Im Dienste der EU
Migrationspolitik in Nordafrika

von Bernard Schmid

11-2012

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Sie waren verabredet, um sich gegenseitig auf die Schulter zu beklopfen und zu beglückwünschen. Fünf Regierungen von der Nord- und fünf von der Südseite des Mittelmeers trafen sich am 5. und 6. Oktober dieses Jahres in der maltesischen Hauptstadt La Valetta. Die Doppelfünfer-Gruppe, die im Jahr 1990 anlässlich eines Treffens in Rom gegründet worden war, trat in dieser Konstellation zum ersten Mal seit über neun Jahren zusammen. Beteiligt waren daran Marokko, Mauretanien, Algerien, Tunesien und Libyen von nordafrikanischer, und Portugal, Spanien, Frankreich, Italien sowie die Inselrepublik Malta von europäischer Seite.

Anderthalb Jahre nach Beginn der Umwälzungen in den arabischsprachigen Ländern, die oft auf den etwas blumigen Begriff des „Arabischen Frühlings“ gebracht werden, versicherten beide Seiten sich wechselseitig der historischen Bedeutung ihres Dialogs. In ihrer gemeinsamen Abschlusserklärung hoben sie „das gemeinsame Kulturerbe“ sowie „die Bestrebung aller Völker der Region nach einer Partnerschaft mit den Zielen der Demokratie, Stabilität, der Sicherheit und des Wohlstands“ hervor. Hinter so hochtrabenden und wohlklingenden Erklärungen bleiben die realpolitischen Ergebnisse solcher Gipfeltreffen in der Regel etwas zurück.

Als es darum ging, auf dieser Ebene konkret zu werden, sprach der tunesische Übergangspräsident Moncef Marzouki dann vor allem an einem Punkt Klartext: „Eine gemeinsame Task Force“, also einer Art schneller Eingreiftruppe, zum Thema „Immigration“ solle in naher Zukunft gebildet werden. Und zwar, um „diese Auswanderung“, gemeint war die als illegal bezeichnete, „zu verhindern“ sowie um Schiffbrüchige aus dem Meer zu retten und „Tragödien zu vermeiden“. In naher Zukunft soll ein Treffen der „Fünf plus Fünf“ in Tunis zu diesem Thema stattfinden, um nähere „technische Einzelheiten zu klären“. Marzouki fügte hinzu, aus seiner Sicht dürfe es „sich nicht um eine rein Sicherheitsoperation handeln, sie muss humanitärer Natur sein. Man kann nicht akzeptieren, dass Hunderte von Menschen im Mittelmeer ertrinken.“ Als konkreten Ansatzpunkt, um dieses Schicksal vieler harraga – so genannter illegaler Migranten – zu verhindern, scheint er allerdings vor allem das Unterbinden von Auswanderung zu sehen. Marzouki erklärte dazu: „Unsere Jugend hat starke Bestrebungen“, gemeint sind solche nach einem besseren Leben, „aber wir können keine wirtschaftlichen Wunder bewirken. Ich fordere sie dazu auf, Geduld zu zeigen. Es braucht Zeit, da Tunesien die Erblast von über 50 Jahren Korruption trägt.“

Tunesien ist dabei immerhin das Land in der Region, aus dem vielleicht die am wenigsten negativen Nachrichten auf dem Gebiet der Migrationspolitik kommen. Zumindest verbal haben die tunesische Übergangsregierung, die bis zu den ersten Parlamentswahlen – selbige sollen auf die Wahl einer Verfassungsgebenden Versammlung vor nunmehr genau einem Jahr folgen, und wurden soeben auf den 23. Juni nächsten Jahres terminiert – im Amt bleiben wird, und das italienische Kabinett eine Überarbeitung der bilateralen Abkommen zum Thema angekündigt.

Am 13. September 12 waren Vertreter beider Regierungen zusammen gekommen. Genau eine Woche, nachdem über 100 tunesische harraga in der Nähe der südlich des italienischen Festlands liegenden Insel Lampedusa gekentert und über fünfzig von ihnen zu Tode gekommen waren. Bei dem bilateralen Treffen wurde angekündigt, man wolle nach den genauen Ursachen für die Auswanderung junger und oft beruflich qualifizierter Tunesier forscher und die beiderseitigen Abkommen zur Migrationspolitik auf den Prüfstand stellen. Dazu soll eine Untersuchungskommission eingesetzt werden, die ein „globales Herangehen“ statt einer rein sicherheitspolitischen Abschottungslogik verfolgen soll. Allerdings fügten die Regierungsvertreter auch hinzu, die tunesische Seite verlange von Italien die restliche Lieferung der Fregatten und Jeeps, welche im April 2011 zugesagt worden seien, „um die tunesische Küstenwache zu verstärken und um illegale Auswanderung zu bekämpfen“. Damals hatte die tunesische Regierung, unter starkem Druck Italiens und Frankreichs, einer stärkeren Kontrolle von Migrationsbewegungen, die nach dem Zusammenbruch des polizeistaatlichen Ben ’Ali-Regimes im Januar desselben Jahres zugenommen hatten, zugestimmt. Offizielle Zahlen, die bei der bilateralen Konferenz am 13. September vorgelegt wurden, belegten eine deutliche Abnahme der Einreisen aus Tunesien, die seitdem verzeichnet wurden: Auf 30.000 werden sie für das vergangene Jahr geschätzt, im laufenden Jahr wurden bis dahin 2.954 registriert.

Auch mit Libyen, wo vor einem Jahr ein militärisch erzwungener Regimewechsel stattfand, hat Italien bereits neue Abkommen zur Migrationskontrolle – wie zuvor mit der früheren Diktatur unter Mu’ammar Qadhafi (eingedeutscht Gaddafi( – abgeschlossen. Am 18. Juni dieses Jahres publizierte die Tageszeitung La Stampa ein bis dahin unveröffentlicht gebliebenes Abkommen, das Italien im April 2012 mit den damaligen libyschen Übergangsbehörden – welche vor den Wahlen vom 07. Juli 12 amtierten – abgeschlossen hatte. Darin wird Libyen aufgefordert, verstärkte Anstrengungen und Kontrollen zu unternehmen, um Migranten, es betrifft konkret vor allem subsaharische Afrikaner, an der Aus- und Weiterreise nach Europa zu hindern. Die italienische Sektion von Amnesty International erklärte am selben Tag öffentlich ihre „starke Besorgnis“. Das Abkommen nehme keinerlei Rücksicht darauf, dass Libyen den Flüchtlingsstatus im Sinne der Genfer Konvention nicht respektiere, und dass die Haftbedingungen für ihrer Freiheit beraubte Migranten in dem Land „inhuman“ seien.

In den Blickpunkt von Menschenrechtsvereinigungen und der örtlichen Zivilgesellschaft rückt derzeit verstärkt die Migrationspolitik in Marokko. Von staatlicher Seite her nehmen auch dort der Druck auf Migranten und ihre inhumane Behandlung zu – vor allem, wenn sie nach Europa weiterwandern wollen. Denn wie in ganz Nordafrika ist die Europäische Union auch in Marokko dabei, mit Geld, mittels Verhandlungen, wirtschaftlichen Versprechen und diplomatischem Druck ihr Grenz- und Kontrollregime auszulagern und an die Regimes in der Region zu delegieren. Am 02. Oktober 12 gab die Internationale Organisation für Migration (OMI) bekannt, dass sie 620.000 Euro in Marokko ausschüttet, um ein „freiwilliges Rückkehrprogramm“ für eintausend subsaharische Flüchtlinge zu lancieren. Diesen soll dadurch die Rückkehr in ihre Herkunftsländer finanziert werden. In Einzelfällen mag dies durchaus dem Wunsch von Betroffenen entsprechen, die auf ihrer langen Reise ohne Geld und Ausweispapiere in Marokko hängengeblieben sind und den Traum von der Weiterreise definitiv aufgegeben haben. Gleichzeitig erhöht es jedoch auch den Druck auf Migranten, zu gehen.

Zwischen 150 und 200 der Hauptbetroffenen, also subsaharische Migranten, kamen am ersten Wochenende in Oktober ins ostmarokkanische Oujda, wo sie gemeinsam mit marokkanischen Menschenrechtsaktivisten, Gewerkschafterinnen sowie Vertretern von Migranten- und Solidaritätsvereinigungen aus Frankreich, Belgien oder Spanien am „Sozialforum der Migranten“ teilnahmen. Rund 500 Menschen, die zu einem Drittel aus Afrika südlich der Sahara und gut zur Hälfte aus Marokko und Algerien stammen, fanden sich zu diesem Treffen ein, das das zweite seiner Art darstellte : Ein erstes Sozialforum zum Thema Migration hatte im Dezember 2010 in Brüssel stattgefunden. Es bildete ferner einen Teil der Vorbereitungen auf das Weltsozialforum in Tunis im März kommenden Jahres;, sowohl das Treffen in Oujda als auch das Weltsozialforum werden jeweils vom Sozialforum des Maghreb ausgerichtet.

Eine in Paris lebende Marokkanerin erklärte ihr „Entsetzen“, dass sie feststellen müsse, dass Rassismus nicht nur eine Sache der klassischen Einwanderungsländern in Europa sei, sondern ebenso in den bisher eher als Auswanderungsstaaten geltenden Ländern Nordafrikas existiere. Seitens der Polizeibehörden und staatlicher Stellen, aber auch in Teilen der Zivilgesellschaft. Die kamerunische Jugendliche D. (Name der Redaktion bekannt) hatte zuvor in Tränen aufgelöst der Versammlung berichtet, wie sie von marokkanischen Polizisten vergewaltigt worden war. Ihre Landsmännin Hélène stellte auf dem Podium dar, wie besonders Frauen – mehr noch als männliche Migranten – zu Opfern der Repressionspolitik der Behörden in Marokko wie in anderen Nachbarstaaten werden. Nicht nur aufgrund sexueller Gewalt, sondern weil ihnen aufgrund ihrer „illegalen“ Situation der Weg zu Krankenhäusern und Gebärstationen verschlossen bleibt. Weil ihren Kindern die Ausstellung von Geburtsurkunden verweigert wird, und sie deswegen keinen Zugang zu Schulbildung haben. Weil sie ebenso wie ihre männlichen Leidensgenossen, werden sie durch die Polizei in den Wäldern rund um die spanischen Enklaven in Marokko – Ceuta und Melilla – aufgegriffen, in weiter vom EU-Territorium entfernte und oft wüstenhafte Landesteile gekarrt und dort einfach ausgesetzt werden.

Pierre, ein westafrikanischer Einwanderer, konstatierte auf dem Podium, die Perspektive habe sich in den letzten Jahren erheblich gewandelt. Bis zu den dramatischen Ereignissen im Oktober 2005, bei denen über zehn afrikanische Migranten am Grenzzaun von Melilla erschossen wurden – bis heute schieben sich marokkanische und spanische Grenzpolizei einfach gegenseitig die Verantwortung dafür zu -, hätten auch die Migranten Marokko nur als Durchgangsstation auf dem Weg nach Europa betrachtet. Aber in den letzten fünf Jahren sähen viele von ihnen, nachdem sie bezüglich der Möglichkeiten zu Einreise in die Festung Europa resigniert hätten, das nordafrikanische Land dagegen jetzt auch als Aufenthaltsland an.

Deswegen kämpfen viele von ihnen erstmals dort um ihre Rechte. Die Organisation démocratique du travail (ODT) – eine jüngere marokkanische Gewerkschaft, die selbst erst 2006 entstand – gründete im Juli dieses Jahres eine eigene Migrantengewerkschaft. Über fünfzig ihrer, meist schwarzafrikanischen, Mitglieder waren nach Oujda gereist. Serge, Vorsitzender eines Vereins in Marokko lebender Kameruner, erzählte der Jungle World von den realen Schwierigkeiten etwa bei der Arbeitssuche: „Hier in Marokko ist das Kriterium oft die Frage: Bist Du Moslem? Wenn Du Ja sagst, kannst du einen Job finden, etwa auf Baustellen oder auch um Kindern Französisch zu unterrichten. Aber wenn sie herausfinden, dass es nicht stimmt oder Du angibst, einer anderen Religion anzuhängen, werfen sie Dich hinaus.“ Leitkultur gibt es offenkundig auch auf Marokkanisch.

In Oujda, wo die nur fünf Kilometer entfernte algerische Grenze seit 1994 für jeglichen Personenverkehr geschlossen ist, fiel die Forderung nach Offenen Grenzen auch bei der örtlichen Bevölkerung vielfach auf fruchtbaren Boden. Eine Sitzblockade zum Abschluss der Tagung an der nahen Grenze, um deren Öffnung zu fordern, wurde in der marokkanischen wie in der algerischen Presse breit rezipiert. Eine offene Debatte dazu kommt auch in diesen Ländern, die sowohl Einreise- als auch Ausreisestaaten sind, erstmals in Gange.

Editorische Hinweise

Der Text erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.