Probleme der Klassenanalyse
Lohnarbeiter des Staates

von Gerhard Armanski, Boris Penth, Jörg Pohlmann

11-2014

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Die Frage der klassenmäßigen Bestimmung und Einordnung der staatlichen Lohnarbeiter ist in der neueren marxistischen Literatur sehr unterschied­lich beantwortet worden. Die Bedeutung, die ihr zukommt, rechtfertigt es, diese Antworten zu sichten, ehe wir selbst versuchen, Funktion und Form staatlicher Lohnarbeit zu umreißen. Je nachdem, ob die staatlichen Lohn­arbeiter als Teil der Arbeiterklasse oder als selbständige Klasse oder als Konglomerat verschiedener Schichten und Klassenfraktionen begriffen werden, müssen auch ihr Anteil an der Umwälzung der bürgerlichen Gesell­schaft und die einzuschlagende revolutionäre Taktik jeweils verschieden gefaßt werden.

Die verschiedenen Positionen hängen von der gesellschaftlichen Stel-lung, dem politischen Charakter und dem wissenschaftlichen Verständnis der Untersuchenden ab. So läßt sich zeigen, daß in der klassenanalytischen und taktischen Diskusion der DKP nicht nur von der Untersuchung der a|lgemeinen und real gegenwärtigen Klassenverhältnisse ausgegangen wird. Diese Diskussion wird vielmehr immer wieder durchsetzt und überlagert von historisch entwickelten Bündniskonzeptionen, welche die Volksfront im Gewand der antimonopolistischen Demokratie wiedererstehen lassen mit einem spezifischen Klassenbündnis, in dem neue Zwischenschichten oder -klassen mitsamt der Kleinbourgeoisie und der nichtmonopolistischen Bourgeoisie die Bündnispartner des Proletariats bilden (13). Andererseits liegen der neuerdings vorgebrachten Theorie der Lohnarbeiterklasse, die es zu vereinheitlichen gelte (14), nicht nur wissenschaftlich kurzschlüssige Konsequenzen aus der Verallgemeinerung der Lohnarbeit im Kapitalismus zugrunde, sondern auch aus der gesellschaftlichen Stellung der Theoretiker als Studenten oder staatliche Lohnarbeiter und der politischen Tradition der Studentenbewegung herrührende Illusionen über den klassenprägenden Charakter der Lohnform.
Weiter werden Positionen entwickelt, die die staatlichen Lohnarbei­ter als Fraktion der Kleinbourgeoisie (15) oder als Schicht, die verschie­denen Klassen zugehört, begreifen (16), was nur dadurch möglich ist, daß wesentliche theoretische Bestimmungen fallen gelassen oder einfach mit historischer Verallgemeinerungen vermischt werden. Auf der anderen Seite steht der Versuch, die Formbestimmung der staatlichen Lohnarbeit streng begrifflich aus dem Produktions-, Zirkulations- und Konsumtionsprozeß des Werts abzuleiten, dabei aber bezüglich der Klassenbestimmung mithilfe der „dritten Personenrubriken" auszuweichen (17). Weiterhin ist es ein zentraler Mangel der bisherigen Diskussion, daß sie ingesamt zu statisch verfährt und die Akkumulation des Kapitals als zentrales Bewegungsgesetz der bürgerlichen Gesellschaft, dem auch die staatliche Lohnarbeit unter­liegt, weitgehend vernachlässigt hat (18) - ein Mangel, den auch wir nur teilweise aufheben konnten.

In der Theorie der Lohnarbeiterklasse, auf die wir noch einmal kurz eingehen wollen, wird die Lohnform zum klassenbestimmenden Merkmal erklärt, und die in der Produktion, Zirkulation oder unproduktiven Kon­sumtion des Werts stehenden Lohnarbeiter werden als Abteilungen einer Klasse bezeichnet. Die Argumentation beruft sich auf Marx, der im letzten Kapitel des „Kapitals" davon spricht, daß

„die Eigentümer von bloßer Arbeitskraft, die Eigentümer von Kapital und die Grund­eigentümer, deren respektive Einkommensquellen Arbeitslohn, Profit und Grundrente sind, also Lohnarbeiter, Kapitalisten und Grundeigentümer ... die drei großen Klas­sen der modernen, auf der kapitalistischen Produktionsweise berührenden Gesell­schaft (bilden) (19).

Aus dem Zusammenhang der genannten Stelle geht aber eindeutig hervor, daß Marx hier nur die dem Kapital gegenübergesetzten Lohnarbeiter mei­nen kann.

Außerdem verfällt der Begriff der Lohnarbeiterklasse — zumal der um die unproduktiven Lohnarbeiter erweiterte — genau der Verschleierung wesentlicher Verhältnisse, die Marx analysierte. Bereits im Lohn ist der die kapitalistische Produktion kennzeichnende Unterschied von notwendiger und Mehrarbeit ausgelöscht. Der Lohn ist die Form, die den Inhalt —die Ausbeutung der Ware Arbeitskraft — vermittelt und versteckt (20). Diese Form setzt sich auch beim Zirkulationskapital durch, wo es allerdings ein gesellschaftlich anders bestimmtes Ausbeutungsverhältnis verhüllt (21). Mit der weiteren Verselbständigung von Teilen der gesellschaftlich produzier­ten Mehrwertmasse im zinstragenden Kapital (Trennung von „arbeiten­dem", fungierendem und Leihkapital) setzt sich z. B. im Unternehmer­lohn (22) die Lohnform auch für Verhältnisse fest, die ihrem Inhalt, der Ausbeutung in Produktion und Zirkulation — direkt widersprechen. Schließlich erscheint den das Kapitalverhältnis in Produktion und Zirkula­tion reproduzierenden Lohnarbeitern der Lohn nicht nur als Preis ihrer Arbeit, sondern als spezifische Revenue (Einkommen), die ihnen als Eigen­tümer ihrer Arbeitskraft neben den aus dem Boden und dem Kapital stam­menden Revenuen zukommt (23). Inder Revenueform ist die gesellschaft­liche Bestimmung der Lohnarbeit als wert- und mehrwertproduzierende bzw. Zirkulationsarbeit verrichtende Lohnarbeit ausgelöscht. Der Lohn erscheint bloß noch als Vergütung für ein entsprechendes Arbeitsquantum.

Nun handelte es sich beim Lohn als Revenue bisher nur um die in der Reproduktion des Kapitals beschäftigten Lohnarbeiter. Ihre Revenuen sind Teile des produzierten Kapitals — Originalrevenuen. Anders bei den staatlichen Lohnarbeitern. Ihr Lohn setzt sich aus Teilen der Originalreve-nuen der Bourgeois und der Arbeiter (Profit und Lohn) zusammen. Sie produzieren ihren Lohn nicht selbst (was allerdings auch die kommerziel­len Lohnarbeiter nicht direkt tun), reproduzieren damit auch nicht das Kapitalverhältnis. Sie stehen nicht dem Kapitalisten gegenüber, der am Gebrauchswert ihrer Arbeit für die Wertproduktion interessiert ist. Sie stehen dem Staat gegenüber, der am Gebrauchswert ihrer Arbeit zur Erfül­lung seiner Funktionen interessiert ist. Der Lohn stellt das Äquivalent für die Reproduktionskosten der Ware Arbeitskraft dar. Im Ankauf der Lohn­arbeit ist das Recht und der Zweck eingeschlossen, die gekaufte Ware Arbeitskraft möglichst profitabel anzuwenden. Die Mehrarbeitsabpressung als Inhalt des Lohnarbeitsverhältnisses tritt in ihrer reinsten Form alsMehv Wertproduktion durch den produktiven Lohnarbeiter in der Industrie auf, verallgemeinert sich jedoch mit der Durchsetzung der kapitalistischen Pro­duktionsverhältnisse bis hin in Sphären, in denen nicht kapitalistisch pro­duziert wird, also etwa beim Staat. Mit der Ferne zum Reproduktionspro­zeß des Kapitals als sich selbst verwertender Wert verschwindet aber auch die der Lohnarbeit anhaftende Bestimmung, das Kapital zu reproduzieren und zu vermehren — was bleibt, ist nur die Reproduktion der Mittellosig­keit des Lohnarbeiters. Der Lohn ist auch in der Sphäre des Staates das Äquivalent für die Reproduktionskosten der Ware Arbeitskraft. Deren Ver-nutzung im Arbeitsprozeß aber geschieht mit dem Zweck der Herstellung für die bürgerliche Gesellschaft nützlicher Dienste und nicht der Vermeh­rung des vorgeschossenen Kapitals. Wesentliche Verhältnisse, die das kapi­talistische Klassenverhältnis konstituieren, treffen hier nicht mehr zu. Daß die Lohnarbeit beim Staat auch Mehrarbeit leistet, liegt in der benannten Tendenz des Kapitalismus, ist aber nicht Sinn und Zweck der ganzen Ver­anstaltung (24). Umgekehrt beim Kapital. Den Kapitalisten interessiert die konkret-nützliche Arbeit nur als Träger abstrakter, mehrwertproduzieren­der Arbeit.

Aus all den genannten Gründen kann der Begriff der Lohnarbeiter­klasse nur eine bloß formelle Zusammenfassung unterschiedlicher ökono­mischer Bestimmtheiten der Verausgabung von Lohnarbeit sein. Er ist da­her als klassenanalytischer Begriff kaum, als politischer Kampfbegriff (Ver­einheitlichung der Lohnarbeiterklasse) überhaupt nicht brauchbar. Was sich selbst als eine die innere Differenzierung der Lohnarbeiter auslöschen­de Einheit verschiedener ökonomischer Bestimmungen von Lohnarbeit darstellt, kann daher nicht Ausgangspunkt der Klassenanalyse sein. Als solcher muß vielmehr die spezifisch kapitalistische Form der Produktion und Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums angesehen werden, die verschiedenenartige Lohnarbeitsformen hervorbringt. In der kapitalisti­schen Produktionsweise stehen sich die Klasse der Arbeiter, die nur leben können, wenn sie das Kapital vermehren und die Klasse der Kapitalisten, die die aneignende Nicht-Arbeit, das Kapital, repräsentieren, gegenüber. Die vom Kapital ausgebeuteten Lohnarbeiter, die mit ihrer Arbeit das Kapitalverhältnis reproduzieren, stellen objektiv die Arbeiterklasse dar. Sie, als Gegenpol des Kapitals, sind auch Träger der historischen Aufgabe der Aufhebung des Kapitalverhältnisses. Die aus abgeleiteter Revenue be­zahlten und nicht in den Kapitalreproduktionsprozeß eingeschlossenen (anders als die kommerziellen Lohnarbeiter) staatlichen Lohnarbeiter können dann keine Abteilung der Arbeiterklasse sein.

Die Stellung beim Staat, d. h. neben und außerhalb des Kapitalver­hältnisses, und die spezifische Quelle des Lohns umreißen die objektive Stellung der staatlichen Lohnarbeiter zwischen Arbeiterklasse und Kapita­listenklasse. Sie sind deshalb (zusammen mit anderen unproduktiven, aus abgeleiteter Revenue bezahlten Lohnarbeitern, z. B. in Gewerkschaften, Parteien, Kapitalverbänden) als lohnarbeitende Mittelklasse anzusprechen. Sie unterscheiden sich so auch klar von der kleinbürgerlichen Mittelklasse (Handwerker, Bauern, Kleinhändler, „freie Berufe" usw.), die ihre Arbeit als Produktionsmittelbesitzer verrichtet, wenngleich auch die Quelle ihres Einkommens zum großen Teil Profit- und Lohnteile sind, die sie mit den Produkten ihrer selbständigen Arbeit an sich ziehen.
Von dieser Klassenbestimmung der staatlichen Lohnarbeit aus­gehend, gewinnt dann auch der Begriff der Lohnarbeiterklasse wieder eine begrenzte Bedeutung. Wenn auch die Lohnform nicht klassenkonstituie­rend ist, wie wir gesehen haben, so stellt sie doch den Hebel der spezifi­schen Bündnismöglichkeit zwischen Arbeiterklasse und lohnarbeitender Mittelklasse dar — und zwar als die Bedingungen des Arbeitsprozesses und der Abpressung von Mehrarbeit vermittelnde und verhüllende Form der Verausgabung von Arbeit. Dieser Inhalt der Lohnform schließt die Ten­denz zur inhaltlichen Entleerung der Arbeit und zur Gleichgültigkeit des Arbeiters (25), zur Verstümmelung der Arbeiter im zergliederten Arbeits-Prozeß, die Existenz des Arbeiters als Existenz nur für die Kapitalverwer­tung ein. Wenn diese Bestimmungen auch im Produktions- und Reproduk­tionsprozeß des Kapitals ausgeprägt werden, so treten sie doch auch mit ähnlichen Charakteristika in der nichtproduktiven Sphäre des Staates auf und stellen das Scharnier eines Bündnisses zwischen Arbeiterklasse und staatlichen Lohnarbeitern dar (26). Die Arbeiterklasse als objektiv revolu­tionäres Subjekt ist zentrale richtunqsgebende Kraft dieses Bündnisses, die staatlichen Lohnarbeiter sind wegen ihrer wachsenden Zahl, ihrer strategi­schen Bedeutung und ihren teilweise fortgeschrittenen Kämpfen unent­behrlicher Partner der Arbeiterklasse im Kampf für die Befreiung der Lohnarbeit. Um Grad und Form der Bündnisfähigkeit der staatlichen Lohnarbeiter genau zu bestimmen, muß allgemein und konkret-historisch untersucht werden, welcher Inhalt (gesellschaftliche Stellung, Funktion, Arbeitsinhalt, Bewußtsein) unter der Lohnform der Arbeit staatlicher Lohnarbeiter steckt. Das wird zur Klärung der Möglichkeiten und Schran­ken des Bündnisses beitragen.

Der Staat zieht zur Erfüllung seiner Aufgaben Teile der gesellschaft­lichen Waren- und Arbeitsmasse an sich. Die Größe dieser Teile hängt vom Umfang der Aufgaben und den ökonomischen Bedingungen (Akkumula­tionszyklus, Konkurrenz, Produktivität der Arbeit usw.) ihrer Erfüllung ab, konkret setzt sie sich erst über die Kämpfe der Klassen durch.

Der Staat verwendet eine bestimmte Geldsumme, um Produktions­mittel und Lohnarbeiter zu kaufen, die die für die kapitalistische Gesell­schaft notwendigen Dienste möglichst ökonomisch produzieren. Die öko­nomische Formbestimmung der Staatstätigkeit als im wesentlichen nicht-kapitalistisch schließt ein, daß die Vernutzung des Gebrauchswerts der angekauften Lohnarbeit nicht dazu dient, Mehrwert und also Kapital zu produzieren, sondern öffentliche Dienste zu erbrinaen. Wenn sich auch die Lohnarbeit als die die Verausgabung und Reproduktion der Arbeits­kraft regelnde Form für die Arbeit beim Staat durchgesetzt hat, so gilt sie in dieser Sphäre doch nur modifiziert. Sofern es sich um staatliche Lohnar­beiter in unkündbarer Stellung handelt, ist die „Freiheit der Lohnarbeit" zweifellos eingeschränkt. Der Lohn der staatlichen Lohnarbeiter ist wohl in bestimmten Perioden unterdurchschnittlich, das wird aber ausgeglichen durch die Sicherheit des Arbeitsplatzes und langfristig bzw. indirekt zu Buche schlagende Lohnteile (u. a. günstige Altersversorgung, verbilligter Bezug öffentlicher Dienste). Andererseits ist diese staatliche Lohnarbeit eben nicht wie die der Produktion und Zirkulation kapitalproduzierend  und auch überhaupt nicht oder nur sehr vermittelt dem Auf und Ab des kapitalistischen Akkumulationszyklus ausgesetzt, was allerdings für die ver­schiedenen Bereiche staatlicher Lohnarbeit sehr unterschiedlich aussieht. Für die staatlichen Lohnarbeiter heißt das allgemein: es wird zwar Arbeits­kraft gegen Lohn verkauft wie in der Industrie auch, aber beim Gebrauch dieser Arbeitskraft handelt es sich nicht um die direkte Erfahrung der Profitproduktion. Arbeitsbelastung und Arbeitsanspannung sind nicht so leicht auf einen „Output" zu beziehen, da — mit Ausnahme der Staatsbe­triebe, auf die ohnehin viele der hier angeführten Bestimmungen nicht oder nur teilweise zutreffen — keine zirkulationsfähigen Waren produziert wer­den. Die Effektivität der staatlichen Dienste mißt sich nicht am Markt. Die Anforderungen an Staatsdienste ergeben sich zum guten Teil außerhalb der Staatssphäre. Der Staat kann hier zwar modifizieren, im wesentlichen aber kann er nur reagieren, und eine seiner Reaktionen ist die Ökonomisierung und Rationalisierung der staatlichen Lohnarbeit — um dem Anforderungs­druck nachzukommen bzw. die faux frais zu senken, nicht um Kapital zu produzieren. Der konkret-nützliche Gebrauchswertcharakter der Arbeit steht objektiv im Vordergrund.

Die Analyse der Form und Funktionen des bürgerlichen Staates lie­fert implizit Beiträge zur Bestimmung der staatlichen Lohnarbeit. Denn die Untersuchung der Rolle der unterschiedlichen Staatsfunktionen im Repro­duktionsprozeß des Kapitals muß für die staatliche Lohnarbeit, die diesen Funktionen jeweils zugeordnet ist, Konsequenzen haben. Der innere Wi­derspruch des Staates in der bürgerlichen Gesellschaft, formal die Gleich­heit aller Individuen anzuerkennen, tatsächlich aber Ungleichheit und Klas­senherrschaft zu garantieren, muß auch die staatliche Lohnarbeit prägen. Ihre Tätigkeit trägt nicht nur einfach zur Reproduktion der Gesellschaft bei, sie trägt zur Reproduktion der kapitalistischen Klassengesellschaft bei. Sie vermittelt nicht nur Qualifikation und Gesundheit des Arbeitsvermö­gens, sie vermittelt auch direkt die Ideologie und die Repression der herr­schenden Klasse. Das hängt u. a. von ihrer Stellung innerhalt der staatli­chen Funktionen ab, also von ihrer konkreten Tätigkeit und ihrer Stellung in der Hierarchie. Die staatlichen Lohnarbeiter realisieren mit dem Inhalt ihrer Tätigkeit die Funktionen des Staates.

Weiterhin ist dem staatlichen Lohnarbeiter die Quelle seiner Bezah­lung, der industriell produzierte Neuwert (über Steuern), verschleiert. Ihm erscheint der Staat als „Arbeitgeber", der Staat als der Gesellschaft neben-oder übergeordnete Institution. Der staatliche Lohnarbeiter teilt daher auch die Illusion des Staates über sich selbst, Hüter und Diener des Ge­meinwohls zu sein. Noch anders ausgedrückt: im Bewußtsein des staat­lichen Lohnarbeiters erscheint der Staat nicht als Ausdruck der bürgerlichen Gesellschaft und eingebannt in ihre Grenzen, sondern als akti­ve und ordnungsstiftende Kraft gegenüber der Gesellschaft. Die mit der Funktion des Staates gegebene objektive Gemeinwohlorientierung Staatlicher Lohnarbeit, die den Klassencharakter ihrer Tätigkeit verhüllt, kann allerdings mit ihrer Bestimmung als normales Lohnarbeitsverhältnis mit dem „Arbeitgeber" Staat in Widerspruch geraten und zu Konflikten füh­ren.
In der Lohnform der Arbeit beim Staat ist die Möglichkeit zuneh­menden vermittelten Drucks durch Interessen und Auseinandersetzungen in der Produktionssphäre eingeschlossen. Für diejenigen, aus deren Reve­nue der Staat unterhalten wird (Kapital und Lohnarbeiter des Kapitals), stellen sich eben die Tätigkeiten staatlicher Lohnarbeiter nicht nur als konkret-nützliche dar, sondern auch als Abzüge von ihrem Profit bzw. Lohn. Insofern erscheint ihnen alle Arbeit beim Staat als gleichgeltend, als bloße Verausgabung eines Teils unterschiedsloser gesellschaftlicher Arbeits­zeit und ihres entsprechenden Geldausdrucks. Aus dem Interesse an mög­lichst geringen Steuern resultiert der Druck vor allem der Kapitaleigner auf den Staat, milder oder schärfer je nach dem Gang der Akkumulation, die Kosten seiner Funktionen zu ökonomisieren. Auf die staatlichen Lohnar­beiter schlägt sich das in der Form nieder, daß sie vom Staat gezwungen werden, die über ihre Reproduktion hinausgehende Mehrarbeit zu erhöhen, um damit die Personalkosten zu drücken.

Das kann nicht nur zu Brüchen im Bewußtsein der staatlichen Lohn­arbeiter führen, die sich mit dem Inhalt ihrer Arbeit identifizieren, durch zunehmende Verknappung der finanziellen Mittel aber die Ziele ihrer Ar­beit nicht erreichen können (z. B. soziale Rehabilitation, gute Erziehung) und selbst materiell schlechter gestellt werden. Das kann zum Widerspruch zwischen Inhalt und Form der Arbeit auch dergestalt führen, daß etwa dem Polizisten der „Schutz der öffentlichen Ordnung" nicht mehr ausrei­chend vergütet erscheint, was ein Ansatz der Erschütterung seiner Staats­loyalität ist. Auch die mittelbare oder unmittelbare Erfahrung sozialer Konflikte (etwa unzureichende medizinische Versorgung und die Kämpfe, Demonstrationen usw. zu ihrer Verbesserung) kann zu einem ähnlichen Ergebnis und zur Aktionsbereitschaft führen. Für die Masse der staatlichen Lohnarbeiter in den verschiedenen Bereichen staatlicher Tätigkeit wird sich eine Verengung des finanziellen Spielraums des Staates in Lohndruck, geringerer Arbeitsplatzsicherheit, Steigerung der Arbeitshetze, Abbau ihrer noch verbliebenen Privilegien und zunehmender politischer Disziplinierung äußern. Es tritt also eine Annäherung ihrer Lebenslage an die der übrigen Lohnarbeiter ein. Die Verwendung des Begriffs „staatlicher Lohnar­beit" — trotz aller gemachten Einschränkungen — bedeutet insofern ein wissenschaftliches und politisches Programm, als hinter der erscheinenden Bewegung die Relevanz der Lohnform für die reale Situation der beim Staat Beschäftigten aufzuspüren ist und über sie die Verbindung der staat­lichen Lohnarbeiter zu der Arbeiterklasse geklärt werden soll.

Es darf aber nicht übersehen werden, daß der oben skizzierten Mög­lichkeit der Annäherung der staatlichen Lohnarbeiter an die übrigen Lohn­arbeiter einige Tendenzen entgegenstehen. Da ist zunächst die schon er­wähnte Bindung an die Inhalte der Arbeit, die zusammen mit deren objek­tiver Funktion teilweise den Interessen der Arbeiterklasse entgegenstehen muß, solange die bürgerliche Gesellschaft existiert. Weiterhin wird der Staat versuchen, durch Privilegien und ökonomisch-politischen Druck sein Personal bei der Stange zu halten. Bei einer Reihe von staatlichen Lohnar­beitern, vor allem im höheren Verwaltungsapparat, versteckt sich unter dem Begriff staatliche Lohnarbeit nur das leitende politische Personal der Bourgeoisie. Sie werden auch nicht mehr durch Gesetze der Lohnarbeit, sondern höchstens durch die der politischen Konjunktur bestimmt und erhalten beträchtliche politische Zusatzgratifikationen. Auf die allgemei­nen realen und bewußtseinsmäßigen Unterschiede der staatlichen Lohnar­beiter im Verhältnis zu den übrigen Lohnarbeitern ist oben schon eingegan­gen worden.

Die verschiedenen Staatsfunktionen haben eine unterschiedliche Be­deutung für den gesellschaftlichen Reproduktionsprozeß, eine Differenzie­rung, die sich in der Bewegung der historischen Kapitalakkumulation und der aus ihr hervorgetriebenen sozialen Konflikte noch verschärft. Die kon­kret-historische Analyse wird klären, welche Staatsfunktionen wann, in welchem Ausmaß und mit welchen finanziellen Modalitäten und Schran­ken notwendig werden. In ihr wird auch zu zeigen sein, daß die verschiede­nen Abteilungen der staatlichen Lohnarbeiter in unterschiedlicher Weise von der ökonomischen und politischen Bewegung der bürgerlichen Gesell­schaft betroffen sind. Hier wäre sowohl die Bedeutung tradierter Ideologie und Beschäftigungsformen in den nationalen Gesellschaften (z. B. Beam­tentum) zu berücksichtigen, wie auch stärker nach Arbeitsbereichen und Stellung in der Hierarchie zu differenzieren ist.

 

Anmerkungen

13) Zur Bündniskonzeption von KPD und DKP, in: Probleme des Klassenkampfes, 4/1972.
14) Vgl. Gerhard Armanski, Zur Kritik der Theorie der neuen Mittelklasse, in: a. a. O.; Autorenkollektiv, Zur Klassenanalyse der Studenten, Erlangen 1972 Die hier vertretene Position wurde auch von Mitautoren der vorliegenden Arbeit geteilt. Sie hatte in der Abgrenzung von Analysen, die das Begriffspaar produktive und unproduktive Arbeit unbesehen als Instrumente der realen Klassenanalyse verwendeten (vgl. die Arbeiten Schmierers), einen bestimmten wissenschaftlichen und politischen Stellenwert. Sie wird aber heute von uns in wesentlichen Punkten als unrichtig angesehen. Darauf wird weiter unten einge­gangen.
15) So Nicos Poulantzas, Zum marxistischen Klassenbegriff, Berlin (W) 1973, S. 14 ff. und 22 ff.
16) So Heinz Jung, Zu den klassentheoretischen Grundlagen einer sozialstatisti­schen Analyse der Klassen- und Sozialstruktur der BRD, in: IMSF (Hrsg.), Klassen- und Sozialstruktur der BRD 1950-1970, Teil I: Klassenstruktur und Klassentheorie, Frankfurt a. M. 1972, S. 1-192

17) Vgl. Projekt Klassenanalyse, Materialien zur Klassenstruktur der BRD, Erster Teil, a. a. O., S. 269 ff.
18) Eine Ausnahme macht Norbert Kostede, Akkumulation und Mittelklassen, in: Probleme des Klassenkampfs 13/74.
19) MEW 25, S. 892
20) vgl.  MEW 23, S. 555
21) vgl.  MEW 25, S. 278ff
22) vgl.  MEW 25, S. 393ff
23) vgl. MEW 25, S.822
24) In diesem Punkt ist die Kritik des Projekts Klassenanalyse an der Lohnarbeiter­klassentheorie verkürzt (Materialien zur Klassenstruktur der BRD, S. 493 f.). Wenn es richtig ist, daß staatliche Lohnarbeit keinen Mehrwert produziert, sondern Mehrarbeit leistet, folgt daraus noch lange nicht, daß nicht über die Bestimmung ihres Ankaufs und ihrer Vernutzung als Lohnarbeit der abstrakt­gesellschaftliche Charakter der Arbeit erzwungen würde. Dies hat für die Frage nach der Gleichgültigkeit der staatlichen Lohnarbeiter gegenüber „Arbeit­geber" und Arbeitsinhalt beträchtliche Bedeutung. Das Projekt Klassenanalyse verschüttet aber das Problem lediglich.
25) Zur Kategorie der Gleichgültigkeit vgl. Autorenkollektiv am Institut für Sozio­logie der FU Berlin, Klassenlage und Bewußtseinsformen technisch-wissen­schaftlicher Lohnarbeiter, Frankfurt a. M. 1973, S. 115 ff. und 134 ff.
26) Ähnlich führt Kostede aus, „daß die notwendige Verallgemeinerung der Form der Lohnarbeit über den kapitalistischen Produktionsprozeß hinaus für die Analyse der Widersprüche der realen Klassenkämpfe von eminenter Bedeutung ist und dieser Aspekt im Begriff der Lohnarbeit uns einen kategorialen Schlüssel für das Aufdecken und die Darstellung der realen Zwänge und Herr­schaftsformen gibt, denen zunehmend auch diese Bevölkerungsteile der bürger­lichen Gesellschaft im zyklischen Gang der Akkumulation und in der arbeits­teiligen Verödung und Entleerung der wirklichen kommerziellen und unpro­duktiven Arbeitsprozesse ausgeliefert sind". A. a. 0., S. 9

Editorische Hinweise

Der Text wurde entnommen aus: Gerhard Armanski, Boris Penth, Jörg Pohlmann, Staatsdiener im Klassenkampf, Gaiganz 1975, S. 19-27