darin, überzeugte und aktive Kämpfer für den Kommunismus
heranzubilden;
Kämpfer, die
nicht blind glauben,
sondern auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnis;
Menschen, die sich gegenüber der Theorie kritisch verhalten und
sie an der Praxis überprüfen, die die Lebenserfahrungen
analysieren und fähig sind, überzeugt für ihre Ideen zu kämpfen.
Im aktiven
Prozess der Polemik,
bei der kollektiven gedanklichen Verarbeitung von Kenntnissen,
Erfahrungen und Meinungen, vertieft sich das Interesse am
Gegenstand der Wissenschaft, entwickelt und
schärft sich
das Denken, erweitert sich der Horizont,
eröffnen sich neue Aspekte der Erscheinungen,
erhält der
Geist Nahrung.
Fähigkeit zum
Argumentieren entwickeln
Die Polemik
belebt den Lernprozess, stellt den Kontakt zwischen dem
Propagandisten und den Teilnehmern, das heißt die
„Rückkopplung“, sicher und
entwickelt die
Fähigkeit, zu überzeugen
und zu beweisen, dass ein Standpunkt richtig oder falsch ist.
Die Polemik
weckt Emotionen, beeinflusst die Gefühle der Gesprächspartner in
den Streitgesprächen und Diskussionen positiv. All das
festigt das
Wissen, formt die persönlichen Überzeugungen,
vermittelt ideologische Stählung und hilft, die von der Partei
gestellten Aufgaben zu lösen.
Das System der
politischen Schulung ist die Basis der Ausbildung von Agitatoren
und Politinformatoren. Dem angehenden Agitator fehlt es oft an
Erfahrungen in gesellschaftspolitischer Arbeit und an
rednerischen Fähigkeiten. Seine Argumentation ist häufig arm,
vereinfacht und problemlos; er sagt „man muss!“ und erklärt
nicht, warum. –
Im Rahmen der
politischen Schulung entwickeln sich allmählich die Fähigkeiten
und notwendigen Fertigkeiten. Die Atmosphäre ist deshalb
günstig, weil hier der gewohnte Kreis von Genossen
zusammentrifft, Streitgespräche in Gegenwart eines erfahrenen
Parteifunktionärs ausgetragen werden, der freundschaftlich
korrigiert und hilft, und weil man schließlich das Recht hat,
einen Fehler zu machen, ohne befürchten zu müssen, dass er als
politischer Fehltritt gewertet wird.
Bedeutung
kollektiver Veranstaltungen für das Selbststudium
Die Vorzüge der Polemik machen sich auch beim politischen
Selbststudium nach individuellen Plänen geltend.
Für Menschen,
die die marxistisch-leninistische Theorie selbständig studieren,
sind kollektive Veranstaltungen – theoretische Diskussionen,
Konferenzen, Gruppenkonsultationen usw. – so notwendig wie die
Luft zum Atmen.
Solche Zusammenkünfte haben einen realen Sinn, wenn sie sich auf
komplizierte und problematische Fragen konzentrieren, die
erörtert und geklärt werden. Ist dies nicht der Fall, büßt das
Selbststudium viele Vorzüge ein.
Diskussion und Polemik bedeuten nicht immer, dass ein Problem
unklar ist und wesentliche Meinungsverschiedenheiten
unvermeidlich sind.
Eine
schöpferische Diskussion
hilft, eine Frage oder das Unterrichtsthema intensiver zu
behandeln, Meinungsnuancen herauszuarbeiten, den Gegenstand
allseitig zu betrachten und das Allgemeine mit dem Konkreten zu
verbinden.
Denkende
Menschen lieben Streitgespräche.
Aber sie streiten auch über Fragen, die eigentlich keiner
Diskussion bedürfen, da sie von der Wissenschaft gelöst und von
der gesellschaftlichen Praxis überprüft sind. Doch nicht jedem
ist dies bekannt. Es ist nicht ausgeschlossen, dass auch
Teilnehmer an der Partei- und Wirtschaftsschulung subjektive und
mitunter verworrene Ansichten haben. Aber sie wollen sie
diskutieren, über sie streiten und sich von der Wahrheit
überzeugen. Warum auch nicht?
Selbständiges
Überlegen und Aufdecken von Fehlern im Verlauf der Diskussion
überzeugt weitaus nachhaltiger als hastige, gedankenlose
Zustimmung zu einer kategorischen Behauptung des Lehrers.
Ihre eigenen Lebenserfahrungen, Gedanken und Zweifel bringen die
Menschen in die Parteischulung {...} und der Propagandist hilft
ihnen, sich zurechtzufinden, die Wahrheit zu suchen und sich von
ihr zu überzeugen.
In offener,
polemischer Aussprache erörtert das Kollektiv nicht nur das, was
der Lehrplan vorsieht, sondern stellt die Fragen umfassender und
schärfer.
Auf der Grundlage der marxistisch-leninistischen Theorie und der
objektiven Information formt sich im Kollektiv die öffentliche
Meinung.
Leider verspüren noch nicht alle Propagandisten das innere
Bedürfnis nach Streitgesprächen, halten sich nicht alle an das
gute Sprichwort:
Liebe nicht den Schmeichler, liebe den Kritiker.
Wenn ein
Genosse {...} – theoretisch nicht gefestigt und sozusagen im
warmen Schneckenhaus der Schulung aufgewachsen – auf einen
ideologischen Gegner, Spießer oder Demagogen trifft, ist er
außerstande, aktuelle Fragen zu beantworten: Bücherweisheit
allein hilft ihm da nicht.
Streitgespräch
und Auseinandersetzung
In
Streitgesprächen und Diskussionen geht es natürlich nicht ohne
polemische Extreme, unüberlegte Gedanken und mitunter falsche
Ansichten ab. Anders kann es auch gar nicht sein, denn worüber
sollte man diskutieren, wäre alles eindeutig und jedermann
einverstanden. Es kann unbegründete, nicht überzeugende
Behauptungen, Abweichungen von der eigentlichen Frage, manchmal
auch falsche, trügerische Argumente geben, die auf einzelnen,
aus dem Zusammenhang gerissenen Seiten einer Erscheinung
aufbauen; kurzum, im Grunde falsche Ansichten.
Der Propagandist, der die Reinheit der
marxistisch-leninistischen Lehre verteidigt, revisionistischen
und dogmatischen Ansichten eine entscheidende Abfuhr erteilt und
jegliche Erscheinungsform der bürgerlichen Ideologie entlarvt,
„wettert“ indessen nicht gegen einen Unwissenden, der sich guten
Glaubens irrt. Er erblickt keinen bösartigen Demagogen in einem
Zirkelteilnehmer, der in Wirklichkeit nur die Orientierung
verloren hat. Aber er überhört auch keine Zwischenbemerkung, die
einen grundsätzlich falschen Gedanken ausdrückt, und schweigt
nicht, wenn eine Entgegnung notwendig ist.
Ein Demagoge
wird nicht durch Anschnauzen, sondern durch den überzeugenden
und leidenschaftlichen Beweis entwaffnet.
Beim schöpferischen Denken lassen sich Fehler nicht vermeiden.
Es gab und gibt sie auch weiterhin infolge des Mangels an Wissen
und Lebenserfahrung sowie infolge der beispielsweise für die
Jugend charakteristischen Hitzigkeit und Übereiltheit des
Urteils. Seit Jahrhunderten gilt die Volksweisheit
„Aus Fehlern
lernt man“
und
„Irren ist menschlich“.
Fürchten sollte
man weniger die Fehler als ihr „Steckenbleiben“ im Bewusstsein
der Menschen, denn wenn sie nicht ausgesprochen werden, kann man
sie nicht klären und korrigieren.
Lenin zeichnete
sich stets durch Unversöhnlichkeit gegenüber politischen Gegnern
und Feinden der Revolution aus. Aber er erkannte zwischen einem
Feind und einem in die Irre gegangenen Genossen.
Ohne Prinzipien preiszugeben, verhielt sich Iljitsch seinen
Opponenten, Mitstreitern aus der Partei und den Schülern, der
Jugend gegenüber feinfühlig und vorsichtig. Es ist ein
Unterschied zwischen jenen, die sich anmaßen, andere zu belehren
und die nur verwirren, und solchen, die offen erklären, dass sie
noch lernen, führte Lenin in seiner Notiz
„Jugend-Internationale“ [4] aus.
Streitgespräche
im politischen Unterricht werden allmählich zur Gewohnheit. Sie
entstehen sowohl spontan, auf Initiative der Teilnehmer, als
auch auf Betreiben des Propagandisten.
Streitgespräche
lenken
Den Anlass für
ein Streitgespräch liefert häufig die Frage eines Genossen,
besonders eine aktuelle Frage, eine aufgegriffene fehlerhafte
Zwischenbemerkung oder eine falsche, unbewiesene Antwort, die
Widerspruch bei den Gesprächspartnern auslöst.
Der Unterrichtsleiter kann im Interesse der Sache nicht jeden
Disput, der sich aus einem zufälligen Anlass entwickelt,
aufgreifen.
Polemik ist
nicht an sich wertvoll, sondern dann, wenn sie bei der Aneignung
der Theorie und der Erarbeitung von Überzeugungen hilft.
Nicht kleinlicher und gegenstandsloser Streit, sondern ein
gezieltes, direkt oder indirekt mit dem zu studierenden
Gegenstand zusammenhängendes, auf jeden Fall
von den
gesellschaftspolitischen Problemen nicht losgelöstes
Streitgespräch bringt Nutzen.
Indessen hält sich ein schöpferischer Propagandist nicht an den
Plan wie die Lokomotive an die Schienen. Schon Peter I. befahl:
„Halte dich nicht
an die Vorschrift wie der Blinde an eine Wand.“
Hat der Propagandist bemerkt, dass sich die Teilnehmer für eine
plötzlich aufgeworfene wichtige, im Plan nicht vorgesehene Frage
interessieren, sollte er sie erörtern und den geistigen
Bedürfnissen der Teilnehmer Verständnis entgegenbringen.
Aufmerksam
beobachtet der Propagandist, was Ausgangspunkt für eine
Diskussion werden kann. Diskussionsgegenstand kann sowohl eine
theoretische Formulierung als auch ein praktisches Problem sein
(wenn beispielsweise bei irgend jemandem im Betrieb falsche
Ansichten zu einer wesentlichen Frage bestehen, obwohl es im
Unterricht nicht darum geht).
Am wertvollsten
ist es natürlich, Diskussionen zu Themen des Lehrplans zu
entfachen. In einer Schule der Grundlagen des
Marxismus-Leninismus beispielsweise kann zum Thema Übergang [vom
Kapitalismus zum Sozialismus bzw.] vom Sozialismus zum
Kommunismus der Seminarplan eine Diskussion über die Wege zur
Überwindung der wesentlichen Unterschiede zwischen Stadt und
Land, zwischen geistiger und körperlicher Arbeit einschließen,
während im Rahmen eines Seminars über politische Ökonomie die
Wege zur Verschmelzung der beiden Formen des sozialistischen
Eigentums diskutiert werden könnten usw.
Reichhaltiges
Material für Problemfragen und Diskussionen liefern Zeitungen
und Zeitschriften.
Diskussion
dient Erkenntnis und Erziehung
Eine Diskussion
soll
der Erkenntnis und Erziehung dienen,
das Wissen bereichern und den Horizont erweitern.
Dies macht eine gründliche Vorbereitung erforderlich. Viele
Propagandisten meinen, man solle nur ein bis zwei Redner zur
Einleitung einer Diskussion vorbereiten, aber nicht die gesamte
Diskussion „nach Noten“ vorschreiben.
M. I. Kalinin
riet:
„Die Leute
sollen streiten, und zwar nicht künstlich, sondern wirklich; das
heißt so, dass es dabei, wenn auch nicht gerade zu einer
,Rauferei’, so doch zu einer ernsthaften lebhaften
Auseinandersetzung kommt ... Bei einer solchen Lernmethode
dringt man am tiefsten in den Geist des Marxismus-Leninismus
ein.“
[5]
Im Verlauf der
Diskussion lenkt der Propagandist die Aufmerksamkeit auf
wirklich strittige und wesentliche Fragen, gleicht nicht aus und
ist gleichzeitig darum bemüht, dass sie beweisen und überzeugen,
nicht aber deklarieren und Formulierungen aus Büchern zum besten
geben.
Der Leiter hat
das Recht, zusammenzufassen. Von diesem Recht muss er überlegt,
taktvoll und ohne Aufdringlichkeit Gebrauch machen. Es ist
keinesfalls nötig, jede Äußerung bedingungslos zu akzeptieren
oder zurückzuweisen. Eine kurze Zwischenbemerkung, ein zum
richtigen Zeitpunkt eingeworfenes Wort und manchmal sogar eine
Geste können der Diskussion Richtung verleihen.»
[Eine
Modifikation, vgl.]
Anmerkungen
1 W. I. Lenin:
Zwei Methoden, zu disputieren und zu kämpfen. In: Werke, Bd. 19,
S. 487.
2 W. I. Lenin:
Tagung des Gesamtrussischen Zentralexekutivkomitees. In: Werke,
Bd. 27, S. 271.
3 I. W.
Babuschkin in: Erinnerungen an Lenin, Bd. 2. Moskau 1957. S. 37,
russ.
4 Siehe W. I.
Lenin: Werke, Bd. 23, S. 164-167.
5 M. I.
Kalinin: Über kommunistische Erziehung, S. 48/49.
Quelle:
Methodik der politischen Bildung. Dietz Verlag Berlin 1974
07.11.2014,
Reinhold Schramm (Bereitstellung) |