Bernard Schmid berichtet aus Frankreich
Was tun, wenn der „Sicherheits“apparat schwere selbstverschuldete Schlappen im Anti-Terror-Kampf verzeichnet?
Stattet ihn mit zusätzlichen Machtbefugnissen aus! Baut das zur Verfügung stehende repressive Arsenal aus!

11-2012

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Was haben der im März dieses Jahres in Toulouse getötete Terrorist Mohammed Merah und französische Crêpes miteinander gemeinsam? Einer der beiden Karikaturisten der Pariser Abendzeitung Le Monde glaubt es zu wissen. In der Wochenendausgabe vom 20./21. Oktober d.J. zeichnet Xavier Gorce sein übliches Pinguinpaar, dieses Mal am Herd, und legt einer der beiden Figuren folgenden Monolog in den Mund: „Weißt Du, wir bei der Spionageabwehr, wir drehen die Terroraspiranten um, wie Pfannkuchen. Hopp! Und merde. Wo ist er geblieben, der Pfannkuchen?“ Beim Anheben der Pfanne ging die Crêpe, in gewissem Sinne, in die Luft – und kam nicht wieder zurück.

Der Beitrag des Karikaturisten soll indirekt illustrieren, was dem französischen Inlandsgeheimdienst – der DCRI, also der 2008 eingerichteten „Nationalen Direktion für Innere Sicherheit“ – mit Mohammed Merah passiert sei. Wie er aus dem Ruder lief, bevor er im März in Südwestfrankreich erst drei Soldaten und dann drei Kinder sowie einen Lehrer an einer jüdischen Schule ermordete. Die liberale Pariser Zeitung konnte sich nämlich das Protokoll einer Vernehmung des früheren DCRI-Chefs Bernard Squarcini, der nach dem Regierungswechsel im Frühsommer dieses Jahres seines Postens enthoben wurde, beschaffen. Er war am 25. September durch den Untersuchungsrichter Christophe Teissier als Zeuge vernommen worden. Aber auch interne Vermerke des Inlandsgeheimdiensts aus den Jahren 2006 bis 2011, deren Geheimhaltung gelockert oder aufgehoben worden war, konnte die Redaktion sich zugänglich machen.

Aus dem Anhörungsprotokoll einerseits und den Aktenvermerken andererseits scheint ein flagranter Widerspruch zu erwachsen. Denn zwar versichert Squarcini gegenüber dem Untersuchungsrichter, es sei seinen Diensten nicht möglich gewesen, das Abdriften Mohammed Merahs in immer gefährlichere Tendenzen zu erkennen. So erklärte Squarcini am 25. September, es habe an der „Abwesenheit eines aktivistischen Lebensstils“ gelegen; gemeint ist, einer erkennbar islamistisch geprägten Lebensführung im Alltag. Merah habe laut Squarcini „zu jenen Takfiristen gehört“ – der Name bezeichnet eine Unterströmung der radikalen Islamisten, von takfir für „zu Ungläubigen (kafir) erklären“, da ihre Anhänger alle nicht-fundamentalistischen Moslems pauschal aus dem Glauben ausschließt - , „die einen westlichen Lebenswandel an den Tag legen und ihre extremistischen Gedanken verbergen.“

Genau dies bestreitet die Zeitung jedoch nach Lektüre der internen Vermerke des Inlandsgeheimdiensts aus mehreren Jahren Beobachtung Merahs. Er wurde etwa im Jahr 2010 als gewalttätig gegenüber zwei Frauen, denen er „mangelnden Respekt vor ihm als Muslim“ vorgeworfen habe, beschrieben. Es wird verzeichnet, er betrachte Videofilme, auf denen man die Tötung von US-Soldaten durch Djihadisten betrachten könne, und habe sich auf einem Foto mit einem Messer in der einen und dem Koran in der anderen Hand ablichten lassen. Im März 2011 wurde wiederum vermerkt, Merah lebe seit einiger Zeit „abgeschlossen in seiner Wohnung, er legt großes Misstrauen an den Tag“. Fensterläden blieben geschlossen, und er benutze kein Mobiltelefon und keinen Internetanschluss mehr, die auf seinen eigenen Namen eingetragen seien. Dies hätte normalerweise die Alarmglocken schrillen lassen müssen, zumal die Dienste zu dem Zeitpunkt wussten, dass Merah sich im Herbst 2010 in Afghanistan aufhielt, wo er in der Taliban-Hochburg Kandahar durch US-Soldaten festgenommen wurde. Kurz darauf wurde er dringlich zur Ausreise aufgefordert.

Man hätte mutmaßen können – so schlussfolgert die Zeitung -, dass Merah sich in einem unkontrollierten „Radikalisierungs“prozess befand. Zumal er nicht wirklich so allein agierte, wie im Frühjahr zunächst angenommen worden war. So hielt er 2011 etwa aktive Kontakte im britischen Milieu ultraradikaler Islamisten. Und Ende August dieses Jahres publizierte Le Monde einen Beitrag unter dem Titel „Ein nicht gar so einsamer Wolf“, aus dem zu entnehmen war, dass Merah umfangreiche Telefonkontakte in alle Welt unterhielt. Etwa in Ägypten, Saudi-Arabien und den Emiraten, aber er rief auch Nummer in Israel, Kenya oder in Kroatien an. Aus bislang völlig ungeklärten Gründen auch neun Telefonnummern im Himalaya-Königreich Buthan.
Warum aber stellte die DRCI sich dann mehr oder minder blind? Dafür kann es zwei Erklärungen geben, die sich nicht notwendig ausschließen, auch wenn man verschwörungstheoretische Erklärungen – der antisemitische Schriftsteller Alain Soral behauptet etwa in einem Video auf Dailymotion, Merah sei unschuldig und alles sei eine Inszenierung der Dienste gewesen – ausschließt. Zum Ersten waren untergebene Bedienstete offenkundig der Auffassung, Mohammed Merah „umdrehen“ zu können, weil dieser sich im persönlichen Umgang so freundlich und aufgeschlossen geben konnte. Im Unterschied zu anderen radikalen Islamisten. Hinzu kommen könnte zum Zweiten, dass auch an der Spitze der Apparat keinerlei anderen Impulse zum Umgang mit dem Fall Merah gegeben wurden. War die oberste Leitung der DCRI doch, vor allem in den letzten beiden Amtsjahren des damaligen Präsidenten Nicolas Sarkozy, vorrangig mit anderen Dingen beschäftigt. Man wusste Prioritäten zu setzen. Squarcini kam besonders dann ins Gerede, als er im Hochsommer 2010 durch die von ihm persönlich angeordnete Auswertung von Telefondaten blitzschnell herausfand, welche Person im Justizministerium zwei Journalisten von Le Monde über brisante Details im Umgang mit einer sensiblen Korruptionsakte – dem Fall Liliane Bettencourt, bei dem auch Sarkozy zu den mutmaßlichen Nutznießern illegaler Geldflüsse zählte – unterrichtet hatte. Der Betroffene, David Sénat, wurde daraufhin in Windeseile von Paris nach Cayenne in Französisch-Guyana strafversetzt.

Es reicht also nicht, wenn ein bürgerlicher Staat über gut ausgestattete Polizei- und Geheimdienstapparate verfügt, damit diese auch für die offiziell vorgesehenen Zwecke wie die Verhinderung von djihadistisch motivierten Attentaten eingesetzt werden. Um ihren ramponierten Ruf aufzupolieren, haben dieselben Dienste nun allerdings Anfang Oktober eine präventive Aktion gestartet und in einem früheren Stadium, als es bei Mohammed Merah war, gegen mutmaßliche Djihadisten zugegriffen. Am 6. Oktober fanden vor diesem Hintergrund Durchsuchungen in Cannes, im ostfranzösischen Strasbourg sowie in Torcy in der Nähe von Paris statt. Einer der Hauptverdächtigen, der vor zwei Jahren zum Islam – und dabei ohne Umweg direkt zum salafistischen Fundamentalismus – konvertierte frühere Drogenhändler und Kleinkriminelle Jérémy-Louis Sidney, eröffnete dabei unverzüglich das Feuer auf die Polizisten und wurde von ihnen daraufhin erschossen. Der Karibikfranzose, Anfang 30, war im Gefängnis konvertiert und hatte eine Gruppe Gleichgesinnter um sich geschart. In einer von ihnen angemieteten Garagenbox in Torcy wurden daraufhin unter anderem Chemikalien zur Herstellung von Sprengstoff sowie eine handschriftliche Liste mit den Adressen jüdischer Vereinigungen aufgefunden. Eine Woche später weitere Mitglieder der etwa zehnköpfigen Gruppe festgenommen. Ein Teil des rund zur Hälfte aus Konvertiten bestehenden Netzwerks ist jedoch mutmaßlich noch flüchtig, weil mit den Verhafteten sympathisierende Djihadisten wahrscheinlich derzeit auf dem Weg nach Syrien oder dort bereits an der Seite örtlicher Islamisten kämpfen. In ihren Augen ist die dortige Diktatur nicht nur ein Unrechtsregime – was zweifellos zutrifft -, sondern besteht zudem aus Alawiten, also „Häretikern“, die vom wahren Glauben abweichen.
Wenn ein Apparat zumindest in jüngerer Vergangenheit eher negative Ergebnisse bei seinen offiziellen Aufgaben – etwa der Terrorbekämpfung – verzeichnete, was tut eine Regierung dann? Richtig: Sie stockt seine Mittel auf und erweitert seine gesetzlichen Befugnisse. Mitte Oktober verabschiedete der französische Senat ein zusätzliches neues Antiterrorgesetz, das wohl ab dem 20. November auch in die Nationalversammlung, also das parlamentarische „Unterhaus“ kommen wird. Da die Regierung das parlamentarische Eilverfahren für Notfälle wählte, ist nur eine Lesung erforderlich.

Der Entwurf übernimmt nicht die umstrittensten Vorschläge, die die damalige Rechtsregierung im April, kurz nach den Mordanschlägen Mohammed Merahs und kurz vor der Präsidentschaftswahl, noch auf den Tisch gepackt hatte. So war ieren Vorschlägen für ein neues Gesetzespaket vorgesehen, auch die BesucherInnen von djihadistischen Webseiten im Internet zu bestrafen, wie es für die Nutzer von Kinderpornographieseiten bereits möglich ist. Dieser Vorschlag hatte allerdings den gravierenden Nachteil, dass sehr unterschiedlich motivierte Menschen – von der Hochschullehrerin mit Spezialisierung auf den arabischen Raum bis zum Journalisten der Jungle World – solche Seiten auch ohne eigenen djihadistischen Antrieb besichtigen können. Es drohte also eine Gesinnungsjustiz, bei der Mutmaßungen über eventuelle Motive zum Hauptgegenstand und diverse polizeiliche Erpressungen möglich geworden wären.

Stattdessen sollen nun aber jene, die solche Seiten betreiben oder bestücken, einer verschärften Überwachung unterliegen und für Propagandadelikte bestraft werden können. Daneben ermöglicht es der Entwurf, die seit dem bisher letzten Gesetz von Anfang 2006 erlaubte Vorratsdatenspeicherung von Telefon- und Internetdaten – die bis dato zuerst auf das Jahresende 2009, dann bis Ende 2012 befristet gewesen war – um weitere drei Jahre zu verlängern. Diese Vorratsdatenspeicherung war es eben auch, die dem Inlandsgeheimdienst das Aufspüren David Sénats als Zuträger von Journalisten erlaubte. Ferner soll das Organisationsdelikt der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, das keine weiteren persönlich nachweisbaren Straftaten für eine Verurteilung erforderlich macht, auch auf rein im Ausland aktive französische Staatsbürger ausgeweitet werden. Einer der beiden Hintergründe dabei ist, dass zwei Franzosen bei den in Nordmali operierenden Djihadisten verortet wurden, wo sie unter anderem als Übersetzer zwischen den bewaffneten Gruppen und ihren französischen Geiseln tätig sind.

Der Gesetzestext sieht ferner vor, die Erlaubnis zur Durchsuchung von Zügen mit „grenzüberschreitendem Verkehr“ ebenfalls bis zum Jahresende 2015 zu verlängern – diese Bestimmung richtet sich nicht gegen „Terroristen“ (mit oder ohne Anführungszeichen), sondern gegen Migrant/inn/en. Und Abschiebungen sollen bei „Terrorverdächtigen“ erheblich beschleunigt werden können: Die auf Départements- (also bezirklicher) Ebene angesiedelten „Abschiebekommissionen“, die über Einzelfälle – unter Berücksichtigung der individuellen Rechte – zu beratschlagen haben, bekommen künftig nur noch einen Monat Zeit, um über (auch schwer zu begutachtende) Fälle zu entscheiden. Treffen sie keinen Beschluss, gilt die Zustimmung zu einer Abschiebung nach Ablauf der Monatsfrist automatisch als erteilt.

Editorische Hinweise

Der Text erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.