Adornos intellektuelle
Biographie ist bis in ihre ästhetischen Abstraktionen hinein von
der Erfahrung des Faschismus gezeichnet. Die Reflexionsweise
dieser Erfahrung, die an den Gebilden der Kunst den
unauflösbaren Zusammenhang von Kritik und Leiden abliest, macht
die Kompromisslosigkeit des Anspruchs auf Negation aus und weist
ihn zugleich in seine Grenzen. In der Reflexion auf die durch
die ökonomischen Naturkatastrophen der kapitalistischen
Produktion hervorgetriebene faschistische Gewalt, weiss das
»beschädigte Leben«, dass es sich der Verstrickung in die
ideologischen Widersprüche der bürgerlichen Individualität,
deren unwiderruflichen Zerfall es erkannt hat, gleichwohl nicht
entziehen kann. Der faschistische Terror produziert nicht nur
die Einsicht in den hermetischen Zwangscharakter der
hochindustrialisierten Klassengesellschaften, er verletzt auch
die Subjektivität des Theoretikers und verfestigt die
Klassenschranke seines Erkenntnisvermögens. Das Bewusstsein
davon spricht Adorno in der Einleitung der »minima moralia« aus:
»Die Gewalt, die mich vertrieben hatte, verwehrte mir zugleich
ihre volle Erkenntnis. Ich gestand mir noch nicht die Mitschuld
zu, in deren Bannkreis gerät, wer angesichts des Unsäglichen,
das kollektiv geschah, von Individuellem überhaupt redet.«
Es scheint, als sei Adorno durch die schneidende Kritik am
ideologischen Dasein des bürgerlichen Individuums hindurch
unwiderstehlich in dessen Ruine gebannt. Dann aber hätte Adorno
die Vereinsamung der Emigration nie wirklich verlassen. Das
monadologische Schicksal des durch die Produktionsgesetze der
abstrakten Arbeit vereinzelten Individuums spiegelt sich in
seiner intellektuellen Subjektivität. Daher vermochte Adorno die
private Passion angesichts des Leidens der Verdammten dieser
Erde nicht in eine organisierte Parteilichkeit der Theorie zur
Befreiung der Unterdrückten umzusetzen.
Adornos gesellschaftstheoretische Einsicht, der zufolge "das
Nachleben des Nationalsozialismus in der Demokratie als
potentiell bedrohlicher denn das Nachleben faschistischer
Tendenzen gegen die Demokratie« anzusehen sei, liess seine
progressive Furcht vor einer faschistischen Stabilisierung des
restaurierten Monopolkapitals in regressive Angst vor den Formen
praktischen Widerstands gegen diese Tendenz des Systems
umschlagen.
Er teilte die Ambivalenz des politischen Bewusstseins vieler
kritischer Intellektueller in Deutschland, die projizieren, die
sozialistische Aktion von links setze das Potential des
faschistischen Terrors von rechts, das sie bekämpft, überhaupt
erst frei. Damit aber ist jede Praxis a priori als blind
aktionistisch denunziert und die Möglichkeit politischer Kritik
schlechthin boykottiert nämlich die Unterscheidung zwischen
einer im Prinzip richtigen vorrevolutionären Praxis und deren
kinderkranken Erscheinungsformen in entstehenden revolutionären
Bewegungen.
Im Gegensatz zum französischen Proletariat und seinen
politischen Intellektuellen fehlen in Deutschland eine
ungebrochene Tradition gewaltsamer Résistance und damit die
geschichtlichen Voraussetzungen für eine von
Irrationalisierungen entlastete Diskussion der historischen
Legitimität von Gewalt. Die herrschende Gewalt, die Adornos
eigener Analyse zufolge auch nach Auschwitz zur neuen
Faschisierung drängte, wäre keine, wenn die marxistische, "Waffe
der Kritik" nicht durch die proletarische "Kritik der Waffen"
ergänzt werden müsste. Nur dann ist Kritik das theoretische
Leben der Revolution.
Dieser objektive Widerspruch in der Theorie Adornos drängte zum
offenen Konflikt und liess die sozialistischen Schüler zu
politischen Gegnern ihres philosophischen Lehrers werden. Sosehr
Adorno die bürgerliche Ideologie des interesselosen Aufsuchens
der Wahrheit als Schein des Tauschverkehrs durchschaute, so sehr
misstraute er den Spuren des politischen Richtungskampfes im
wissenschaftlichen Dialog.
Doch seine kritische Option, ein Denken, dem Wahrheit zukommen
soll, müsse sich aus sich selbst heraus auf die praktische
Veränderung der gesellschaftlichen Wirklichkeit ausrichten,
verliert an Verbindlichkeit, wenn es sich nicht auch in
organisatorischen Kategorien zu bestimmen vermag. Immer weiter
entfernte sich Adornos dialektischer Begriff der Negation von
der historischen Notwendigkeit einer objektiven Parteilichkeit
des Denkens, die in Horkheimers spezifischer Differenzbestimmung
der kritischen zur traditionellen Theorie zumindest in der
Programmatik von der "dynamischen Einheit« des Theoretikers mit
der beherrschten Klasse enthalten war.
Die Abstraktion von diesen Kriterien hat Adorno schliesslich im
Konflikt mit der studentischen Protestbewegung in eine fatale
und von ihm selbst kaum durchschaute Komplizität mit den
herrschenden Gewalten getrieben. Die Kontroverse bezog sich
keineswegs allein auf das Problem privater Praxisabstinenz,
sondern das Unvermögen zur Organisationsfrage verweist auf eine
objektive Unzulänglichkeit der Theorie Adornos, die dennoch
gesellschaftliche Praxis als erkenntniskritisch und
gesellschaftstheoretisch zentrale Kategorie unterstellt.
Gleichwohl vermittelte die Reflexion Adornos den politisch
bewussten Studenten die herrschaftsentschleiernden
Emanzipationskategorien, die unausdrücklich den veränderten
geschichtlichen Bedingungen revolutionärer Situationen in den
Metropolen entsprechen, welche nicht mehr aus unmittelbaren
Verleumdungserfahrungen bestimmt werden können.
Adornos mikrologische Darstellungskraft förderte aus der
Dialektik von Warenproduktion und Tauschverkehr die verschüttete
emanzipative Dimension der Marxschen Kritik der politischen
Ökonomie zutage, deren Selbstbewusstsein als einer
revolutionären Theorie, also einer Lehre, deren Aussagen die
Gesellschaft unter dem Aspekt radikaler Veränderung
konstruieren, den marxistischen Wirtschaftstheoretikern der
Gegenwart zumeist verlorengegangen ist. Adornos wesenslogische
Reflexion auf die Kategorien der Verdinglichung und
Fetischisierung, der Mystifikation und zweiten Natur,
überlieferte das Emanzipationsbewusstsein des westlichen
Marxismus der zwanziger und dreissiger Jahre, Korschs und
Lukacs', Horkheimers und Marcuses wie er sich in Opposition zum
offiziellen Sowjetmarxismus ausbildete.
Ursprung und Identität entschlüsselte Adorno in seiner
Philosophiekritik der fundamentalontologischen Seins- und
positivistischen Faktizitätsideologie als Herrschaftskategorie
der Zirkulationssphäre, deren liberale Legitimationsdialektik
bürgerlicher Sittlichkeit, der Schein des gerechten Tausches
gleicher Warenbesitzer, sich längst aufgelöst hat.
Doch dasselbe theoretische Instrumentarium, vermittels dessen
Adorno diese gesamtgesellschaftliche Erkenntnis zu realisieren
vermochte, verstellte ihm auch den Blick auf die historischen
Möglichkeiten einer befreienden Praxis.
In seiner Ideologiekritik am Tod des bürgerlichen Individuums
zittert ein Moment berechtigter Trauer nach. Doch über diese
radikalisierte letzte Bürgerlichkeit seines Denkens konnte
Adorno im hegelschen Sinn dieses Begriffs nicht immanent
hinausgehen. Er blieb an sie mit furchtsamem Blick auf die
schreckliche Vergangenheit fixiert: das immer zu spät kommende
Bewusstsein dessen, der erst in der Dämmerung zu begreifen
anfängt.
Adornos Negation der spätkapitalistischen Gesellschaft ist
abstrakt geblieben und hat sich dem Erfordernis der Bestimmtheit
der bestimmten Negation verschlossen, jener dialektischen
Kategorie also, der er sich aus der Tradition Hegels und Marxens
verpflichtet wusste. Der Praxisbegriff des Historischen
Materialismus wird in seinem letzten Werk, der "Negativen
Dialektik«, nicht mehr auf den sozialen Wandel seiner
geschichtlichen Formbestimmungen hin befragt, den bürgerlichen
Verkehrs- und proletarischen Organisationsformen. In seiner
kritischen Theorie spiegelt sich das Absterben der Klassenkämpfe
als Verkümmerung der materialistischen Geschichtsauffassung.
Zwar war einst für Horkheimer die Zurechnung der Theorie zur
befreienden Praxis des Proletariats programmatisch; doch die
bürgerliche Organisationsform der Kritischen Theorie brachte
schon damals Programm und Durchführung nicht zur Deckung. Die
Zerschlagung der Arbeiterbewegung durch den Faschismus und ihre
scheinbar unwiderrufliche Integration in der Rekonstruktion des
westdeutschen Nachkriegskapitalismus veränderten den Sinn der
Begriffe der Kritischen Theorie. Sie mussten notwendig an
Bestimmtheit verlieren, doch vollzog sich dieser
Abstraktionsprozess blind.
Die konkrete und materiale Geschichte, die Adorno dem
"Geschichtslosen Begriff der Geschichte«, der Geschichtlichkeit
Heideggers kritisch entgegensetzte, wanderte immer mehr aus
seinem Begriff gesellschaftlicher Praxis aus und ist in seinem
letzten Werk, der "Negativen Dialektik«, derart verdunstet, dass
sie der transzendentalen Armut der Heideggerschen Kategorie
assimiliert erscheint.
Zwar bestand Adorno in seinem Referat auf dem deutschen
Soziologentag zu Recht mit Nachdruck auf einer Geltung der
marxistischen Orthodoxie: die industriellen Produktivkräfte
seien immer noch in kapitalistischen Produktionsverhältnissen
organisiert, und die politische Herrschaft beruhe nach wie vor
auf der ökonomischen Ausbeutung der Lohnarbeiter. Doch so sehr
seine Orthodoxie auch in Konflikt mit der herrschenden
westdeutschen Soziologie auf jener Tagung geriet, so musste sie
doch folgenlos bleiben, denn die kategorialen Formen waren nicht
auf die materiale Geschichte bezogen.
Dieser fortschreitende Abstraktionsprozess von der
geschichtlichen Praxis hat Adornos Kritische Theorie in die kaum
noch legitimierbaren Kontemplationsformen der traditionellen
Theorie zurückverwandelt.
Der Traditionalisierungsprozess seines Denkens erweist seine
Theorie als eine altgewordene Gestalt der Vernunft in der
Geschichte. Die materialistische Dialektik der gefesselten
Produktivkräfte reflektiert auf der Ebene seines Denkens in die
Vorstellung der sich selber fesselnden Theorie, welche
unentrinnbar in die Immanenz ihrer Begriffe verstrickt ist. "Ist
das Zeitalter der Interpretation der Welt vorüber und gilt es,
sie zu verändern, dann nimmt die Philosophie Abschied. . . nicht
die Erste Philosophie ist an der Zeit, sondern eine letzte.«
Diese letzte Philosophie Adornos hat sich von ihrem Abschied
nicht verabschieden wollen und können.
Editorische
Hinweise
Der Text wurde entnommen aus:
Hans-Jürgen Krahl, Konstitution und
Klassenkampf,
Ffm 1971, S. 285-288,
erstveröffentlicht wurde er in der
"Frankfurter
Rundschau" zum Tode Theodor W.
Adornos am 13.8.1969
OCR-Scan red.
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