Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Frankreich, Einwanderungspolitik (Teil 2)
Die „Leonarda-Affäre“: Einwanderungspolitik in Frankreich führt zu Protesten

11-2013

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Die Kunst, es Allen recht machen zu wollen und es dabei definitiv niemandem recht zu machen, beherrscht Frankreichs Präsident François Hollande wirklich meisterhaft. Sein Fernsehauftritt vom Samstag, den 19. Oktober 13 ist ein wahres Prachtwerk dieser Zunft. An den zwei Tagen zuvor hatten in Paris tausende von Oberschülerinnen und Oberschülern gegen die Abschiebung zweier Gleichaltriger in den Kosovo sowie nach Armenien protestiert. Auf der Place de la Nation mischten sich so am Freitagmittag - 18. Oktober - mehrere Tausend Heranwachsende mit linken Aktivisten, Gewerkschaftern mit CGT- Fahnen, einzelnen Politprominenten wie Jean-Luc Mélenchon von der Linkspartei (Parti de Gauche) und sehr viel martialisch auftretender Polizei.

Im Zentrum der Aufmerksamkeit stand die „Affäre Leonarda“, nach dem Vornamen eines 15jähriges Roma-Mädchens, das bei einem Schulausflug durch die Polizei aufgegriffen und zusammen mit ihrer Familie nach Kosovska Mitrovica abgeschoben worden war. Ihr Vater war am 08. Oktober d.J., die übrige Familie Dibrani am 09. Oktober vom französischen Jura über Lyon in den Kosovo ausgeflogen worden.

Die französische Öffentlichkeit war darüber gespalten. Ebenso wie über den Fall des 19jährigen Armeniers Khatchik Kachatyran, eines Berufsschüler aus Paris, der drei Tage nach der Abschiebung von Leonarda Dibran – gefesselt und von Polizisten begleitet - in sein Herkunftsland befördert wurde. Khatchik war zusammen mit einer Gruppe von Jugendlichen festgenommen worden, denen in einem Einkaufsviertel im Zentrum von Paris ein angeblicher Diebstahlsversuch an einem Paar Schuhe zur Last gelegt wurde. Dazu hat weder eine gerichtliche Untersuchung noch eine Verurteilung stattgefunden, bevor Khatchik binnen weniger Stunden ins Flugzeug gesetzt wurde. Der als guter Schüler geltende, aktiv nach Zukunftsperspektiven suchende junge Mann droht nun als Deserteur verfolgt zu werden, weil er sich nicht bei der armenischen Botschaft in Paris registriert hatte, nachdem er mit seiner ehemals geflohenen Familie vor zwei Jahren nach Frankreich gekommen war. Günstigstenfalls droht ihm die sofortige Einziehung zum Militärdienst in dem Land, das seit 1988 von einem aufgeheizten Nationalismus geprägt wird, sonst Gefängnis.

Ein Verwaltungsbericht stimmt die Öffentlichkeit ein

Über die Familie von Leonarda Dibrani wurde durch einen Bericht der Verwaltung, der die Überprüfung möglicher Unregelmäßigkeiten bei der Abschiebung zum Gegenstand hatte, hingegen eher Negatives in der Öffentlichkeit verbreitet. Ihrem Vater wird häusliche Gewalt zur Last gelegt – die Tochter erklärte, sie habe insgesamt zwei mal Prügel bezogen, als sie zum ersten Mal um vier Uhr früh nach Hause kam und weil sie mit Jungs unterwegs gewesen sei, danach habe man sich in der Familie aber arrangiert -, und die Verwaltung behauptet, er habe Jobangebote ausgeschlagen und „offen erklärt, er warte auf das Kassieren von Kindergeld, sobald er Aufenthaltspapiere habe“. Er habe „kleinere Straftaten“ begangen und sei „mit der Justiz im Konflikt gestanden“. Aber von konkreten Verurteilungen, über die die Medien sich sicherlich sonst ausgelassen hätten, wurde nichts bekannt. Seine Anwältin, die inzwischen gerichtlich Einspruch gegen die Abschiebeverfügung erhoben hat, macht unterdessen geltend, ihr Dossier enthalte ein (befristetes) Arbeitsangebot, das der Vater besorgt habe.

Ferner wurde publik, die Familie komme gar nicht aus dem Kosovo, wie der Vater in einem Asylantrag fälschlich angegeben habe. Und war in der Erwartung, es sei „leicht“, so einen Flüchtlingsstatus und Aufenthaltspapiere zu bekommen, wie er selbst in Interviews mit französischen Fernsehsendern - einigermaßen großsprecherisch auftretend - ausführte. In Wirklichkeit stammt allerdings nur der Vater aus dem Kosovo. Die Mutter von Leonarda und fünf anderen Kindern stammt aus einer Romafamilie in Sizilien. Und die Familie lebte zuletzt in Fano an der italienischen Ostküste. Die dortigen Behörden sollen jedoch (wie der örtliche Bürgermeister gegenüber französischen Medien erklärte) dem Vater gedroht haben, ihm das Sorgerecht für seine Kinder zu entziehen, weil er diese zum Betteln gezwungen und nicht in die Schule geschickt habe.

Dies Alles mag nun stimmen oder nicht; wahrscheinlich ist der Bericht zumindest einseitig zugespitzt. Er diente dazu, die französische Öffentlichkeit darauf einzustimmen, die Abschiebung als legitim zu erachten. Dabei ging natürlich unter, dass es eben um Prinzipien geht, und nicht um eine Einzelfallprüfung, bei welcher das (natürlich unzureichend informierte) Publikum gute oder schlechte Noten an Individuen oder Familien zu vergeben hat. Rechte müssen für Alle gelten, etwa jenes der Kinder und Heranwachsenden auf eine nicht unterbrochene Schulbildung; zumal falls Leonarda in Wirklichkeit gar nichts mit dem Kosovo zu tun hat, ist deren Fortsetzung mehr als ernsthaft gefährdet... Mag man den Vater auch für einen unangenehmen oder unehrenhaften Zeitgenossen halten (wofür seine ressentimentgeladene Äußerung spricht, er verstehe nicht, warum man ihm Aufenthaltspapiere gebe und sie „arabischen Dealern“ erteile) - und falls er sich wirklich etwas zuschulden kommen lässt, gibt es dafür bzw. dagegen ja auch in Frankreich allgemeingültige Gesetze. Die Botschaft, die beim Gutteil des Publikums ankam, war allerdings eher jene: „Solche Leute haben in UNSEREM Land nichts verloren.“

65 Prozent erklärten sich in einer Umfrage am Wochenende des 19./20. Oktober dann auch „gegen die Rückkehr Leonardas nach Frankreich“; 33 Prozent dafür. Umfragen sind stets mit Vorsicht zu genießen, bei einem emotionalisiert in der Öffentlichkeit verhandelten Thema erst recht. Aber die schweigende Mehrheit dürfte dies doch wirklichkeitsgetreu abbilden.

Eine abwegige ,Kompromiss’idee

François Hollandes „Kompromiss“-Vorschlag lautet nun: Die 15jährige solle „allein“ nach Ostfrankreich zurückkehren. Ihre Brüder, Schwestern und Eltern allerdings nicht. (Entweder soll sie in ein Heim oder eine Aufnahmefamilie einziehen, oder aber zu ihrer Schwester. Diese hatte im Alter von 16 Jahren geheiratet und lebt in Ostfrankreich – will allerdings dem Vernehmen nach von einer solchen Lösung überhaupt nichts wissen. Kritiker/innen meinen unterdessen, es werde da ein sehr schlechtes offizielles Beispiel für Migrantenkinder gegeben: Die Schule gelte doch als „Integrationsfaktor“ schlechthin, aber in dem Falle erweise sich eher die extrem frühe Heirat als faktisches Tor zur Integration in Frankreich, wenn Leonarda der Aufenthalt verwehrt bleibe und die Schwester bleiben könne.)

François Hollandes Vorschlag stellt jedenfalls absolut niemanden zufrieden, weder die Humanisten noch die Abschiebebefürworterinnen, während die Rechtsopposition im Rückkehrangebot eine angebliche „Kapitulation des Staates“ wittert und Marine Le Pen noch zuspitzt: „Leonardas Familie hat selbstverständlich nichts in Frankreich zu suchen.“ Ferner ruft er auch juristische Bedenken hervor, da er im Kern Kinder- und Jugendschutz widerspricht. Die Abschiebung der Schülerin zusammen mit ihrer Familie war just damit begründet worden, dass eine Ausweiseverfügung für ihren Vater vorliege und man die Familie nicht auseinanderreißen dürfe – ihre Trennung widerspräche dem Jugendschutz.

In relativ breiten Kreisen hatte es zuvor zu erheblichem Unmut geführt, dass Polizeibeamte in einen Schulausflug eingegriffen hatten. Schulen gelten, ebenso wie Kirchen und Universitäten, traditionell vielfach als Tabuzonen betrachtet, die vor polizeilichen Zugriffen geschützt werden müsse. Der umstrittene rechtssozialdemokratische Innenminister Manuel Valls hat deswegen in Reaktion auf die Ereignisse auch zugesichert, dass keine Aufgriffe von Kindern und Jugendlichen im Schulbereich mehr stattfinden solle – die mit Abschiebungen befasste Polizei wird künftig eben warten, bis die Kinder am Abend nach Hause kommen. Leonarda Dibrani hatte allerdings vor dem Schulausflug bei einer Freundin auswärts übernachtet.

Lehrergewerkschaften, Linke und auch die parteiinternen Kritiker Valls‘ innerhalb der französischen Sozialdemokratie nutzten die Chance, um ihrem allgemeinen Unmut mit der verschärften Abschiebepolitik Ausdruck zu verleihen. Valls erklärte unlängst stolz, seine Abschiebezahlen lägen über denen der Jahre 2009 bis 2011, also in der ersten Hälfte der Amtszeit der rechten Vorgängerregierung1. Seit dem 21. Oktober 13 sind nun allerdings Herbstferien für die französischen Schüler/innen angesagt. Am kommenden Dienstag, den 05. November 13 sind sie nun zu neuen Demonstrationen aufgerufen.

Am 22. Oktober forderte der Grünenpolitiker Jean-Vincent Placé zur breiten Teilnahme daran auf. Der sozialdemokratische Arbeits- und Sozialminister Michel Sapin antwortete darauf jedoch, solche Positionen seien „Kindereien“; und eine Mehrheit soll es (wiederum einer Umfrage) angeblich befürworten, falls die Grünen aus der Regierung fliegen oder ausziehen.

Es wird sich erweisen müssen, ob die Schulferien die Dynamik aus dem Protest genommen haben, oder ob dieser neue Nahrung erhält.

1 Vgl. http://www.lemonde.fr/idees/article/2013/10/19/la-tartufferie-du-ps-sur-l-immigration_3499477_3232.html

Editorische Hinweise

Wir erhielten den Artikel vom Autor für diese Ausgabe.