taz: Herr Schubert, Sie
eröffnen heute mit einem Vortrag über Karl Marx die
Veranstaltungsreihe „Let’s talk about class“. Was können wir
denn heute noch mit dem Klassenbegriff anfangen? Ist die Welt
nicht etwas komplexer als Bourgeois gegen Proletarier?
Karl-Heinz Schubert: Marx
hat schon ganz früh festgestellt, dass sich die Klasse als
Klasse überhaupt nur im Kampf konstituiert, wo die Individuen
ihre subjektiven Interessen als gemeinsame entdecken. Heute
leben wir in einer Zeit, wo in den Metropolen die Klasse
verschwunden zu sein scheint und das bürgerliche, hedonistische
Individuum als Leitfigur gilt.
Solange die Menschen nicht am
Klassenkampf teilnehmen, sind sie nicht Teil einer Klasse?
Wir müssen unterscheiden zwischen
einer soziologisch-beschreibenden Sichtweise auf die
Gesellschaft und einer ökonomisch-analytischen. Aus dem
Blickwinkel der ersteren existiert die Klasse scheinbar nicht,
es gibt nur noch Arme, Reiche, Bildungsferne, Wutbürger,
Hedonisten und so weiter. Dagegen analysiert die Marx’sche
Kritik der Ökonomie die ökonomische Basis der kapitalistischen
Gesellschaft, auf deren Grundlage sich zwei Klassen
konstituieren. Auf der einen Seite die Kapitalisten als
Eigentümer der Produktionsmittel. Auf der anderen die
Lohnarbeiter, deren Ware Arbeitskraft sie für eine bestimmte
Zeit kaufen und unter ihr Kommando stellen. Das Besondere an der
Ware Arbeitskraft ist aber, dass sie mehr an Wert produziert,
als sie den Kapitalisten gekostet hat. Dieser „Mehrwert“ gehört
jedoch allein ihm.
Und das ist heute noch so?
Diese Kernstruktur ist nach wie vor die gleiche. Ob man in einer
Fabrik Schuhe produziert oder in einer Bank arbeitet, man ist
Lohnabhängiger. Profit und Zins, Formen des Mehrwerts, gehören
dem Kapitalisten.
Also ist heute das Problem,
dass innerhalb der lohnabhängigen Klasse die Differenzierung so
groß geworden ist, dass man das gemeinsame Klasseninteresse
nicht mehr erkennt?
Soziologisch ist es natürlich so,
dass sich Lohnabhängige mit geringem Einkommen einander näher
fühlen als zu Facharbeitern, die immer noch ein 14. Monatsgehalt
beziehen. Wir stehen also vor der Frage, wie innerhalb der
proletarischen Klasse, zwischen einzelnen Fraktionen, Bündnisse
geschlossen werden können. Dazu müssen die Menschen gemeinsame
politische Erfahrungen machen, wodurch sie erkennen, dass sie zu
diesem soziologisch diffusen Kreis der proletarischen Klasse
gehören.
Aber warum ist es wichtig zu
sagen, dass sie einer Klasse angehören, wenn die so diffus ist?
Wir Marxisten gehen davon aus,
dass diese Gesellschaft aufgehoben werden muss in eine nicht
kapitalistische. Und dass diese neue Gesellschaft nur von denen
gestaltet werden kann, die heute schon die Produzenten sind,
bislang aber nicht über die „Früchte ihrer Arbeit“ verfügen
können.
Aber der gut verdienende
Facharbeiter hat kein Interesse, diese Gesellschaft zu
verändern. Dem geht’s doch gut.
Die Frage, die Sie damit
aufwerfen, können Einzelne gar nicht beantworten. Einzelne wie
unser „Arbeitskreis Kapitalismus aufheben“, die sich mit der
politischen Ökonomie dieser Gesellschaft befassen, können nur
aufzeigen, dass wir in einer Klassengesellschaft leben. Wie die
Subjekte das wahrnehmen, können wir nicht stellvertretend
erklären. Die Menschen müssen sich selbst als Teil ihrer Klasse
definieren, das kann man ihnen nicht abnehmen. Deswegen sind wir
für die politische Selbstorganisation und lehnen das Konzept der
Avantgarde-Partei ab, die das „richtige Bewusstsein“ in die
Klassenkämpfe reinträgt.
Aber wie sonst kommen die
Menschen dazu, sich als Teil einer Klasse zu betrachten?
Das geht, denke ich, nur in
Konfliktsituationen. Nehmen wir Kotti&Co. Da erscheint zunächst
die GSW als der unmittelbare Gegner.
Das ist der Kapitalist.
War ja früher mal städtisch. Die
Betroffenen wollen die alte Miete weiterzahlen und kommen so
nicht umhin zu fragen: Wer ist unser Gegner, wer ist die GSW?
Daran müsste anschließen: Reicht es aus, nur zu fordern, die GSW
zu rekommunalisieren? Würde sich dann was ändern?
Und?
Solange die Menschen nicht
versuchen, in die Profitmacherei einzugreifen, ist es egal, ob
sich ein Unternehmen in Privathand, in Aktionärsbesitz oder in
der öffentlichen Hand befindet.
Weil die öffentliche Hand auch
versucht, Gewinne zu machen?
Als Marktteilnehmer zwangsläufig.
Aber wenn wir Forderungen entwickeln, die in den
Profitmechanismus eingreifen, kommen wir schnell zur
Klassenfrage. Etwa wenn wir sagen: Der Boden, mit dem hier
spekuliert wird, repräsentiert keine menschliche Arbeit, darf
also nicht in die Berechnung des Mietzinses einfließen. Wir
zahlen nicht für Grund und Boden, nur für Bau und Erhalt der
Häuser. Damit greife ich unmittelbar ins Eigentumsrecht ein –
also in die Klassenfrage.
Sie sagen, die GSW sei der
„unmittelbare Gegner“. Wen haben die Mieter noch zum Gegner?
Den Staat. Das ist ja keine
neutrale, über den Klassen schwebende Veranstaltung: Mit seinen
Gesetzen greift er in alles ein. Und wenige Bereiche sind so
stark reguliert wie Bauen und Wohnen. Etwa der Milieuschutz,
über den viel debattiert wird: Der schränkt die
Verwertungsmöglichkeiten ein Stück ein, weil es sich nicht
lohnt, Miet- in Eigentumswohnungen umzuwandeln, wenn man sie
nicht so schnell losschlagen kann. Das ist also eine Sache, die
der Staat machen kann. Wenn er diese Möglichkeit aber gar nicht
nutzt, weil er die Stadt „als Ganzes“ für den Profit der
Baukapitalisten nach vorne bringen will, zeigt sich, zu wessen
Vorteil hier entschieden wird.
Was kann man da tun?
Wenn ausreichender Druck von
kollektiv handelnden Mietern auf den Staat entsteht, dann wird
sein politisches Personal zweifellos anders handeln müssen. Wir
dürfen aber nicht übersehen, dass all diese Sachen nur auf die
Verteilung zielen und das gesellschaftlich geschaffene Eigentum
weiter in Privathand bleibt. Dies muss aufgehoben werden. Ein
Problem ist dabei allerdings der bisher praktizierte
Sozialismus. Wenn wir nicht plausibel machen können, dass wir
die Aufhebung des Kapitalismus in dieser Form nicht wiederholen
wollen, werden wir sowieso keine Schnitte machen.
War das bitter für Sie als
Marxist, dass die DDR unterging?
Eigentlich nicht. Dieser
Sozialismus war Staatskapitalismus und keine wirkliche
Alternative.
Editorische
Hinweise
DAS INTERVIEW FÜHRTE SUSANNE MEMARNIA, taz vom 30.10.2013,
Berlin-Teil
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