Hegel und der dialektische Materialismus

von Abram Deborin

11-2014

trend
onlinezeitung

Die neuzeitliche Wissenschaft und Philosophie entstanden im 18. Jahrhundert, in der Epoche des Übergangs von der feudalen zur bürgerlichen Gesellschaft. Die darauf folgenden Jahrhun­derte waren eine Periode einer ungewöhnlichen Blüte der bür­gerlichen gesellschaftlichen Beziehungen, einer ungewöhnlichen Entwicklung der Produktivkräfte und mit ihnen - der Wissen­schaft und der Philosophie.

Jetzt ist die Menschheit in eine neue Phase der geschichtlichen Entwicklung eingetreten. Der Kapitalismus nähert sich schnell seinem natürlichen Ende. Die auf seiner Grundlage aufgewach­sene Ideologie ist von einer tiefen Krise befallen. Die Naturwis­senschaft macht gewaltige Eroberungen, doch die philosophischen Grundlagen der Naturwissenschaft, die in den vergangenen Jahrhunderten geschaffen wurden, erwiesen sich gleichzeitig als zu »eng« und zu elementar; sie können den ganzen Reichtum des konkreten Inhalts der Wissenschaft nicht aufnehmen. Uber­all, auf allen Gebieten der materiellen und geistigen Kultur, fühlt man das Schwanken des Bodens. Es gibt nichts Standfestes, alles befindet sich im Gärungs- und Formungsprozeß. Zugleich mit der großen Krise, die die gegenwärtige gesellschaftliche Formation durchlebt, ereignet sich der Bruch der »oberen Stock­werke«. Die alte Kultur stirbt ab, und auf ihren Trümmern werden die Grundsteine einer neuen, höheren Kultur gelegt. Während solcher Krisenzeiten ertönen gewöhnlich Klageschreie über den Untergang der Kultur, über den Zusammenbruch der Wissenschaft, über die Notwendigkeit, zum »Glauben der Vä­ter« zurückzukehren u. a.

Aber nicht jede Krise kennzeichnet einen Rückschritt oder einen Verfall. Es gibt heilsame Krisen, die ein Ausdruck des Aufstiegs der Menschheit, die ein Wendepunkt in ihrer Entwicklung und in ihrem Übergang zu einer höheren Stufe sind. Die derzeitige »Krise« in der Wissenschaft ist durch den Prozeß der Anhäu­fung von Widersprüchen bedingt, die mit den alten Denkmetho­den nicht überwunden werden können. Die Krise der modernen Wissenschaft - und in erster Linie der Naturwissenschaft - ist vor allem eine Krise ihrer logischen, ihrer methodologischen Grundlagen. Die alten Formen des Denkens erwiesen sich als machtlos vor dem ungewöhnlichen Reichtum des Inhalts, der tagtäglich durch die stürmische Entwicklung der Naturwissen­schaft geliefert wird. Alles, was bisher unerschütterlich zu sein schien, das unterliegt jetzt einem tiefgreifenden Zweifel. Bei einigen Naturwissenschaftlern geriet das Kausalitätsgesetz, das Gesetz der Erhaltung der Energie usw. in Verdacht. Darum bestehen jetzt die bedeutendsten Naturforscher auf der Notwendigkeit eines engen Bündnisses zwischen der Natur­wissenschaft und der Philosophie.

Die Philosophie ist ohne Naturwissenschaft ebenso unmöglich, wie die Naturwissenschaft ohne Philosophie unmöglich ist. In­dem wir die gegenseitige Verbundenheit und Abhängigkeit der Philosophie und der Naturwissenschaft unterstreichen, müssen wir hier gleichzeitig erwähnen, daß es ein gleiches Verhältnis zwischen der Philosophie und den Gesellschaftswissenschaften, sowie zwischen der Philosophie und der wissenschaftlichen Er­kenntnis im allgemeinen gibt.

Aber was soll man unter Philosophie verstehen? Ohne diesbe­züglich in nähere Einzelheiten einzugehen, halten wir es für notwendig zu unterstreichen, daß die gewöhnliche Gegenüber­stellung der Philosophie und der Wissenschaft unter aller Kritik ist. Die Philosophie ist unserer Auffassung nach nicht irgend­etwas, was im Gegensatz zur Wissenschaft steht. Im Gegenteil, die Philosophie ist für uns ebenfalls Wissenschaft. Es wäre falsch zu glauben, daß die Geschichte der Philosophie während mehr als zweitausendfünfhundert Jahren einen fruchtlosen Kampf verschiedener Meinungen über untaugliche Dinge darstellte und daß dieser Kampf mit nichts anderem als mit dem Ergebnis Null beendet sei. Menschen, die die Geschichte der Philosophie und der Wissenschaft wenig kennen, denken gewöhnlich so. Sie nehmen sogar an, daß alles »Übel« von der Philosophie kommt und daß die »Rettung« nur von den positiven Wissenschaften, insbesondere von der Naturwissenschaft, kommen wird. Obwohl dieses Vorurteil bei uns beträchtlich erschüttert ist, so hat es sich doch in vielen Köpfen festgesetzt. Doch hat die Menschheit während ihrer jahrhundertealten Ge­schichte nicht umsonst gearbeitet und nachgedacht. Die Geschich­te des menschlichen Denkens ist eine Widerspiegelung des har­ten Kampfes des Menschen gegen die Natur, gegen verschiedene Formen der Ausbeutung und der Unterdrückung, ebenso wie gegen die eigene Unwissenheit und die eigenen Vorurteile. Wenn wir einen Blick auf den Weg werfen, der von den Men­schen zurückgelegt worden ist, dann müssen wir einsehen, daß die gegenwärtige Generation ein gewisses Erbe von der Ver­gangenheit erhalten hat. Aber dasselbe muß man auch von der Philosophie sagen. Außerdem waren die Philosophie und die Wissenschaft immer derartig eng miteinander verbunden, daß sie sich gegenseitig ergänzten. Die Philosophie, die sich auf die positiven Wissenschaften stützte, brachte gewöhnlich allgemeine Ideen und Prinzipien hervor, die für die Spezialwissenschaften richtunggebend waren. Die Vertreter des positiven Wissens, die oft überzeugt waren, daß sie von jeder Philosophie »unabhän­gig« seien, waren in Wirklichkeit unbewußt Anhänger des einen oder des anderen philosophischen Systems. Gewöhnlich nimmt man an, daß zum Beispiel die Naturwissenschaft eine Garantie gegen unrichtige philosophische Ansichten, gegen idealistische Vorurteile ist. Aber so können wiederum nur Menschen denken, die wenig mit der Geschichte der Wissenschaft vertraut sind. Lenin vertrat diesbezüglich eine andere Meinung. Er hat vor­trefflich verstanden, daß »durch den plötzlichen Bruch, den die gegenwärtige Naturwissenschaft erlebt, auf Schritt und Tritt verschiedene philosophische reaktionäre Schulen, Schülchen und Richtungen entstehen.« Doch hat Lenin im Gegensatz zu vielen derzeitigen oberflächlichen Menschen nicht geraten, »die Phi­losophie über Bord« zu werfen; er war auch nicht der Meinung, daß »die Wissenschaft - sich selbst Philosophie« sei. Er schrieb: ». . . um einer solchen Erscheinung nicht ratlos gegenüberzu­stehen, müssen wir verstehen, daß ohne eine gediegene philo­sophische Grundlage keine Naturwissenschaft, kein Materialis­mus im Kampf gegen den Ansturm der bürgerlichen Ideen und gegen die Wiederherstellung der bürgerlichen Weltanschauung bestehen kann.« (1)

Mit einem Wort, Lenin vertritt die Meinung, daß die Naturwis­senschaft ohne die Philosophie nicht auskommen kann. Die glei­che Meinung vertrat im Grunde genommen auch Engels. Zu dieser Ansicht gelangen jetzt auch die bedeutendsten Naturforscher. Wenn wir uns fragen, was das Ergebnis der jahrhundertelangen Entwicklung des menschlichen Denkens ist, so werden wir auf diese Frage folgendermaßen antworten: die materialistische Dialektik als Entwicklungslehre und als Denkmethode. Die materialistische Dialektik ist nicht vom Himmel gefallen, sie ist ein Ergebnis der Entwicklung des menschlichen Denkens, ein gesetzmäßiges Produkt der Geschichte der Wissenschaft, der Technik und der Philosophie. Ohne materialistische Dialektik ist der Marxismus undenkbar. Marx und Engels ist es nur darum gelungen, ihre monumentale Lehre zu schaffen, weil sie sich von der vorangegangenen Philosophie nicht einfach abkehrten, son­dern diese überwunden und umgearbeitet haben. Wenn die Me­thode von Marx eine derartige Fülle von Ergebnissen auf dem Gebiete der Gesellschaftswissenschaften hervorgebracht hat, so steht es ihr noch bevor, eine Umwälzung auf dem Gebiete der Naturwissenschaft zu vollziehen, wo das theoretische Denken sich bis jetzt im Banne der alten Metaphysik befindet. »Die empirische Naturforschung«, schrieb Engels im Jahre 1878, »hat eine so ungeheure Masse von positivem Erkenntnisstoff angehäuft, daß die Notwendigkeit, ihn auf jedem einzelnen Untersuchungsgebiet systematisch und nach seinem inneren Zusammenhang zu ordnen, schlechthin unabweisbar geworden ist. Ebenso unabweisbar wird es, die einzelnen Erkenntnisgebiete unter sich in den richtigen Zusam­menhang zu bringen. Damit aber begibt sich die Naturwissenschaft auf das theoretische Gebiet, und hier versagen die Methoden der Em­pirie, hier kann nur das theoretische Denken helfen. Das theoretische Denken ist aber nur der Anlage nach eine angeborne Eigenschaft. Diese Anlage muß entwickelt, ausgebildet werden, und für diese Aus­bildung gibt es bis jetzt kein andres Mittel als das Studium der bis­herigen Philosophie.«(2)

Die Philosophie stellt auf jeder gegebenen geschichtlichen Ent­wicklungsstufe ein bestimmtes Verständnis der allgemeinen Zusammenhänge der Erscheinungen dar. Während einzelne, spezielle Wissenschaften sich mit dem Studium irgendeines Ab­schnittes der Natur, eines ihrer Teile, befassen, war die Philoso­phie immer bestrebt, den allgemeinen Zusammenhang des Gan­zen aufzudecken. Engels sieht den Vorzug der griechischen Philosophie im Vergleich zu der Metaphysik des 17. und 18. Jahrhunderts in der Tatsache, daß sie den Standpunkt des Ganzen vertrat und sich bemühte, in den allgemeinen Zusam­menhang des Existierenden einzudringen, während die Meta­physik der neuen Zeit »sich den Weg versperrte, vom Verständnis des Einzelnen zum Ver­ständnis des Ganzen ... zu kommen. Bei den Griechen - eben weil sie noch nicht zur Zergliederung, zur Analyse der Natur fortgeschrit­ten waren - wird die Natur noch als Ganzes, im ganzen und großen angeschaut. Der Gesamtzusammenhang der Naturerscheinungen wird nicht im einzelnen nachgewiesen, er ist den Griechen Resultat der un­mittelbaren Anschauung. Darin liegt die Unzulänglichkeit der grie­chischen Philosophie, derentwegen sie später andren Anschauungs­weisen hat weichen müssen. Darin liegt aber auch ihre Überlegenheit gegenüber allen ihren späteren metaphysischen Gegnern. Wenn die Metaphysik den Griechen gegenüber im einzelnen recht behielt, so behielten die Griechen gegenüber der Metaphysik recht im ganzen und großen.«(3)

Engels sieht vollkommen richtig in der Metaphysik eine not­wendige Etappe in der Entwicklung des menschlichen Denkens, weil man zum Verständnis der Prozesse und des gegenseitigen Zusammenhangs der Erscheinungen das Verständnis für Dinge, das Verständnis für einzelne Erscheinungen haben muß. Aber die Metaphysik bleibt auch deshalb Metaphysik, weil sie das endgültige Ergebnis der Forschung in der Analyse der Natur sieht und unfähig ist, sich bis zur Synthese zu erheben. Anderer­seits besteht der Mangel, an dem die griechische Philosophie litt, darin, daß für sie das Ganze, der allgemeine Zusammenhang der Erscheinungen, sich als Ergebnis einer unmittelbaren An­schauung, aber nicht eines durch die Aufgliederung des Ganzen vermittelten Verständnisses darstellte.

Die materialistische Dialektik grenzt historisch und logisch unmittelbar an die Hegelsche Dialektik an, indem sie deren Fortsetzung und Weiterentwicklung auf einer qualitativ ande­ren Grundlage ist, soweit sie von Marx und Engels einer grund­legenden Überarbeitung auf dem Grunde des Materialismus unterzogen wurde. Die Dialektik ist Ergebnis der Entwicklung der ganzen Geschichte des menschlichen Denkens, ein Produkt der Wissenschaft, der Philosophie und des praktischen mensch­lichen Schaffens auf höchster Ebene. »Grade die Dialektik ist« -sagt Engels - »aber für die heutige Naturwissenschaft die wich­tigste Denkform, weil sie allein das Analogon und damit die Erklärungsmethode bietet für die in der Natur vorkommenden Entwicklungsprozesse, für die Zusammenhänge im ganzen und großen, für die Übergänge von einem Untersuchungsgebiet zum andern.«(4)

Der gegenwärtige Zustand der Wissenschaft ist so, daß sie sich nicht mehr mit der Masse des angesammelten empirischen Ma­terials, mit dem riesigen Reichtum an einzelnen Tatsachen, Be­obachtungen, Erscheinungen oder sogar Gesetzen zufrieden ge­ben kann. Man fühlt das unüberwindbare Bedürfnis, alle diese Beobachtungen und Gesetzmäßigkeiten in Zusammenhang zu bringen, und zwar sowohl auf einem jeden einzelnen Gebiet, als auch in der Gesamtheit der Wissenschaften, indem man die ein­zelnen Zweige des Wissens in ein Ganzes vereinigt. Unter sol­chen Verhältnissen ist die empirische Naturwissenschaft gezwun­gen, sich auf die Stufe des theoretischen Denkens zu erheben, d. h. die Naturwissenschaft enger mit der Philosophie zu ver­binden.

Diesen Zusammenschluß der Naturwissenschaft und der Philo­sophie kann man nur auf der Grundlage der materialistischen Dialektik verwirklichen. »Die modernen Naturforscher«, schrieb Lenin im Jahre 1922, »werden in der materialistisch gedeuteten Dialektik Hegels eine Reihe von philosophischen Fragen beantwortet finden (wenn sie es verstehen werden zu suchen und wenn wir es erlernen werden, ihnen zu helfen), die die Revolution in der Naturwissenschaft aufwirft und bei denen die intellektuellen Verehrer der bürgerlichen Mode zur Reaktion >abgleiten<.« Ohne die Dialektik zu kennen, sagte Lenin, werden die Naturforscher in ihren philosophi­schen Schlußfolgerungen und Verallgemeinerungen hilflos sein. »Denn die Naturwissenschaft macht so schnelle Fortschritte, erlebt eine Periode eines so tiefen revolutionären Umbruchs auf allen Gebieten, daß die Naturwissenschaft in keinem Falle ohne philosophischen Schlußfolgerungen auskommen kann.«(5) Die moderne Naturwissenschaft ist schon, wie uns scheint, in die von Engels und Lenin vorausgesagte neue Entwicklung ein­getreten. Soweit angesehene Naturforscher von der Entwick­lung der Wissenschaft selbst zu ihrer theoretischen Konzeption gezwungen werden, gehen sie auf den dialektischen Standpunkt über, oder sie beginnen auf diesen Standpunkt überzuwechseln. Die moderne Wissenschaft macht eine Periode »der Wirren« durch - das ist ohne Zweifel. Wir befinden uns vielleicht vor einer gewissen Umstellung des ganzen Gebäudes der modernen Wissenschaft. Darum ist es auch nicht verwunderlich, daß viele Naturforscher zum Idealismus und sogar zum Mystizismus herabgleiten, ohne imstande zu sein, theoretisch die in der einen oder anderen wissenschaftlichen Disziplin angesammelten Wi­dersprüche zu begreifen. Es stellt sich heraus, daß die alte for­male Logik zur Überwindung letzterer nicht ausreicht. Sie muß durch eine dialektische Logik ersetzt werden. [...] Wenn man von den von uns angeführten grundsätzlichen Män­geln der Hegelschen Logik absieht, so müssen wir anerkennen, daß man im allgemeinen die Hegeische Konstruktion auch vom materialistischen Standpunkt aus als richtig betrachten muß. Damit wollen wir überhaupt nicht sagen, daß alle Kategorien bei Hegel unerschütterlich auf dem ihnen zukommenden Platz stehen, daß bei ihnen absolut keine Verschiebungen zulässig sind. Für uns ist es nur wichtig zu unterstreichen, daß die grund­sätzlichen Linien in der Hegelschen Logik richtig gezeichnet sind. Wir berühren hier noch nicht eine Reihe von Fragen, in denen wir mit Hegel auseinandergehen. Wir haben nicht einmal die Frage nach dem Zusammenhang zwischen dem System und der Methode berührt, nach dem Ubergange der Kategorien inein­ander u. a. Alles das würde zu viel Platz beanspruchen. Was insbesondere die Frage der Übergänge der Kategorien in andere betrifft, so sind diese unnatürlich und erdacht, was man vor allem damit erklären kann, daß Hegel es mit einem rein logi­schen Prozeß zu tun hat, bei dem die Kategorien als logische Wesenheiten in andere übergehen. Natürlich fühlt man in die­sen Übergängen mehr als sonst den Einfluß des Systems auf die Methode. Die Kategorien können überhaupt nicht in andere übergehen. Bei Hegel haben die Kategorien als Gesetze des Denkens überhaupt apriorischen Charakter und werden tat­sächlich der Natur und der Geschichte aufgezwungen. Aber an­dererseits muß man verstehen, daß die Kategorien sogar bei Hegel aus der Wirklichkeit gezogen sind. Hier haben wir wie­derum die Mystifikation, von der Marx und Engels sprechen. Aber wir Materialisten müssen die Gesetze der Dialektik be­wußt aus der wirklichen Natur und der Geschichte ziehen. Für Hegel ist die Natur und die Geschichte angewandte Logik. Für die Materialisten ist die Sache anders: die Kategorien sind Ab­straktionen, ideale Ausdrücke realer Beziehungen. Doch soweit diese Gesetze oder Kategorien aufgeführt, entdeckt und aufge­stellt sind, werden sie natürlich in Zukunft als Mittel der For­schung angewandt werden. Das Gesetz der Umwandlung der Energie z. B., das in der Natur entdeckt wurde, wird späterhin auf verschiedenen Gebieten angewandt; es wird zur Voraus­setzung der wissenschaftlichen Forschung. Man braucht dieses Gesetz nicht jedes Mal von neuem zu entdecken. Dieser Um­stand zwingt auch viele dazu, anzunehmen, daß die Gesetze der Dialektik eine apriorische Konstruktion darstellen, ein Schema, das angeblich durch das Denken der Natur aufgezwun­gen wird. Hier kann von keinem Apriorismus die Rede sein. Alle Gesetze wurden aus der Wirklichkeit eruiert. Doch wenn sie eruiert oder entdeckt sind, dann werden sie zu einem dauer­haften Besitz des theoretischen Denkens und verwandeln sich schon in ein Mittel der Forschung.

Also stellen wir an die Stelle der Selbstentwicklung der Idee die Selbstentwicklung der materiellen Welt, an die Stelle der logischen Übergänge stellen wir die realen Ubergänge im Ent­wicklungsprozeß. Bei Hegel haben wir, ungeachtet der künst­lichen Ubergänge der Kategorien in andere und des idealisti­schen Charakters seiner ganzen Logik, eine abstrakte Theorie der Dialektik, die im großen und ganzen - wenn auch in einer mystifizierten Form - so doch den realen Entwicklungsprozeß zum Ausdruck bringt.

Engels reduziert die ganze Dialektik auf drei grundlegende Gesetze. Daraus folgt in keinem Falle, daß Engels die sekundä­ren Gesetze der Dialektik, wie sie Hegel formuliert hat, ab­lehnen würde. Es genügt, Das Kapital von Marx zu analysieren um sich zu überzeugen, daß wir hier alle grundlegenden Gesetze der Dialektik in der Anwendung auf die politische Ökonomie haben. Engels faßt nur den Inhalt der Hegelschen Dialektik in drei grundsätzlichen Gesetzen zusammen: das Gesetz des Um­schlagens der Quantität in Qualität und umgekehrt; das Gesetz der gegenseitigen Durchdringung der Gegensätze und das Ge­setz der Negation der Negation.

»Alle drei« - sagt Engels - »sind von Hegel in seiner idealistischen Weise als bloße Den&gesetze entwickelt: das erste im ersten Teil der Logik, in der Lehre vom Sein; das zweite füllt den ganzen zweiten und weitaus bedeutendsten Teil seiner Logik aus, die Lehre vom We­sen; das dritte endlich figuriert als Grundgesetz für den Aufbau des ganzen Systems. Der Fehler liegt darin, daß diese Gesetze als Denk­gesetze der Natur und Geschichte aufoktroyiert, nicht aus ihnen ab­geleitet werden. Daraus entsteht dann die ganze gezwungene und oft haarsträubende Konstruktion: Die Welt, sie mag wollen oder nicht, soll sich nach einem Gedankensystem einrichten, das selbst wieder nur das Produkt einer bestimmten Entwicklungsstufe des menschlichen Denkens ist. Kehren wir die Sache um, so wird alles einfach und die in der idealistischen Philosophie äußerst geheimnisvoll aussehenden dialektischen Gesetze werden sofort einfach und sonnenklar«. »Wer übrigens« - beeilt sich Engels hinzuzufügen-»seinen Hegel nur einigermaßen kennt, der wird auch wissen, daß Hegel an Hunderten von Stellen aus Natur und Geschichte die schlagendsten Einzelbelege für die dialektischen Gesetze zu geben versteht.«(6)

Somit kritisiert Engels die idealistische Grundlage der Hegel­schen Logik, erkennt aber zugleich ihre allgemeine Struktur als richtig an, indem er das Wesentliche des ersten Teiles der Logik, der das Sein behandelt, auf das Gesetz des Umschlagens der Quantität in Qualität und der Qualität in Quantität mit allen dazu gehörigen »sekundären« Kategorien zurückführt. Der Inhalt der Lehre vom Wesen wird von Engels vollkommen richtig auf das Grundgesetz des gegenseitigen Durchdringens der Gegensätze zurückgeführt, wobei er den Kern der Dialektik eben in der Lehre vom Wesen sieht. Das Gesetz der Negation der Negation zieht sich eigentlich durch die gesamte Logik als eines der allumfassendsten und weit wirkenden Gesetze. [...] Wir haben keine Möglichkeit, einen mehr oder weniger voll­kommenen Uberblick über die Hegelsche Logik zu geben; wir haben auch keine Absicht, uns hier mit einer materialistischen Kritik und Interpretation dieser Logik zu beschäftigen. Das einzige, was wir für notwendig halten, ist eine Reihe von kriti­schen Bemerkungen hinsichtlich der Hegelschen Konstruktion im ganzen. Es ist uns vollkommen unmöglich, uns in Einzel­heiten zu vertiefen, weil das viel zuviel Platz beanspruchen würde.

Wir haben oben schon unterstrichen, daß Hegels Logik ihrem Wesen nach einen apriorischen und idealistischen Charakter hat. Die Entfaltung der Kategorien vollzieht sich auf einem rein logischen Wege. Diese Entfaltung ist nichts anderes als der Selbstentwicklungsprozeß der Idee, die ihre Bestimmungen in einer bestimmten logischen Folgerichtigkeit zum Vorschein bringt. Ein Begriff der Idee geht selbst wegen seiner Einseitigkeit und Begrenztheit in einen anderen Begriff über, der seinerseits sich als widerspruchsvoll erweist und deswegen genötigt ist, in einen anderen Begriff überzugehen usw. Somit betrachtet man den Begriff als reales Wesen, das sich angeblich bewegt und sich entwickelt. In der Tat spottet eine derartige Frage­stellung jeder Kritik. Begriffe an sich gehen nicht über und können nicht von sich aus in andere Begriffe übergehen. Nur ein denkendes Subjekt hat mit Begriffen zu tun, darum ist auch ihr Übergang ineinander, ihre Vorwärtsbewegung eine Arbeit unseres Gedankens; wir zwingen sie ja ineinander überzugehen und sich überhaupt zu bewegen, zu entwickeln und zu entfalten; wir haben es tatsächlich mit einem Prozeß unserer Gedanken, mit der Entwicklung unserer logischen Begriffe mit Hilfe unserer Denkfähigkeit zu tun; doch schreiben wir diesen Entwicklungs­prozeß des Gedankens der objektiven Wirklichkeit zu, womit wir ihn hypostasieren und ihn in einen realen Prozeß verwan­deln. Das ist auch die Mystifizierung, von der K. Marx spricht. Darum ist Hegels Logik ihrem Wesen nach falsch aufgebaut; sie steht wirklich auf dem Kopf, indem sie die Entwicklung der wirklichen Welt als Entwicklung logischer Begriffe ansieht, wäh­rend unsere Begriffe und deren Entwicklungsprozeß in der Tat nur Widerspiegelungen des Entwicklungsprozesses der wirk­lichen Welt sind. Die Übergänge einer Kategorie in eine andere oder eines Widerspruchs zu einem folgenden sind, wie Engels schrieb, fast immer willkürlich. Oft geschieht das abrupt. Engels hat vollkommen recht mit seiner Kritik. Es versteht sich von selbst, daß bei dem prinzipiellen Ansatz Hegels die Übergänge einen künstlichen, willkürlichen und gezwungenen Charakter haben müssen, weil noch niemand beobachtet hat, wie eine logi­sche Kategorie in eine andere übergeht. Aber andererseits ist Hegel kraft seiner prinzipiellen Position verpflichtet, uns eine rein logische Begründung des Übergangs einer Kategorie in eine andere zu geben, und diese logische Begründung der Übergänge wird von Hegel nicht immer schlecht ausgeführt. Man muß sich nur daran erinnern, daß ein logischer Übergang nicht mit einem realen Übergang identisch ist. Darum ist es natürlich, daß die Angelegenheit in der materialistischen Logik eine vollkommen andere Gestalt annehmen muß. Weil die Kategorien kein selb­ständiges Dasein haben, weil die Kategorien bloß idealer Aus­druck der realen Verhältnisse sind, verändert sich mit den letz­teren auch die Korrelation der Kategorien. Wenn wir z. B. den Umschlag der Qualität in Quantität wirklich feststellen, dann können wir in abstrakter Form von dem Umschlag der Katego­rie der Qualität in Quantität sprechen; aber dabei soll man beachten, daß sich der Übergang des Begriffes der Qualität in den Begriff der Quantität nur in unserem Gedanken und nur darum vollzogen hat, weil eine gewisse reale Qualität in eine Quantität in der materiellen Welt umgeschlagen ist. Es gibt keine Qualität als solche, wie es keine Quantität als solche geben kann. Qualität und Quantität sind gleichermaßen »Prä­dikate« materieller Dinge. Dasselbe bezieht sich überhaupt auf alle Kategorien. Also können die Kategorien ihrem Wesen nach nicht in andere übergehen, weil sie als selbständige Wesen nicht existieren.

Zugleich muß man doch unterstreichen, daß, wenngleich Hegel von der Bewegung der Begriffe ausgeht, seine Konstruktion nichts anderes als eine apriorische Deduktion der Kategorien ist, und er die Wirklichkeit aus reinen Begriffen konstruiert, dessenungeachtet seine Logik in gewissem Sinne eine unbewußte Wiedergabe der Wirklichkeit in abstrakten Begriffen darstellt. Darum ist auch die Logik Hegels eine eigenartige Schöpfung, in der sich »unter einer falschen Form und in einer künstlichen Verbindung« das Große und Geniale verbirgt.

»Die Verkehrung der Dialektik ist bei Hegel« - sagt richtig Engels -»darauf zurückzuführen, daß sie bei ihm >Selbstentwicklung des Den-kens< sein muß und die Dialektik der Dinge darum nur ihren Abglanz darstellt. In der Tat ist aber doch die Dialektik in unserem Kopf eine Widerspiegelung der Entwicklung, die sich in der Welt der Natur und in der menschlichen Gesellschaft vollzieht und die sich den dialekti­schen Formen unterordnet.«(7)

Vom Standpunkt Hegels aus herrscht in der Welt der Logos, die Vernunft; diese Vernunft denkt; die Welt ist denkende Ver­nunft. Die Begriffe sind für Hegel keine subjektiven Formen des denkenden Subjekts, die die objektive Welt widerspiegeln. Die Begriffe bilden das objektive Wesen der Dinge. Das Objekt ist nach der Meinung Hegels die Wirklichkeit des Begriffs. Darum haben wir die Möglichkeit, ganz unabhängig von der Erfah­rung, ausschließlich durch die Tätigkeit der reinen Vernunft, die Gesamtheit der Begriffe zu entwickeln, die ein integriertes geschlossenes System bilden. Die Vernunft entwickelt aus sich selbst den ganzen Reichtum des Inhalts der Begriffe und stellt auch die Einheit aller dieser Begriffe dar, die ihren Inhalt bil­den. Die Vernunft ist eine unendliche Form, die sich ihren Inhalt gibt und diesen in einer bestimmten logischen Folge entwickelt, wo jeder Begriff einen bestimmten Platz in der Eigenschaft eines notwendigen Gliedes oder eines Moments des Ganzen - der Idee - einnimmt. Dieser Entfaltungsprozeß der ganzheitlichen einen Idee zu einer Reihe oder, richtiger gesagt, zu einem Kreise von Begriffen, die innerlich miteinander verbunden sind und die notwendig ineinander übergehen, stellt, wie schon gesagt wurde, einen rein logischen, zeitlosen Prozeß der Selbstentwicklung der Begriffe dar. Der jedem einzelnen Begriff eigene Widerspruch, die in ihm beschlossene »Negativität«, bildet die treibende Kraft der Selbstbewegung des Begriffes. Das Moment der Negativität schafft auch eigentlich die Dialektik der Begriffe. Es ist gleich­zeitig notwendig zu unterstreichen, daß die Dialektik Hegels außer den angeführten, noch an zwei Mängeln leidet, die sich aus ihrem idealistischen Charakter ergeben: das ist erstens, daß sie angeblich ein absolutes Wissen vermittelt. Die Gesamtheit der Begriffe, die die Einheit der Idee bilden, gibt uns ein absolutes Wissen in der Art einer vollständigen Ausschöpfung aller Welt­erscheinungen in Zeit und Raum. Laut Hegels Idee sind in seiner Logik sozusagen alle Möglichkeiten der Welt erschöpft. In der Totalität der »Idee« kann man Begriffe weder hinzufügen noch streichen, denn sie erfassen die ganze Wirklichkeit vollkommen. In diesem Sinne stellt Hegels Logik ein geschlossenes System, einen geschlossenen Kreis dar, der keine Weiterentwicklung zu­läßt. Der absolut geschlossene Kreis der Begriffe bildet sozusagen einen eisernen Reifen, der die ganze Welt umgürtet und ihr keine Möglichkeit gibt, ihre Grenzen zu überschreiten, sie zu durchbrechen. Die ganze Welt ist gezwungen, sich nur in einem bestimmten Kreislauf der Begriffe zu drehen. Wenn also die Ent­wicklung für die Welt charakteristisch ist, so nur in bestimmten, schon früher von der absoluten Idee festgesetzten Grenzen. Und das ist der zweite große Mangel der Hegelschen Lehre. Seiner absoluten Idee ist schon sozusagen im voraus eine be­stimmte Marschroute vorgeschrieben. Sie beginnt ihren Gang vom reinen Sein und vollzieht ihren unabänderlichen Kreis über »Haltestellen«, die ein für allemal auf dem Wege vorgemerkt sind. Nachdem dieser Kreis begangen ist, bleibt der Idee (oder, in der Ubersetzung in die empirische Sprache, der Welt) nichts anderes übrig, als ihre Bewegung wieder von Anfang an zu be­ginnen und wieder denselben Kreis zu wiederholen usw.

Wenn man in die Logik Hegels tiefer eindringt, ist es notwendig zu sagen, daß der Einfluß des Systems sich verderblich auf die dialektische Methode ausgewirkt hat, daß das System die Me­thode Hegels in ihrer Grundlage untergräbt. Wir haben in der Logik Hegels in der Hauptsache ein System des Kreislaufs, in dessen Bereich sich nur kleine Kreise spiralförmig entwickeln können. Wohl gibt die Logik Hegels genügend Material für den Aufbau einer echten Theorie der dialektischen Entwicklung auf den Grundlagen des Materialismus. Aber dazu ist es notwen­dig, das Hegelsche System der Logik in seiner Grundlage zu überwinden. Ohne die Möglichkeit zu haben, uns hier mit dieser Frage konkret zu beschäftigen, halten wir es nur für not­wendig, zu unterstreichen, daß Hegels Logik selbst, oder ge­nauer gesagt, seine dialektische Methode die Form eines ge­schlossenen, absoluten Systems angenommen hat. Die Hegelsche Dialektik ist zugleich eine Theorie der wissenschaftlichen Er­kenntnis. Aber das ist eine Theorie des absoluten Wissens. Wohl wird dieses absolute Wissen als Ergebnis der Vollendung des ganzen Kreises erreicht. Auf jeder einzelnen Etappe haben wir nur ein relatives Wissen, weil jede einzelne Kategorie die Wahr­heit nur einseitig ausdrückt und in sich Widersprüche enthält, die die Entwicklung des Wissens voranbringen. Aber die Idee liefert uns in ihrer konkreten Ganzheit das absolute Wissen, indem sie alle durchschrittenen Stufen des Begriffs in sich ver­einigt. In dieser Beziehung ist die materialistische Dialektik von Marx und Engels sozusagen bis zum Ende dialektisch, was man nicht von der Konstruktion Hegels sagen kann, denn die materialistische Dialektik lehnt das absolute Wissen im Sinne Hegels ab. Für die materialistische Dialektik gibt es kein ab­solutes Wissen ohne relatives Wissen, es gibt überhaupt kein vollendetes Wissen, das keine Weiterentwicklung zuläßt. An­derseits stellt es sich heraus, daß eben deshalb, weil Hegel an­nahm, daß seine Logik ein erschöpfendes, d. h. ein absolutes System der Kategorien darstellt, die Logik ihrem Wesen nach durch das zu jener Zeit vorhandene Niveau der Kenntnisse gleichzeitig begrenzt wurde und daher nur ein relativ wahres System ist. Niemand wird behaupten, daß die Hegeische Logik die Gesamtheit der Kategorien für alle Zeiten erschöpft hat, daß es nicht noch mehr geben kann, weil unser Wissen unbe­grenzt ist, sich entwickelt und darum auch neue Gesetze, neue Formen der Wechselbeziehungen der Erscheinungen entdeckt werden können u. a. Also, wie richtig es auch ist, daß die allge­meinsten und grundlegenden Gesetze der Bewegung aller Er­scheinungen von Hegel formuliert worden sind, so darf man dies doch nicht im absoluten, sondern im relativen Sinne ver­stehen. Die grundlegende Kategorie, die die ganze Logik von Hegel beherrscht, ist die Kategorie der Entwicklung. Doch wird kaum jemand darüber streiten, daß diese Kategorie verhältnis­mäßig jung ist, und daß sie nur in der neuesten Zeit in der Eigenschaft einer beherrschenden Idee in die Wissenschaft ein­gedrungen ist. Die Wissenschaften der neuesten Zeit haben eine vollständige Revolution auch nur in dem Maße durchgemacht, in dem sie von der Idee der Evolution, der Idee der Entwick­lung durchdrungen wurden.

Kraft der angestellten Überlegungen ist es augenscheinlich, daß die Tendenz, ein vollendetes System der Kategorien zu geben, ein vergeblicher Versuch wäre. Ein jedes derartiges System ist durch die Zeit und durch das gegebene Niveau der Entwicklung der Wissenschaft begrenzt. Doch für die gegebene Zeit muß es natürlich nach Möglichkeit vollkommen sein, d. h. allseitig und erschöpfend den Stand unserer Kenntnisse von der Welt wider­spiegeln.

Weil Hegel bestrebt war, ein absolutes System des Wissens zu geben, d. h. ein solches System, das einen außer der Zeit stehen­den, ewigen, rein logischen Charakter hat, so gab es in seiner Logik auch keinen Platz für die Zeit und für den Raum. Wir meinen, daß es diesen letzten Kategorien angemessen wäre, einen bestimmten Platz in der materialistischen Dialektik ein­zunehmen, denn »die Grundformen alles Seins sind Raum und Zeit, und ein Sein außer der Zeit ist ein ebenso großer Unsinn, wie ein Sein außerhalb des Raums« (Engels)s. Denn Verände­rung gibt es nur in der Zeit und im Raum und mit ihrer Hilfe. Wenn wir die Bewegung (der Materie) als Hauptkategorie der materialistischen Dialektik zugrunde legen, so ist es offensicht­lich, daß wir ohne Zeit und Raum keine Bewegung denken kön­nen. Vom Standpunkt Hegels aus existiert die logische »Idee« an sich als Totalität und Einheit der Begriffe. Die Natur stellt an sich die Verwirklichung der absoluten logischen Idee in dem Sinne dar, daß die logische Idee aus der rein logischen Sphäre heraustritt und in Zeit und Raum in ein reales Dasein übergeht. Eine derartige Konstruktion ist nur dann verständlich, wenn wir auf dem Hegelschen idealistischen Standpunkt stehen, nach dem der Logos jedem realen Sein vorangeht. In der Tat geht Hegel von der Idee aus, daß das Reich der reinen Gedanken der existierenden Welt vorhergeht. Begriffe inkarnieren sich in kon­kreten Gestalten, wenn sie in die reale Welt übergehen. Aber vom Standpunkt der materialistischen Dialektik aus gibt es kei­nen Dualismus. Im Gegenteil, nur die wirkliche Welt, aus der unsere Begriffe abstrahiert sind, ist eine Realität. Die reale Welt jedoch, wie sie auch Hegel versteht, existiert in Zeit und  Raum. Ist es nicht offensichtlich, daß die Logik, die reine Be­wegung ist und nichts anderes als Bewegung, ohne Zeit und Raum, die Momente der Bewegung sind, nicht auskommen kann'? Es ist nicht unsere Aufgabe, die Entwicklung der Dia­lektik der Zeit und des Raumes in Verbindung mit der Bewegung zu behandeln. Mit der Ausarbeitung der hier um-rissenen Fragen muß man sich besonders beschäftigen. Hier halten wir es nur für notwendig, die Wichtigkeit dieser Kategorien im System der materialistischen Logik zu unter­streichen. [. . .]

Anmerkungen:

1) W. I, Lenin, Werke, Band 33, S. 206, 207 (russ.) Über die Bedeutung des streitbaren Materialismus, in: Werke, Band 33, S. 219; dieser Aufsatz er­schien zunächst (März 1922) als Artikel in Unter dem Banner des Marxismus.
2)
F. Engels, Dialektik der Natur, S. 22 (russ.) [MEW, Bd. 20, S. 330].
3)
F. Engels, ibidem, S. 24 (russ.) [MEW, Bd. 20, S. 333].
4) [Ibidem, S. 330 f.].
5) W. I. Lenin, Werke, Band 33, S. 208 (russ.) Über die Bedeutung des streitbaren Materialismus, in: Werke, Band 33, S. 220.
6) F. Engels, Dialektik der Natur, S. 38 (russ.) [MEW, Bd. 20, S. 348 f.].
7) [vgl. Dialektik der Natur, 1. c, S. 475].
8) [MEW, Bd. 20, S. 48 (Anti-Dühring)].
9) Vgl. Betty Heimann, System und Methode in Hegels Philosophie, 1927, S. 314.

Editorische Hinweise

Der Text wurde entnommen aus: Goerdt, Wilhelm. Hrsg., Die Sowjetphilosophie. Wendigkeit und Bestimmtheit. Dokumente, Darmstadt 1967, S.84ff