Unsicherheit und Korruption: Die strategischen Herausforderungen der bolivarischen Revolution

von Jaime Jiménez / übersetzt von Michèle Mialane

11-2012

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 Am 7. Oktober 2012 haben die anständigen und fortschrittlich gesinnten Menschen dieser Erde erleichtert aufgeatmet: die venezolanische Präsidentschaftswahl hat Chávez davongetragen. Bei uns direkt betroffenen Lateinamerikanern, hat dieser Sieg Freude und Jubel ausgelöst.

Angesichts der geopolitischen Bedeutung dieser Wahl mussten die Rechten jeden Schlages rund um den Kandidaten Hugo Chávez eine Stimmung der Niederlage schaffen: sie haben sich zwar lächerlich gemacht, aber das stört sie überhaupt nicht. Was ihnen aber den Schlaf raubt, ist die Tatsache, dass das größte Ölvorkommen weltweit sich nicht in den Händen der Multis, sondern in denen eines souveränen Volkes befindet, dass die Reichtümer des Landes für Sozialausgaben fließen, als derzeit gerade die unsichtbare Hand der Märkte den BürgerInnen die Grunddienstleistungen anbieten soll. Jener famose Reichtum und dieses schlechte Beispiel rauben den „Herren“ dieser Welt den Schlaf.

Die Resultate der bolivarischen Führung sind unwiderlegbar. Ihr effizientes und fortschrittliches Wahlsystem ist für manches Land der Ersten Welt ein Wunschtraum, und es scheint nicht leicht, es zu ändern: die kapitalnahen Medien nennen ihn Diktatur, Caudillismus, Populismus, mit Hilfe trügerischer Spitzfindigkeiten.

Jedoch ist es im Namen der Verteidigung der venezolanischen bolivarischen Revolution gerade notwendig, einige Aspekte unter die Lupe zu nehmen, denn sie könnten - würden sie beiseite gelassen werden - dieses so konsequente Projekt zum Scheitern bringen.

Die Revolution: zum Teil Realität, zum Teil Utopie

Die bolivarische Regierungsführung hat die ureigene Pflicht des Staates übernommen, insofern sie die Menschenrechte der BürgerInnen über Staatsausgaben gewährleistet hat. Das hatten wir zu unserer Zeit und in Lateinamerika (Unser Amerika) vergessen, denn der Neoliberalismus hat jene Verpflichtungen des Staates vermarktet.

Zugleich wurde die politische Organisationsform auf ein sehr hohes Niveau gebracht, was durch eine nie da gewesene Beteiligung derer zum Ausdruck kommt, die bisher nur statistisch in Betracht kamen, und meist nur als Werkzeug zur Legitimierung der Henker.

Dieser Interventionismus des Staates in allen Sphären der Gesellschaft, zusammen mit der politischen Organisierung der Unterprivilegiertesten, erweckt den Eindruck, dass ein revolutionärer Wandel im Gange ist, aber im eigentlichen Sinn, wie wir es aus der Geschichte kennen, ist das keine Revolution, denn „... die Revolution gilt vor allem als ein radikaler Wandel der sozialen oder wirtschaftlichen Strukturen oder als Zugang zur Herrschaft einer neuen gesellschaftlichen Klasse(1).“

Die Revolution könnte als ein Pfad, oder besser als Zielsetzung aufgefasst werden, und als solche wird sie auch im ausgezeichneten Programm von Chávez anerkannt: „Täuschen wir uns nicht: die derzeit in Venezuela vorherrschende sozioökonomische Formation ist immer noch rentenkapitalistisch geprägt.“ (Seite 2)

Das heißt, dass die venezolanische Bourgeoisie immer noch an der Macht ist. Zwar hat sie die Kontrolle über die wichtigsten Führungsinstanzen des Staates verloren, was für ihre Erhaltung als Klasse eine Schlüsselrolle spielt, aber in den anderen Bereichen des politischen und gesellschaftlichen Lebens zeigt sie sich durchaus fähig, die Interessen ihrer sozialen Gruppe zu verteidigen.

Mit einer Geduld, die sie sich angewöhnen musste, ist sie nun dabei, die Basis des bolivarischen Staates u.a. durch Korruption zu unterminieren.

Die Korruption ist private Zueignung öffentlicher Güter

Klar liegt, dass eine neue Auffassung der sozialen Ausgaben in Venezuela eingesetzt wurde, die eine beträchtliche Anhebung des Lebensstandards der BürgerInnen zur Folge gehabt hat, aber haben sich damit auch die Beziehungen zwischen BürgerInnen und Staatsbehörden im Alltag geändert?

Welches ist - auch nur annähernd gemessen - das Ausmaß der Korruption? Gibt es hinsichtlich dessen offizielle Daten? Gewiss ist, dass zur Zeit der Rechten eine solches Verhalten sich breitmachen durfte, aber nicht auf sie dürfen wir uns anlehnen.

Das Problem mit der Korruption ist, dass wir mit einem ausgesprochenen Paradoxon zu tun haben: während der Staat strategische Unternehmen vergesellschaftlicht, bemächtigt sich ein breites Netzwerk Privatmenschen der öffentlichen Güter. Was mit der einer Hand gegeben wird, wird mit der anderen zurückgenommen. Das fördert eine Verhaltungsweise innerhalb des Staates: in einer Krisenzeit werden die „bolivarischen“ BeamtInnen sich dem Meistbietenden verkaufen. So werden sie selber der unwiderlegbarste Beweis, dass der Staat uneffizient ist und also privatisiert werden muss. Darum kümmern sie sich wenig: der Hang zum Konsum kennt keine Ideologie - nur den Götzen Geld.

Das Gefährliche ist aber, dass Korruption eine „graue Zone“ gemeinsam hat mit der Delinquenz. Und hier betreten wir ein noch viel heikleres Gebiet.

Unsicherheit: fast immer gewalttätige Zueignung oder Verletzung von juristischen Gütern zu gewinnorientierten Zwecken oder zum persönlichen Genuss

Mit „juristischen Gütern“ werden für das gesellschaftliche und persönliche Leben unabkömmliche Elemente gemeint, welche durch das „jus puniendi“ (Strafrecht) geschützt werden. Das sind Leben und körperliche Unversehrtheit, Freiheit, sexuelle Integrität und Freiheit, Eigentum, Privatleben, Ehre usw.

Wie ist zu erklären, dass solche Fortschritte in Richtung Reduzierung der Armut und Anhebung des Lebensstandards eine Delinquenzzunahme nicht verhindern konnten?

Die Zahlen sind bestürzend. 2001 gab es 7960 Mordfälle, 2010 waren es 13 080 und 2011 19336. „ Geht man ausschließlich von den unvollständigen Daten der offiziellen Zählungen aus, ergibt sich eine Quote von 60 Opfern pro 100 0000 Einwohner. Wird dabei an die Tatsache erinnert, dass laut UNO-Normen ab 10 Mordfällen pro 100 0000 Einwohnern von einer Seuche die Rede ist, muss man zum Schluss kommen, dass in Venezuela derzeit eine gravierendeMordepidemie ausgebrochen ist.(2)

Und dabei wird von kleinen und schweren Diebstählen, Erpressungen, Verstößen gegen sexuelle Freiheit ganz und gar abgesehen... Wo bleiben aber die staatlichen Sicherheitskräfte? Noch erinnern wir uns alle an die Polizeibeamten der Stadt Caracas, als sie anlässlich des Staatsstreiches von 2002 unter Schutz von Bereitschaftspolizeifahrzeugen das Volk beschossen und die Putschisten unterstützten.

Mitten unter Verbrechern, korrupten Polizeibeamten und außerdem mit der Konnivenz mancher käuflicher Staatsbeamter, sowie zur großen Zufriedenheit und mit dem Segen der Bourgeoisie, muss das venezolanische Volk zusehen, wie sein Lebensprojekt zwischen behördlichen Schaltern und den Straßen seiner Stadt verraucht.

Nun ist die Stunde der revolutionären Ordnung gekommen

Vergleicht man nun das Programm von Chávez mit dem von Capriles, fällt einem ein geradezu überwältigender Unterschied auf. Das erste ist klar organisiert und zusammenhängend: drin werden das Konzept einer Nation und ein vollständiges Entwicklungsprojekt vorgeschlagen. Jenes von Capriles dagegen besteht aus einer bloßen Reihe hohler Sätze und Begriffe, die versprechen, Zwecke zu erreichen, welche im Laufe des bolivarischen Prozesses schon erreicht wurden; dafür aber wird hinsichtlich der Sicherheit eine einfache und klare Mitteilung übermittelt:“ Dir gegenüber verpflichten wir uns. Unsere Verpflichtung lautet: Du und die Deinen werdet euch friedlich und sicher fühlen. Frei von Angst, von Befürchtungen und Besorgnissen aller Art. Null-Toleranz für Gewalttäter, Verbrecher und keine Unbestraftheit mehr.“ (Seite 22)

Sehr viele anständige Venezolaner haben die Kriminalität und die Korruption satt. Sie schreien nach einer eisernen Hand - ganz gleich, welche ideologische Prägung die Regierung besitzt. Da wird die Bourgeoisie Alarm schlagen, denn heute verhaften sie Straßenkinder, und morgen werden sie die Bourgeois holen, denn jene gehören einer Klasse an, die gerne am Rande des Gesetzes lebt.

Die Wahlergebnisse widerspiegeln diesen Sachverhalt, und das gibt Grund zur Beunruhigung. Bei der Präsidentschaftswahl von 2006 ernteten die Anti-Chávez 4.321.072 und die Pro-Chávez 7.309.080 Stimmen. 2012 waren es 8.135.192 für Chávez und 6.498.776 für Capriles(3).

Die bolivarische Regierung hat also 800 000 Stimmen mehr erhalten, aber die Rechte über 2 Millionen mehr. Darüber muss gründlich nachgedacht werden. Es wird Zeit, dass die „Volksmacht“ zum Vorschein kommt, in der Verwaltung und in den Stadtvierteln. Mit dieser parallelen Macht, die sich aus der Bourgeoisie, Verbrechern und korrupten Menschen zusammensetzt, muss Schluss gemacht werden, oder sie wird selber Schluss machen damit, was von der Revolution übrig bleibt und ihre Hand wird nicht beben, wenn es um die Verteidigung ihres „Hangs zum Konsum“ gehen wird.

Ein rechter Staat unter der Präsidentschaft von Álvaro Uribe, der mit den Kreisen des Drogenhandels ein Bündnis geschlossen hat, von der Oligarchie vergöttert und von den USA getragen wird, hat anhand eines Staatsterrors den Kolumbianern die Wiederherstellung der Sicherheit vorgegaukelt; einige Zeit lang wurden die Leute in den Städten nicht mehr überfallen und auf Spaziergängen auf den Landstraßen nicht gefangen genommen. Es hat so lange gedauert, wie die unerhörten sozialen Ungleichheiten es ermöglicht haben, aber immerhin konnte Uribe 8 Jahre lang regieren (u.a.), von 2002 bis 2010. Und selbst Menschen aus dem Volk sehnen sich immer noch danach zurück...

In diesem Sinn winkt uns Simón Bolívar: „Erlass vom 18. März 1824 bezüglich der Belohnung für jene, die Schmuggler anzeigen. Artikel 3 : Alle Zoll-, Steuer- , Hafenübersicht- oder Finanzamtbeamten, die sich an einem Betrug innerhalb ihres Tätigkeitsbereichs beteiligen würden, egal, ob sie dabei als Hauptakteure wirken oder vom Betrug erfahren und ihn nicht anzeigen, wird unwiderruflich mit der Todesstrafe bestraft (4).“

Nun liegt die Entscheidung in den Händen des venezolanischen Volkes, insbesondere aber in denen seiner Regierenden, seiner sozialen und politischen Organisationen, seiner Institutionen. Entweder sie liefern die schmerzhafte Schlacht, jetzt, wo die Umstände günstig sind, oder sie verzögern ihre Entscheidung, unter dienlichen Vorwänden, vermutlich von denen erfunden, die davon erheblich profitieren: dann werden sie die Gefahr laufen, dass in der Zukunft eine furchtbare Konfrontation stattfindet, unter wer weiß welchen Bedingungen.

Anmerkungen

1) Guerra, François-Xavier, Modernidad e Independencias. Ensayos sobre las revoluciones hispánicas. Editorial Fondo de Cultura Económica y Editorial Mapfre. México, 1992. pg. 12 (Modernität und Unabhängigkeiten. Essays über hispanische Revolutionen. Verlag Fondo de Cultura Económica und Mapfre. México, 1992, .Seite 12)
2) http://www.observatoriodeviolencia.org.ve/site/noticias/74-informe-homicidios-2011.html
3) http://www.eleccionesvenezuela.copm/resultados-elecciones-venezuela.ph
4) http://cavb.blogspot.com.es/2012/06/simon-bolivar-decreta-la-aplicacion-de.html

Editorische Hinweise

Wir spiegelten den Artikel von TLAXCALA, wo er am 31.10.2012 erschien.