Bernard Schmid berichtet aus Frankreich
Die französische Sozialdemokratie nach ihrem Parteitag
„Links“regierung lahm, Rechtsopposition offensiv und aggressiv. Auch die Kapitalverbände setzen das sozialdemokratische Kabinett immer wieder unter Druck. Unterdessen rühren sich wenig Widerstände von gewerkschaftlicher Seite

11-2012

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„Ein Hund, den man zum Jagen tragen muss, taugt nichts“ – besagt ein altes süddeutsches Sprichwort. Mutmaßlich hat der neue Parteivorsitzende der französischen Sozialdemokratie, Harlem Désir, bei seiner Antrittsrede auf dem Parteitag in Toulouse am vergangenen Wochenende (26.-26. Oktober 12) nicht an diese Bauernregel gedacht. Doch es hört sich beinahe ähnlich wie die Story vom Jagdhund und dem Hintragen an, als er seine Partei dazu aufforderte, sie solle sich „mobilisiert“, ja „übermobilisiert“ zeigen. Und zwar, um die positiven Maßnahmen der Regierung zu verteidigen, für Fortschritte zu kämpfen und um eine „revanchistische Rechte“ im Zaum zu halten.

Bitter nötig hatte der französische Parti Socialiste solche Aufforderungen. Kein einziges Parteiplakat und so gut wie keine Parteifahne war in dem großen Kongressaal – er ähnelte einer Produktionshalle für Flugzeuge -, was in der von Airbus geprägten Stadt Toulouse nicht verwundert - zu sehen. Amtierende Minister erklärten sich genervt darüber, dass die Partei so wenig tue, um die Arbeit des Kabinetts zu flankieren. Da über die stimmberechtigten Delegierten hinaus weitaus weniger als die angekündigten 4.000 Parteimitglieder zum Kongress gekommen waren, wirkte die Halle zeitweilig erheblich unterbesetzt.

Als einen „Parteitag der morosité“, also der Griesgrämigkeit, bezeichneten mehrere französische Zeitungen den Kongress. In dessen Vorfeld hatten nur rund die Hälfte der rund 172.000 eingeschriebenen Mitglieder ohne Beitragsrückstand an der innerparteilichen Urabstimmung teilgenommen. Die Wochenzeitung ,Le Canard enachaîné’ vom 31. Oktober 12 rechnet dazu vor: Es wurden rund 85.000 Stimmen abgegeben. Zum Vergleich: Vor dem letzten Parteitag in Reims, im November 2008, wo die Parteibasis zwischen Martine Aubry und Ségolène Royal als potenziellen Parteivorsitzenden zu entscheiden hatte, waren es noch 130.000 Stimmen gewesen. Im Übrigen gehörten, folgt man der Zeitung, mindestens 60.000 dieser 85.000 Stimmen zu jenem „harten Kern“ der Partei, der aus Mandatsträgern (von der kommunalen Ebene aufwärts bis zu den zentralstaatlichen Parlamenten und Institutionen) sowie Mitarbeiter/inne/n von Mandatsträger/inne/n besteht – welche ihren Lebensunterhalt oder einen Teil davon durch die Partei verdienen. Daran lässt sich die derzeitige, ausgesprochen schwache gesellschaftliche Mobilisierung rund um die Sozialdemokratie ablesen.

Bei dem diesjährigen Mitgliedervotum ging es darum, für einen fünf Parteitagsanträgen zu votieren, die gleichzeitig die aktuelle politische und gesellschaftliche Situation analysieren über die Zusammensetzung des Parteivorstands entscheiden sollen. Denn der jeweils erzielte Stimmenanteil entscheidet über die Anzahl an Sitzen, die eine Strömung oder Unter- oder Nebenströmung in dem Gremium besetzen darf. Entgegen vorherigen Erwartungen entfielen dabei nicht 80 oder 90 Prozent auf den Leitantrag der bisherigen Parteispitze, sondern „nur“ 68,1 Prozent.

Die so genannte Parteilinke, die dieses Mal ohne prominente Namen antrat und vor allem Änderungen am neuen EU-Vertrag vom 02. März d.J. - dem so genannten Sparpakt – vorschlug, erzielte unter Emmanuel Maurel rund 13,5 Prozent. Der Sparpakt ist Anfang Oktober vom französischen Parlament verabschiedet worden, trotz einiger Widerstände auch innerhalb der regierenden Linksparteien und obwohl François Hollande als damaliger Wahlkämpfer am 01. März ausdrücklich seine Neuverhandlung versprochen hatte. In der Nationalversammlung stimmten 70 Abgeordnete größtenteils aus dem sozialdemokratischen und grünen Lager gegen den Sparpakt, doch dieser wurde mit über 400 Ja-Stimmen angenommen, weil die konservative und wirtschaftsliberale Opposition gemeinsam mit der Regierungsspitze zustimmte. Zuvor hatte Ende September ein „kleiner Parteitag“ der mitregierenden französischen Grünen mit siebzigprozentiger Mehrheit beschlossen, dass die Partei den Sparpakt ablehne. Premierminister Jean-Marc Ayrault tolerierte diesen „Schritt zur Seite“ (/ ALTERNATIV: diese Abweichung) – unter einer Bedingung, nämlich der, dass die Grünen daraufhin dem auf dem Sparpakt basierenden Haushaltsgesetz für 2013 zustimmen mussten. So funktioniert „Realpolitik“: Man erklärt, dass man „im Prinzip“ etwas ablehne, wirkt dann aber bei dessen Umsetzung aktiv mit.

Gut elf Prozent erzielte ein weiterer Antrag, der vor allem von der moralischen Reputation seines prominentesten Unterzeichners lebte. Stéphane Hessel, 94 Jahre alt, ehemaliger Résistancekämpfer und an der Ausarbeitung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 beteiligte, veröffentlichte in den letzten Jahren zwei kleine Büchlein: „Empört Euch!“, gefolgt von „Engagiert Euch!“ Darin bietet er allerdings nur die Einsicht, dass es auch heute moralisch gerechtfertigt sei, die Welt verändern zu wollen, weil es auf ihr nicht gerecht zu gehe. Darüber hinaus reichende Analysen würde man eher vergeblich suchen. Weniger bekannt war, dass Hessel seit langem auch Mitglied der französischen Sozialdemokratie ist. In diesem Jahr stellte er dem Antrag aus dem Mitte-Links-Spektrum der Partei seinen prominenten Namen zur Verfügung. Innerparteiliche Funktionen strebe er aufgrund seines hohen Alters ohnehin nicht an, fügte er gegenüber der Presse hinzu.

Der neue Vorsitzende wurde direkt durch seine Vorgängerin, Martine Aubry, ausgewählt. Die Wahl manifestierte sich darin, dass die vorherige Vorsitzende Désir in der zweiten Septemberwoche zum „ersten Unterzeichner“ des Leitantrags bestimmte, sein Name tauchte also unter dem Text als erster auf. Ihre Entscheidung, die schon im August erwartet wurde, hatte sich um mehrere Wochen verzögert. Der Hintergrund dafür war, dass Staatspräsident François Hollande sich in die Personalentscheidung einmischte und – entgegen seiner anfänglichen Präferenz für Désirs Gegenkandidaten Jean-Christophe Cambadélis, einen altlinken Zyniker und einstmaligen Trotzkisten – schlussendlich für den früheren Apparatschik der parteinahen Vereinigung SOS Racisme optierte. Aubry und andere Führungspersonen wurden durch diese Kehrtwendung überrascht, folgten aber letztlich der Entscheidung, die im Elysée-Palast getroffen wurde. Dies bedeutet einen flagranten Bruch mit einem Versprechen François Hollandes im Wahlkampf: Bei der Fernsehdebatte mit Nicolas Sarkozy hatte er noch Anfang Mai hoch und heilig versichert, als Präsident werde er sich in das Parteileben bei der Sozialdemokratie einmischen.

Hoffnungen auf irgendwelche progressive Veränderung: mau!

Wäre es doch das einzige Wahlkampfversprechen, das längst zu Makulatur gemacht wurde… Viele andere wurden nämlich längst in die Mottenkiste geräumt, angefangen natürlich bei den schönen Sprüchen über die kommende soziale Gerechtigkeit. Oder aber sie wurden zur Unkenntlichkeit verzerrt. Ende Februar hatte Hollande den sich müde dahinschleppenden Wahlkampf dadurch belebt, dass er einen neuen Spitzensteuersatz für Einkommensmillionäre in Höhe von 75 Prozent ankündigte. Darüber wurde daraufhin in ganz Europa diskutiert. Tatsächlich sieht das neue Haushaltsgesetz einen solchen Spitzensteuersatz nun vor. Aber er wird nur circa 1.500 Personen in ganz Frankreich betreffen. Denn der Clou ist, dass sämtliche Formen von Kapitaleinkünften – Mieteinnahmen, Aktiendividenden, Börsengewinne – aus dem in dieser Höhe zu besteuernden Einkommen ausgeklammert wurden. Nur Einkünfte in Form von Lohn und Gehalt werden berücksichtigt. Dies betrifft einige wenige Manager der höchsten Gehaltsstufe, die jedoch ihr Einkommen nunmehr umschichten dürften, um statt Gehalt lieber Aktienpakte zu verlangen. Anders hätte es ausgesehen, wenn man Kapitaleinkünfte einbezogen hätte.

Dennoch sind es vor allem Kapitaleigentümer, die sich von den bösen Steuern geplagt fühlen, welche in den letzten Monaten die Regierung erfolgreich unter Druck setzen konnten. Denn während soziale Bewegungen sich kaum rührten – abgesehen von Streiks in einzelnen Großunternehmen, wie vergangene Woche bei dem Bahnbetreiber SNCF am Donnerstag und der Fluggesellschaft Air France am Freitag, die jedoch unternehmensspezifische Forderungskataloge betrafen -, tat sich auf der wirtschaftsliberalen Seite etwas. Unter hohem Einsatz von Kommunikationskompetenzen und PR-Agenturen organisierten Unternehmer eine Kampagne, die sie unter der Selbstbezeichnung Les pigeons durchführten. Das bedeutet so viel wie „Tauben“, aber auch „leichte Opfer“, in dem Sinne, das man gerupft zu werden droht. Anlass ihres Zorns war die Anhebung einer Steuer für die Veräußerung von Unternehmen. Die Regierung benötigte nur fünf Tage, um vor der Kampagne der vermeintlichen armen, gerupften Opfer einzuknicken.

Ein Karikaturist der liberalen Abendzeitung Le Monde versuchte später, die Dinge zurecht zu rücken. Xavier Gorce zeichnete zwei Figuren, von denen die eine vermeintlich dem Gurren von Täubchen zuhört. Die andere kommentiert trocken: „Du hast wieder Deine Brille nicht auf!“ Im Hintergrund sieht man eine Schar von Geiern sich um Knochen streiten. – Übrigens steht derzeit bereits die dritte „Unternehmer“-Bewegung mit reichlich PR-Begleitung steht jetzt in den Startlöchern. Nach den ,pigeons' (Tauben) und den ,moutons' (Schafen) - die erste gegen Steuern, die zweite gegen Sozialbeiträge für Selbständige u. Unternehmer - kommen jetzt die ,dindons' (Truthähne). Dieses Mal sind es Eigentümer im Hotel- und Restaurantgewerbe, die gegen die Mehrwertsteuer protestieren. Warum nur muss mensch bei all diesen Namen immer nur an „Kochtopf, Kochtopf“ denken? Nicht gar so satirisch gemeint war hingegen der Aufruf von 98 Wirtschaftsbossen in der Sonntagszeitung JDD vom 28. Oktober 12, welche die Regierung mehr oder minder ultimativ zur erheblichen Absenkung von Staatsausabgaben und „Lohnkosten“ aufforderten.

Nicht alle sozialen Gruppen wurden bislang so gut bedient wie die „Tauben“ in Unternehmerform. Die Regierung schickte ihre uniformierten Staatsdiener in Gestalt der Bereitschaftspolizei CRS gegen mehrere Gruppen los: Im August waren erst die „illegal“ campierenden Roma dran, Anfang Oktober 12 dann die Automobilarbeiter, die – das Wasser bis zum Hals spürend – gegen die anlaufende Welle von Massenentlassungen für ihre Arbeitsplätze oder mindest substanzielle Abfindungen kämpfen. Am 9. Oktober versuchten sie, bei der prestigereichen Automobilmesse in den Pariser Messehallen ungeladen Einlass zu finden, wurden jedoch mit Tränengas und Knüppeln empfangen. Zwei Wochen später wiederum wurden die CRS gegen die Geländebesetzer in Nantes losgeschickt, die eine Verlagerung des Flughafens von Nantes verhindern möchten, ein ebenso unnötiges wie ökologisch zerstörerisches Großprojekt.

Es verwundert deswegen nicht, dass die Bilanz der „linken“ Regierung derzeit aus Sicht vieler ihrer Wählerinnen und Wähler ausgesprochen bescheiden aussieht. François Hollandes Popularität befindet sich beinahe im freien Fall – anlässlich des jüngst absolvierten Sprungs des Österreichers Felix Baumgartner aus 39 Kilometern Höhe in der Stratosphäre wurden in den Medien viele satirische Vergleiche gezogen – und unterschritt Ende vergangener Woche die Vierzig-Prozent-Marke. Im Laufe dieser Woche kommt er nun in einer Umfrage gar bei nur noch 36 Prozent Popularitätswerten an; vgl. http://www.lefigaro.fr/

Die Spitzen der Gewerkschaftsdachverbände, vor allem CGT und CFDT, sind stärker als zu Zeiten der konservativ-wirtschaftsliberalen Vorgängerregierung in die Vorbereitung mancher Regierungsprojekte eingebunden oder aber hoffen jedenfalls darauf. Zudem sind beide Dachverbände derzeit mit internen Fragen beschäftigt, da die jeweiligen Generalsekretäre Bernard Thibault und François Chérèque sich dazu anschicken, das Steuer an ihre Nachfolger – Thierry Lepaon und Laurent Berger – zu übergeben. Druck auf die Regierung kommt deswegen vor allem von rechts. Auch die größte Regierungspartei, also die konservative und wirtschaftsliberale ebenso wie nationalrassistische Strömungen umfassende UMP, bereitet sich auf die Wahl einer neuen Spitze vor. Am 18. November fällt die Entscheidung zwischen ihrem Generalsekretär Jean-François Copé und dem früheren Premierminister François Fillon. Letzter ist besser platziert. Vor allem Copé setzt auf eine an Ressentiments und Rassismus anknüpfende Kampagne, die seine Partei immer noch weiter an den derzeit ebenfalls erstarkenden Front National annähert. Gewinnt er, dann würde eine aus der antigaullistischen radikalen Rechten kommende Abgeordnete, Michèle Tabarot, stolze Tochter eines in den sechziger Jahren bei der rechten Terrororganisation OAS aktiven Vaters und erklärte de Gaulle-Hasserin, zur Nummer Zwei der „postgaullistischen“ Partei.

Am vergangenen Wochenende (27./28. Oktober) verkündete Copé, falls er am 18. November 12 gewählt werde, dann würde die Rechte künftig auch auf die Straße gehen, zum ersten Mal seit ihren Demonstrationen zur Verteidigung der katholischen Privatschulen von 1984, die damals durch Konservative und FN gleichermaßen getragen wurden. Und dieses Mal geht es nicht um eine satirische so genannte << fausse manif de droite >> (vgl. Zum Ausgang der Wahlen 2007 ), sondern um eine echte Drohung mit rechter Mobilisierung...

Besonders gegen die Pläne der Regierung zur Erlaubnis der Homosexuellenehe – die er, als Bürgermeister von Meaux, in „seinem“ Rathaus dann gesetzwidrig boykottieren möchte – und zur Einführung des kommunalen Ausländerwahlrecht will Copé mobilisieren. Die Pläne für das Ausländerwahlrecht wird die Regierung allerdings mutmaßlich ohnehin auf die lange Bank schieben. Copés Ankündigung war jedoch beinahe ein Segen für den neuen Chef der Regierungspartei, Harlem Désir. Seine Warnungen auf dem Parteitag vor einer Rechten, die „ihre republikanischen Werte zu verraten“ drohe, gehörten zu denen, die am stärksten Applaus erhielten. Es geht eben nichts über einen hässlichen Feind, um die eigenen Leute zu motivieren.

Editorische Hinweise

Der Text erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.