Zur Rolle der Polemik

Reinhold Schramm (Bereitstellung)

11-2014

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Karl Marx und Friedrich Engels bedienten sich – in der Presse wie auch bei mündlichen Ausführungen – umfassend der Polemik; sie diskutierten leidenschaftlich und benutzten die Waffe der Polemik glänzend im Kampf gegen ideologische Gegner, zur Gewinnung und Überzeugung von Anhängern, zur Eroberung der Massen.

Ohne Diskussionen, Dispute und Meinungsstreit ist keine Bewegung, auch keine Arbeiterbewegung möglich“[1], sagte der Gründer der Partei, W. I. Lenin.

Wie Lenin in seinem Referat über die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht bemerkte, „lässt sich, glaube ich, in polemischer Form am anschaulichsten das bekräftigen, was ich in positiver Form in dem Artikel ... zu umreißen versucht habe“ [2].

Lenin hinterließ uns lebendige Beispiele revolutionärer Propaganda und Überzeugungskunst.

Die Kunst der Polemik lehrte Lenin die Teilnehmer der marxistischen Arbeiterzirkel, die er 1893 bis 1894 in Petersburg leitete. In seinen Erinnerungen erzählt I. W. Babuschkin, Wladimir Iljitsch habe sich oft bemüht, „bei uns entweder Widerspruch oder den Wunsch zu einem Streitgespräch zu wecken; dann stachelte er einen auf, einem anderen die Richtigkeit seines Standpunktes zu irgendeiner Frage zu beweisen. Dadurch bekamen unsere Vorlesungen sehr lebendigen, interessanten Charakter und feilten an der Redegewandtheit; diese Unterrichtsmethode war das beste Mittel, um eine Frage durch die Hörer klären zu lassen.“ [3]

Die Polemik ist ein wichtiges Mittel zur Überzeugung der Menschen, ein notwendiges Element propagandistischen Könnens.

Das Ziel der Propaganda besteht darin, überzeugte und aktive Kämpfer für den Kommunismus heranzubilden; Kämpfer, die nicht blind glauben, sondern auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnis; Menschen, die sich gegenüber der Theorie kritisch verhalten und sie an der Praxis überprüfen, die die Lebenserfahrungen analysieren und fähig sind, überzeugt für ihre Ideen zu kämpfen.

Im aktiven Prozess der Polemik, bei der kollektiven gedanklichen Verarbeitung von Kenntnissen, Erfahrungen und Meinungen, vertieft sich das Interesse am Gegenstand der Wissenschaft, entwickelt und schärft sich das Denken, erweitert sich der Horizont, eröffnen sich neue Aspekte der Erscheinungen, erhält der Geist Nahrung.

Fähigkeit zum Argumentieren entwickeln

Die Polemik belebt den Lernprozess, stellt den Kontakt zwischen dem Propagandisten und den Teilnehmern, das heißt die „Rückkopplung“, sicher und entwickelt die Fähigkeit, zu überzeugen und zu beweisen, dass ein Standpunkt richtig oder falsch ist.

Die Polemik weckt Emotionen, beeinflusst die Gefühle der Gesprächspartner in den Streitgesprächen und Diskussionen positiv. All das festigt das Wissen, formt die persönlichen Überzeugungen, vermittelt ideologische Stählung und hilft, die von der Partei gestellten Aufgaben zu lösen.

Das System der politischen Schulung ist die Basis der Ausbildung von Agitatoren und Politinformatoren. Dem angehenden Agitator fehlt es oft an Erfahrungen in gesellschaftspolitischer Arbeit und an rednerischen Fähigkeiten. Seine Argumentation ist häufig arm, vereinfacht und problemlos; er sagt „man muss!“ und erklärt nicht, warum. –

Im Rahmen der politischen Schulung entwickeln sich allmählich die Fähigkeiten und notwendigen Fertigkeiten. Die Atmosphäre ist deshalb günstig, weil hier der gewohnte Kreis von Genossen zusammentrifft, Streitgespräche in Gegenwart eines erfahrenen Parteifunktionärs ausgetragen werden, der freundschaftlich korrigiert und hilft, und weil man schließlich das Recht hat, einen Fehler zu machen, ohne befürchten zu müssen, dass er als politischer Fehltritt gewertet wird.

Bedeutung kollektiver Veranstaltungen für das Selbststudium

Die Vorzüge der Polemik machen sich auch beim politischen Selbststudium nach individuellen Plänen geltend. Für Menschen, die die marxistisch-leninistische Theorie selbständig studieren, sind kollektive Veranstaltungen – theoretische Diskussionen, Konferenzen, Gruppenkonsultationen usw. – so notwendig wie die Luft zum Atmen. Solche Zusammenkünfte haben einen realen Sinn, wenn sie sich auf komplizierte und problematische Fragen konzentrieren, die erörtert und geklärt werden. Ist dies nicht der Fall, büßt das Selbststudium viele Vorzüge ein.

Diskussion und Polemik bedeuten nicht immer, dass ein Problem unklar ist und wesentliche Meinungsverschiedenheiten unvermeidlich sind. Eine schöpferische Diskussion hilft, eine Frage oder das Unterrichtsthema intensiver zu behandeln, Meinungsnuancen herauszuarbeiten, den Gegenstand allseitig zu betrachten und das Allgemeine mit dem Konkreten zu verbinden.

Denkende Menschen lieben Streitgespräche. Aber sie streiten auch über Fragen, die eigentlich keiner Diskussion bedürfen, da sie von der Wissenschaft gelöst und von der gesellschaftlichen Praxis überprüft sind. Doch nicht jedem ist dies bekannt. Es ist nicht ausgeschlossen, dass auch Teilnehmer an der Partei- und Wirtschaftsschulung subjektive und mitunter verworrene Ansichten haben. Aber sie wollen sie diskutieren, über sie streiten und sich von der Wahrheit überzeugen. Warum auch nicht? Selbständiges Überlegen und Aufdecken von Fehlern im Verlauf der Diskussion überzeugt weitaus nachhaltiger als hastige, gedankenlose Zustimmung zu einer kategorischen Behauptung des Lehrers.

Ihre eigenen Lebenserfahrungen, Gedanken und Zweifel bringen die Menschen in die Parteischulung {...} und der Propagandist hilft ihnen, sich zurechtzufinden, die Wahrheit zu suchen und sich von ihr zu überzeugen. In offener, polemischer Aussprache erörtert das Kollektiv nicht nur das, was der Lehrplan vorsieht, sondern stellt die Fragen umfassender und schärfer. Auf der Grundlage der marxistisch-leninistischen Theorie und der objektiven Information formt sich im Kollektiv die öffentliche Meinung.

Leider verspüren noch nicht alle Propagandisten das innere Bedürfnis nach Streitgesprächen, halten sich nicht alle an das gute Sprichwort: Liebe nicht den Schmeichler, liebe den Kritiker.

Wenn ein Genosse {...} – theoretisch nicht gefestigt und sozusagen im warmen Schneckenhaus der Schulung aufgewachsen – auf einen ideologischen Gegner, Spießer oder Demagogen trifft, ist er außerstande, aktuelle Fragen zu beantworten: Bücherweisheit allein hilft ihm da nicht.

Streitgespräch und Auseinandersetzung

In Streitgesprächen und Diskussionen geht es natürlich nicht ohne polemische Extreme, unüberlegte Gedanken und mitunter falsche Ansichten ab. Anders kann es auch gar nicht sein, denn worüber sollte man diskutieren, wäre alles eindeutig und jedermann einverstanden. Es kann unbegründete, nicht überzeugende Behauptungen, Abweichungen von der eigentlichen Frage, manchmal auch falsche, trügerische Argumente geben, die auf einzelnen, aus dem Zusammenhang gerissenen Seiten einer Erscheinung aufbauen; kurzum, im Grunde falsche Ansichten.

Der Propagandist, der die Reinheit der marxistisch-leninistischen Lehre verteidigt, revisionistischen und dogmatischen Ansichten eine entscheidende Abfuhr erteilt und jegliche Erscheinungsform der bürgerlichen Ideologie entlarvt, „wettert“ indessen nicht gegen einen Unwissenden, der sich guten Glaubens irrt. Er erblickt keinen bösartigen Demagogen in einem Zirkelteilnehmer, der in Wirklichkeit nur die Orientierung verloren hat. Aber er überhört auch keine Zwischenbemerkung, die einen grundsätzlich falschen Gedanken ausdrückt, und schweigt nicht, wenn eine Entgegnung notwendig ist. Ein Demagoge wird nicht durch Anschnauzen, sondern durch den überzeugenden und leidenschaftlichen Beweis entwaffnet.

Beim schöpferischen Denken lassen sich Fehler nicht vermeiden. Es gab und gibt sie auch weiterhin infolge des Mangels an Wissen und Lebenserfahrung sowie infolge der beispielsweise für die Jugend charakteristischen Hitzigkeit und Übereiltheit des Urteils. Seit Jahrhunderten gilt die Volksweisheit „Aus Fehlern lernt man“ und „Irren ist menschlich“. Fürchten sollte man weniger die Fehler als ihr „Steckenbleiben“ im Bewusstsein der Menschen, denn wenn sie nicht ausgesprochen werden, kann man sie nicht klären und korrigieren.

Lenin zeichnete sich stets durch Unversöhnlichkeit gegenüber politischen Gegnern und Feinden der Revolution aus. Aber er erkannte zwischen einem Feind und einem in die Irre gegangenen Genossen. Ohne Prinzipien preiszugeben, verhielt sich Iljitsch seinen Opponenten, Mitstreitern aus der Partei und den Schülern, der Jugend gegenüber feinfühlig und vorsichtig. Es ist ein Unterschied zwischen jenen, die sich anmaßen, andere zu belehren und die nur verwirren, und solchen, die offen erklären, dass sie noch lernen, führte Lenin in seiner Notiz „Jugend-Internationale“ [4] aus.

Streitgespräche im politischen Unterricht werden allmählich zur Gewohnheit. Sie entstehen sowohl spontan, auf Initiative der Teilnehmer, als auch auf Betreiben des Propagandisten.

Streitgespräche lenken

Den Anlass für ein Streitgespräch liefert häufig die Frage eines Genossen, besonders eine aktuelle Frage, eine aufgegriffene fehlerhafte Zwischenbemerkung oder eine falsche, unbewiesene Antwort, die Widerspruch bei den Gesprächspartnern auslöst.

Der Unterrichtsleiter kann im Interesse der Sache nicht jeden Disput, der sich aus einem zufälligen Anlass entwickelt, aufgreifen. Polemik ist nicht an sich wertvoll, sondern dann, wenn sie bei der Aneignung der Theorie und der Erarbeitung von Überzeugungen hilft. Nicht kleinlicher und gegenstandsloser Streit, sondern ein gezieltes, direkt oder indirekt mit dem zu studierenden Gegenstand zusammenhängendes, auf jeden Fall von den gesellschaftspolitischen Problemen nicht losgelöstes Streitgespräch bringt Nutzen.

Indessen hält sich ein schöpferischer Propagandist nicht an den Plan wie die Lokomotive an die Schienen. Schon Peter I. befahl: „Halte dich nicht an die Vorschrift wie der Blinde an eine Wand.“ Hat der Propagandist bemerkt, dass sich die Teilnehmer für eine plötzlich aufgeworfene wichtige, im Plan nicht vorgesehene Frage interessieren, sollte er sie erörtern und den geistigen Bedürfnissen der Teilnehmer Verständnis entgegenbringen.

Aufmerksam beobachtet der Propagandist, was Ausgangspunkt für eine Diskussion werden kann. Diskussionsgegenstand kann sowohl eine theoretische Formulierung als auch ein praktisches Problem sein (wenn beispielsweise bei irgend jemandem im Betrieb falsche Ansichten zu einer wesentlichen Frage bestehen, obwohl es im Unterricht nicht darum geht).

Am wertvollsten ist es natürlich, Diskussionen zu Themen des Lehrplans zu entfachen. In einer Schule der Grundlagen des Marxismus-Leninismus beispielsweise kann zum Thema Übergang [vom Kapitalismus zum Sozialismus bzw.] vom Sozialismus zum Kommunismus der Seminarplan eine Diskussion über die Wege zur Überwindung der wesentlichen Unterschiede zwischen Stadt und Land, zwischen geistiger und körperlicher Arbeit einschließen, während im Rahmen eines Seminars über politische Ökonomie die Wege zur Verschmelzung der beiden Formen des sozialistischen Eigentums diskutiert werden könnten usw.

Reichhaltiges Material für Problemfragen und Diskussionen liefern Zeitungen und Zeitschriften.

Diskussion dient Erkenntnis und Erziehung

Eine Diskussion soll der Erkenntnis und Erziehung dienen, das Wissen bereichern und den Horizont erweitern. Dies macht eine gründliche Vorbereitung erforderlich. Viele Propagandisten meinen, man solle nur ein bis zwei Redner zur Einleitung einer Diskussion vorbereiten, aber nicht die gesamte Diskussion „nach Noten“ vorschreiben.

M. I. Kalinin riet: „Die Leute sollen streiten, und zwar nicht künstlich, sondern wirklich; das heißt so, dass es dabei, wenn auch nicht gerade zu einer ,Rauferei’, so doch zu einer ernsthaften lebhaften Auseinandersetzung kommt ... Bei einer solchen Lernmethode dringt man am tiefsten in den Geist des Marxismus-Leninismus ein.“ [5]

Im Verlauf der Diskussion lenkt der Propagandist die Aufmerksamkeit auf wirklich strittige und wesentliche Fragen, gleicht nicht aus und ist gleichzeitig darum bemüht, dass sie beweisen und überzeugen, nicht aber deklarieren und Formulierungen aus Büchern zum besten geben.

Der Leiter hat das Recht, zusammenzufassen. Von diesem Recht muss er überlegt, taktvoll und ohne Aufdringlichkeit Gebrauch machen. Es ist keinesfalls nötig, jede Äußerung bedingungslos zu akzeptieren oder zurückzuweisen. Eine kurze Zwischenbemerkung, ein zum richtigen Zeitpunkt eingeworfenes Wort und manchmal sogar eine Geste können der Diskussion Richtung verleihen.»

[Eine Modifikation, vgl.]

Anmerkungen

1 W. I. Lenin: Zwei Methoden, zu disputieren und zu kämpfen. In: Werke, Bd. 19, S. 487.

2 W. I. Lenin: Tagung des Gesamtrussischen Zentralexekutivkomitees. In: Werke, Bd. 27, S. 271.

3 I. W. Babuschkin in: Erinnerungen an Lenin, Bd. 2. Moskau 1957. S. 37, russ.

4 Siehe W. I. Lenin: Werke, Bd. 23, S. 164-167.

5 M. I. Kalinin: Über kommunistische Erziehung, S. 48/49.

Quelle: Methodik der politischen Bildung. Dietz Verlag Berlin 1974

07.11.2014, Reinhold Schramm (Bereitstellung)