Marxismus heute
"Die Klasse konstituiert sich nur im Kampf"

taz-Interview mit Karl-Heinz Schubert

11-2013

trend
onlinezeitung

taz: Herr Schubert, Sie eröffnen heute mit einem Vortrag über Karl Marx die Veranstaltungsreihe „Let’s talk about class“. Was können wir denn heute noch mit dem Klassenbegriff anfangen? Ist die Welt nicht etwas komplexer als Bourgeois gegen Proletarier?

Karl-Heinz Schubert: Marx hat schon ganz früh festgestellt, dass sich die Klasse als Klasse überhaupt nur im Kampf konstituiert, wo die Individuen ihre subjektiven Interessen als gemeinsame entdecken. Heute leben wir in einer Zeit, wo in den Metropolen die Klasse verschwunden zu sein scheint und das bürgerliche, hedonistische Individuum als Leitfigur gilt.

Solange die Menschen nicht am Klassenkampf teilnehmen, sind sie nicht Teil einer Klasse?

Wir müssen unterscheiden zwischen einer soziologisch-beschreibenden Sichtweise auf die Gesellschaft und einer ökonomisch-analytischen. Aus dem Blickwinkel der ersteren existiert die Klasse scheinbar nicht, es gibt nur noch Arme, Reiche, Bildungsferne, Wutbürger, Hedonisten und so weiter. Dagegen analysiert die Marx’sche Kritik der Ökonomie die ökonomische Basis der kapitalistischen Gesellschaft, auf deren Grundlage sich zwei Klassen konstituieren. Auf der einen Seite die Kapitalisten als Eigentümer der Produktionsmittel. Auf der anderen die Lohnarbeiter, deren Ware Arbeitskraft sie für eine bestimmte Zeit kaufen und unter ihr Kommando stellen. Das Besondere an der Ware Arbeitskraft ist aber, dass sie mehr an Wert produziert, als sie den Kapitalisten gekostet hat. Dieser „Mehrwert“ gehört jedoch allein ihm.

Und das ist heute noch so?

Diese Kernstruktur ist nach wie vor die gleiche. Ob man in einer Fabrik Schuhe produziert oder in einer Bank arbeitet, man ist Lohnabhängiger. Profit und Zins, Formen des Mehrwerts, gehören dem Kapitalisten.

Also ist heute das Problem, dass innerhalb der lohnabhängigen Klasse die Differenzierung so groß geworden ist, dass man das gemeinsame Klasseninteresse nicht mehr erkennt?

Soziologisch ist es natürlich so, dass sich Lohnabhängige mit geringem Einkommen einander näher fühlen als zu Facharbeitern, die immer noch ein 14. Monatsgehalt beziehen. Wir stehen also vor der Frage, wie innerhalb der proletarischen Klasse, zwischen einzelnen Fraktionen, Bündnisse geschlossen werden können. Dazu müssen die Menschen gemeinsame politische Erfahrungen machen, wodurch sie erkennen, dass sie zu diesem soziologisch diffusen Kreis der proletarischen Klasse gehören.

Aber warum ist es wichtig zu sagen, dass sie einer Klasse angehören, wenn die so diffus ist?

Wir Marxisten gehen davon aus, dass diese Gesellschaft aufgehoben werden muss in eine nicht kapitalistische. Und dass diese neue Gesellschaft nur von denen gestaltet werden kann, die heute schon die Produzenten sind, bislang aber nicht über die „Früchte ihrer Arbeit“ verfügen können.

Aber der gut verdienende Facharbeiter hat kein Interesse, diese Gesellschaft zu verändern. Dem geht’s doch gut.

Die Frage, die Sie damit aufwerfen, können Einzelne gar nicht beantworten. Einzelne wie unser „Arbeitskreis Kapitalismus aufheben“, die sich mit der politischen Ökonomie dieser Gesellschaft befassen, können nur aufzeigen, dass wir in einer Klassengesellschaft leben. Wie die Subjekte das wahrnehmen, können wir nicht stellvertretend erklären. Die Menschen müssen sich selbst als Teil ihrer Klasse definieren, das kann man ihnen nicht abnehmen. Deswegen sind wir für die politische Selbstorganisation und lehnen das Konzept der Avantgarde-Partei ab, die das „richtige Bewusstsein“ in die Klassenkämpfe reinträgt.

Aber wie sonst kommen die Menschen dazu, sich als Teil einer Klasse zu betrachten?

Das geht, denke ich, nur in Konfliktsituationen. Nehmen wir Kotti&Co. Da erscheint zunächst die GSW als der unmittelbare Gegner.

Das ist der Kapitalist.

War ja früher mal städtisch. Die Betroffenen wollen die alte Miete weiterzahlen und kommen so nicht umhin zu fragen: Wer ist unser Gegner, wer ist die GSW? Daran müsste anschließen: Reicht es aus, nur zu fordern, die GSW zu rekommunalisieren? Würde sich dann was ändern?

Und?

Solange die Menschen nicht versuchen, in die Profitmacherei einzugreifen, ist es egal, ob sich ein Unternehmen in Privathand, in Aktionärsbesitz oder in der öffentlichen Hand befindet.

Weil die öffentliche Hand auch versucht, Gewinne zu machen?

Als Marktteilnehmer zwangsläufig. Aber wenn wir Forderungen entwickeln, die in den Profitmechanismus eingreifen, kommen wir schnell zur Klassenfrage. Etwa wenn wir sagen: Der Boden, mit dem hier spekuliert wird, repräsentiert keine menschliche Arbeit, darf also nicht in die Berechnung des Mietzinses einfließen. Wir zahlen nicht für Grund und Boden, nur für Bau und Erhalt der Häuser. Damit greife ich unmittelbar ins Eigentumsrecht ein – also in die Klassenfrage.

Sie sagen, die GSW sei der „unmittelbare Gegner“. Wen haben die Mieter noch zum Gegner?

Den Staat. Das ist ja keine neutrale, über den Klassen schwebende Veranstaltung: Mit seinen Gesetzen greift er in alles ein. Und wenige Bereiche sind so stark reguliert wie Bauen und Wohnen. Etwa der Milieuschutz, über den viel debattiert wird: Der schränkt die Verwertungsmöglichkeiten ein Stück ein, weil es sich nicht lohnt, Miet- in Eigentumswohnungen umzuwandeln, wenn man sie nicht so schnell losschlagen kann. Das ist also eine Sache, die der Staat machen kann. Wenn er diese Möglichkeit aber gar nicht nutzt, weil er die Stadt „als Ganzes“ für den Profit der Baukapitalisten nach vorne bringen will, zeigt sich, zu wessen Vorteil hier entschieden wird.

Was kann man da tun?

Wenn ausreichender Druck von kollektiv handelnden Mietern auf den Staat entsteht, dann wird sein politisches Personal zweifellos anders handeln müssen. Wir dürfen aber nicht übersehen, dass all diese Sachen nur auf die Verteilung zielen und das gesellschaftlich geschaffene Eigentum weiter in Privathand bleibt. Dies muss aufgehoben werden. Ein Problem ist dabei allerdings der bisher praktizierte Sozialismus. Wenn wir nicht plausibel machen können, dass wir die Aufhebung des Kapitalismus in dieser Form nicht wiederholen wollen, werden wir sowieso keine Schnitte machen.

War das bitter für Sie als Marxist, dass die DDR unterging?

Eigentlich nicht. Dieser Sozialismus war Staatskapitalismus und keine wirkliche Alternative.

Editorische Hinweise
DAS INTERVIEW FÜHRTE SUSANNE MEMARNIA, taz vom 30.10.2013, Berlin-Teil