Warum also hat der Strukturalismus in Frankreich erst Mitte
der 60er Jahre Verbreitung gefunden? Als eine der wichtigsten
Ursachen, wenn nicht als die wichtigste, muß unserer Meinung
nach die Tatsache gelten, daß Frankreichs ideologisches Leben
bis 1960 offiziell von den traditionellen philosophischen
Systemen kontemplativen Charakters beherrscht wurde. Das
zeigte sich in der mehr als anderthalb Jahrhunderte währenden
Herrschaft des akademischen Spiritualismus und Carte-sianismus
mit ihrer Tendenz zum Subjektivismus als abstrakter Form des
bürgerlichen Bewußtseins. Das Vorherrschen dieser Systeme
erklärt sich keineswegs aus ihrer wissenschaftlichen
Begründung, sondern weitgehend daraus, daß die aktuellsten
Fragen der Gegenwart von ihnen in eine wissenschaftliche
Terminologie gehüllt und dem lesenden Publikum in mehr oder
minder „rationeller" Form dargeboten wurden. Lange Zeit gelang
es dem philosophischen Subjektivismus, die Errungenschaften
verschiedener Wissenschaften vom Menschen, die zudem selbst
keine festen Grundlagen hatten, vor breiten Kreisen der
Intelligenz so oder anders zu verbergen. So drängte
beispielsweise H. Bergson seinen Lesern
subjektivistische Ideen der Psychophysiologie und Biologie
auf, um diese Wissenschaften in den Dienst des
evolutionistischen Spiritualismus zu stellen. Ebenso
verfuhr/-/". Sartre, wenn auch unter anderen
Bedingungen. Er nutzte Daten der Verhaltenspsychologie (siehe
seine „Skizzen zur phänomenologischen Theorie der Emotionen")
oder der Psychoanalyse (vgl. „Baudelaire") oder gar Leitsätze
des historischen Materialismus (z.B. „Kritik der dialektischen
Vernunft") und suchte sie „umgestülpt" als Äußerung der
„freien Wahl" des Individuums darzustellen, auf die letztlich
alles hinauslaufen müsse. Diese und ähnliche Strömungen des
philosophischen Subjektivismus erfüllten trotz Unterschiede
und bestimmter Widersprüche zwischen ihnen insgesamt ein und
dieselbe Funktion der bürgerlichen Ideologie: Die letzte
„kopernika-nische Umwälzung", die unweigerlich das Ende der
gesamten idealistischen Philosophie verkünden mußte, soweit
wie möglich hinauszuschieben.
Es ist gesetzmäßig, daß die Ideen des Strukturalismus im
ideologischen Leben Frankreichs erst dann in den Vordergrund
rücken konnten, als der Subjektivismus, diese letzte
Abzweigung der großen idealistischen Systeme der
Vergangenheit, zum erstenmal seit Bestehen der bürgerlichen
Philosophie nicht mehr imstande war, seine Positionen zu
verteidigen. Damit wurde praktisch der Leitsatz Friedrich
Engels' vom unvermeidlichen Zusammenbruch aller
spekulativen Systeme der Philosophie bestätigt. Es war kein
Zufall, daß die Ideen von Levi-Strauss gerade dann
Aufmerksamkeit erregten, als der verzweifelte Versuch
Sartres, das subjektiv-idealistische Prinzip vom Primat
des individuellen Bewußtseins zu retten, offensichtliches
Fiasko erlitt. Diesen Versuch unternahm er in der Arbeit
„Kritik der dialektischen Vernunft", wobei er gleichzeitig —
um angeblicher Objektivität willen - den historischen
Materialismus anerkannte. (Seitdem versucht Sartre,
sein theoretisches Scheitern durch den Übergang auf die Seite
prinzipienloser kleinbürgerlicher linksradikaler Gruppen zu
tarnen.) Und schließlich ertönte ein „drittes Klingelzeichen",
welches das Hervortreten des Strukturalismus ankündigte:
Levi-Strauss gab im Schlußkapitel seines Buches „Das
Urdenken" im Namen der Wissenschaften vom Menschen der
gesamten subjektivistischen Ideologie in Gestalt ihres letzten
namhaften Vertreters, des Sartreschen Existentialismus, den
Abschied.
Das geschah, als sich in verschiedenen Lebensbereichen der
französischen Nation immer deutlicher die Ergebnisse der
unmittelbaren Herrschaft der Monopole im Staatsorganismus
bemerkbar machten. Das Wachstum des staatsmonopolistischen
Kapitalismus bedeutet einen raschen Niedergang der
traditionellen Mittelschichten und der alten Gruppen der
Bourgeoisie, ihrer politischen Institutionen, ihrer
„klassischen" Ideologie, deren wichtigster Wortführer in
Frankreich lange Zeit die akademische Philosophie war. Von nun
an wurde der utopische Charakter des „dritten Weges" bei der
Lösung der „französischen Probleme" - auf halbem Wege zwischen
den Monopolen und der Arbeiterklasse — ganz offenkundig. Im
Zusammenhang damit offenbarte sich erst recht die
Unhaltbarkeit der spekulativen Philosophie im allgemeinen wie
auch der im Existentialismus Sartres verkörperten
typischen Philosophie des „dritten Weges" im besonderen.
Daraus erklärt sich auch das beträchtlich gewachsene Interesse
für den Marxismus, dessen Verbreitung das Heranreifen
günstiger ideologischer Bedingungen für die großen
Klassenzusammenstöße im Mai/Juni 1968 gefördert hat.
Die Anhänger des Strukturalismus waren bestrebt, seine
Ideen in populären Veröffentlichungen einem breiten Publikum —
ungeachtet der antiphilosophischen Ausrichtung der Arbeiten
seiner Hauptvertreter — gerade als Bestandteile einer neuen
Philosophie darzulegen, die dazu berufen ist, den Platz der
subjektivistischen philosophischen Systeme und vor allem des
Existentialismus einzunehmen. Dazu trug auch das Bestreben des
Strukturalismus bei, die Ergebnisse verschiedener
Wissenschaften — der Ethnologie, der Linguistik, der
Psychologie usw. — zu verallgemeinern. Ursprünglich war man
sogar der Auffassung, der Strukturalismus habe sich dem
Marxismus angeschlossen, wofür auch die Arbeiten Althussers
zu sprechen schienen: Die Verkündung des Endes der
Philosophie (gemeint sind die alten idealistischen Systeme) im
Namen der Wissenschaften vom Menschen und die radikale Kritik
an der subjektivistischen Ideologie des Humanismus anhand
einer Analyse der objektiven Bedingungen eines jeden
„menschlichen Fakts" sind nämlich stets dem Wesen nach
marxistische Prinzipien gewesen — und nur Revisionisten vom
Schlage R. Garaudys vermögen das nicht zu begreifen.
Somit faßten breite Kreise der Intelligenz Mitte der 60er
Jahre den Strukturalismus als eine neue und besondere Form des
Anschlusses an den Marxismus unter maßgeblicher Leitung
bekannter Wissenschaftler und Hochschuldozenten auf. Eine
spezifische ideologische Konjunktur führte dahin, daß
fortschrittliche Geister etwas dem Marxismus von Grund auf
Entgegengesetztes für die neueste Entwicklung des Marxismus zu
halten begannen. Und dieses Etwas, der Strukturalismus, will
die herrschende Ideologie werden, wobei er gleichzeitig das
Ende der Ideologie überhaupt verkündet. Unter den Bedingungen
einer Monopolisierung der Verlagstätigkeit und der
Ideenverbreitung leitete das die populärste ideologische Mode
ein, die Frankreich jemals gekannt hat.
Ist die strukturalistische Methode marxistisch?
Das Wesen der Methode des Strukturalismus legt
Levi-Strauss wie folgt dar: Erstens muß man einzelne
Fakten sammeln und analysieren und eine möglichst vollständige
Liste derselben aufstellen; zweitens muß man die
Wechselbeziehungen zwischen den Fakten ermitteln, sie in
Gruppen zusammenfassen und die inneren korrelativen
Beziehungen klären; drittens muß man alles zu einem
einheitlichen Ganzen synthetisieren, ein System entsprechender
Elemente aufbauen und damit das einheitliche, ganzheitliche
Forschungsobjekt schaffen. (C. Levi-Strauss, Le
totemisme aujourd'.hui, Paris 1965, p. 18—23.) Damit wird der
zentrale Begriff der Methode definiert, die der gesamten
Richtung den Namen gegeben hat — der Begriff der Struktur
als eines bestimmten Systems, das durch einen gesetzmäßigen
Zusammenhang gesteuert wird.
Im weiten Sinne des Wortes bedeutet der Begriff „Struktur"
ein System stabiler innerer Beziehungen, die wesentliche
Merkmale des Gegenstands bestimmen und ein einheitliches
Ganzes bilden, das sich nicht auf die bloße Summe seiner
Elemente zurückführen läßt, ein System, das diese Elemente
lenkt, ob es sich nun um ihre Exi-
stenzweise oder ihre Entwicklungsgesetze handelt. Dieser
Begriff der Struktur ist für den Marxismus nicht neu. Und
obwohl sich der Strukturalismus grundlegend vom Marxismus
unterscheidet, tritt dieser Unterschied auf dem gegebenen, dem
primären Niveau, d.h. im Begriff der Struktur selbst, noch
nicht in Erscheinung. Im Gegenteil: Man sollte betonen, daß
das moderne Denken diesen Begriff von der Hegeischen und noch
mehr von der marxistischen Dialektik übernommen hat. Man kann
mit gutem Grund behaupten, daß der Begriff der Struktur
erstmalig von den Begründern des wissenschaftlichen
Kommunismus um die Mitte des 19. Jahrhunderts auf eine solche
Erscheinung des menschlichen Seins wissenschaftlich angewandt
wurde wie die Gesellschaft — nicht aber auf die Sprache, auf
den Bereich des Unterbewußten oder das System der
Verwandtschaft, wie das erst Anfang des 20. Jahrhunderts
geschah.
Wir wollen daran erinnern, daß Marx bereits in seinem
bekannten Vorwort „Zur Kritik der Politischen Ökonomie" im
Jahre 1859 schrieb: „In der gesellschaftlichen Produktion
ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von
ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein,
Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten
Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte
entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse
bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale
Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau
erhebt und welcher bestimmte gesellschaftliche
Bewußtseinsformen entsprechen."(1) In Vertiefung und
Weiterentwicklung des Begriffes der Gesellschaft als eines
organischen Ganzen stellt Marx in den „Grundrissen der
Kritik der politischen Ökonomie" (1857-59) fest: „Wenn im
vollendeten bürgerlichen System jedes ökonomische Verhältnis
das andre in der bürgerlich-ökonomischen Form voraussetzt und
so jedes Gesetzte zugleich Voraussetzung ist, so ist das mit
jedem organischen System der Fall. Dies organische System
selbst als Totalität besteht eben (darin), alle Elemente der
Gesellschaft sich unterzuordnen, oder die ihm noch fehlenden
Organe aus ihr Heraus zu schaffen. Es wird so historisch zur
Totalität. "(2) Das ist in der Tat die vollständigste und
tiefste Definition des Strukturbegriffs, und der moderne
Strukturalismus dürfte ihm wohl kaum etwas Wesentliches
hinzugefügt haben, abgesehen von den Versuchen seiner
mathematischen Formalisierung.
Vielleicht beginnt dann das Auseinandergehen zwischen dem
Strukturalismus und dem Marxismus mit der Definition der
Regeln für die Verwendung des Strukturbegriffes selbst? Der
Strukturalismus stellt hier das, wie er meint, überaus
wichtige Prinzip der methodologischen Priorität des
synchronischen Herangehens vor dem diachronischen auf. Wie wir
sehen werden, gibt es in dieser Frage keine wesentlichen
Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Marxismus und dem
Strukturalismus, wenn man dieses Prinzip richtig versteht. In
der Tat, was bedeutet dieses Prinzip in seinem strengsten
Sinne? Es läuft darauf hinaus, daß man bei einer richtigen
Anwendung der Forschungsmethode das Studium der jeweiligen
Struktur vom Standpunkt ihres Zustandes und Funktionierens im
jeweiligen Moment (synchro-
nisches Herangehen) abgrenzen muß vom Studium der
Veränderungen dieser Struktur in der Zeit (diachronisches
Herangehen). Mit anderen Worten: Man darf die Konfiguration
nicht mit der Transfiguration verwechseln. Und weiter: Wenn
die tatsächliche Geschichte die Geschichte von Strukturen und
nicht bloß ihrer einzelnen Elemente ist, so muß man nach
diesem Prinzip zuerst den Zustand der Strukturen erkennen, um
später deren Geschichte rekonstruiren zu können. So aufgefaßt,
widerspricht die grundlegende strukturalistische Regel nicht
im geringsten dem marxistischen Denken, und wir können uns
erneut auf Marx berufen, der eine analoge Methode bei
der Analyse ökonomischer Erscheinungen des Kapitalismus
anwendet.
Die Tätigkeit von Marx war bekanntlich darauf
gerichtet, die historische Unvermeidlichkeit der
revolutionären Ablösung der kapitalistischen Gesellschaft
durch den höheren, sozialistischen Typ der gesellschaftlichen
Verhältnisse nachzuweisen. Die Notwendigkeit einer solchen
Ablösung leitete er nicht von abstrakten Entwicklungsschemata
ab, sondern er ging von einer sorgfältigen Analyse der inneren
Strukturen und des nach außen hin stabilen Funktionierens des
Systems der kapitalistischen Wirtschaft aus. Marx geht
also von der Struktur zur Geschichte. Als er auf seine Methode
der Analyse ökonomischer Kategorien einging, unterstrich er
insbesondere: „Es wäre also untubar und falsch, die
ökonomischen Kategorien in der Folge aufeinander folgen zu
lassen, in der sie historisch die bestimmenden waren. Vielmehr
ist ihre Reihenfolge bestimmt durch die Beziehung, die sie in
der modernen bürgerlichen Gesellschaft aufeinander haben, und
die genau das umgekehrte von dem ist, was als ihre naturgemäße
erscheint oder der Reihe der historischen Entwicklung
entspricht. Es handelt sich nicht um das Verhältnis, das die
ökonomischen Verhältnisse in der Aufeinanderfolge
verschiedener Gesellschaftsformen historisch einnehmen. Noch
weniger um ihre Reihenfolge ,in der Idee' (Proudhonj (einer
verschwimmelten Vorstellung der historischen Bewegung).
Sondern um ihre Gliederung innerhalb der modernen bürgerlichen
Gesellschaft. "(3)
Unbestreitbar besteht die Aufgabe der
Wirtschaftswissenschaft darin, die Gesetze der
sozialökonomischen Entwicklung zu ermitteln, aber das kann
erst geschehen, wenn der innere Zusammenhang zwischen den
verschiedenen Seiten des zu erforschenden Objekts aufgedeckt
ist. Erst dann kann die tatsächliche Bewegung in gebührender
Weise gezeigt werden. Gerade so war der Gesamtplan des
„Kapitals" gedacht: Im ersten Band werden die verschiedenen
Seiten des kapitalistischen Produktionsprozesses als solchen
aufgedeckt; der zweite Band ist dem Zirkulationsprozeß
gewidmet, der gleichsam den Produktionsprozeß ergänzt; im
dritten Band wurde es möglich, „die konkreten Formen
aufzufinden und darzustellen, welche aus dem Bewegungs-prozeß
des Kapitals, als Ganzes betrachtet, hervorwachsen".(4)
Wie Marx wiederholt sagte, sollte das „Kapital", falls es
vollendet worden wäre, mit einer Analyse des Klassenkampfes
schließen, d.h. jener gesellschaftlichen Bewegung, die berufen
ist, die Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise zu
lösen. Das Marxsche Denken ging also, mit anderen Worten, von
der „Mikroanatomie" der ökonomischen Elementarformen zur
„Diachronie" und später zum gesamten historischen Prozeß über.
Die Fruchtbarkeit der Strukturmethode wurde folglich in der
marxistischen Analyse ökonomischer Erscheinungen der
kapitalistischen Gesellschaft demonstriert, lange bevor sie in
der Linguistik, Ethnologie und der Psychoanalyse angewandt
wurde.
Grundlegende Divergenz mit dem Marxismus
Das alles könnte die Vorstellung schaffen, als gäbe es
zwischen der strukturali-stischen und der dialektischen
Methode keinen wesentlichen Unterschied. Gerade so könnte man
beispielsweise die Behauptung Levi-Strauss' auffassen,
er habe den zentralen Begriff der Struktur „neben anderen
bei Marx und Engels entlehnt". Und weiter bemerkt er, nun
schon von einer höheren Warte aus: „Ich bin bemüht, alle
Errungenschaften der Ethnologie der letzten 50 Jahre in die
marxistische Richtung zu reintegrieren. "(5) Im
Zusammenhang damit macht er eine bemerkenswerte Erklärung in
den autobiographischen Notizen, die im Kapitel
VI seiner Arbeit „Traurige Tropen" angeführt werden:
„Die Lektüre von Marx versetzte mich in Begeisterung, um so
mehr als ich erstmalig über sein großes Denken Anschluß an die
philosophische Richtung bekam, die von Kant zu Hegel fuhrt:
Mir wurde eine ganze Welt erschlossen. Seitdem hat mich dieses
Gefühl nie verlassen, und ich habe selten versucht, mich in
irgendeinem Problem auf dem Gebiet der Soziologie oder
Ethnologie zurechtzufinden, ohne zuvor meine Gedanken durch
das Lesen einiger Seiten aus dem Achtzehnten Brumaire des
,Louis Bonaparte' oder aus der .Kritik der Politischen
Ökonomie'angeregt zu haben. "(6)
Aber wenn das alles stimmt, dann wird nicht verständlich,
warum die Struktura-listen sich nicht einfach für Marxisten
halten und weshalb sie die Methode, die nach ihrem
Eingeständnis Marx entlehnt worden ist, mit einer
solchen Beharrlichkeit strukturalistische und nicht
dialektische Methode nennen. Diese Frage erinnert sehr an eine
andere, die Sartre in eben den Jahren gestellt wurde,
als er sein „tiefes Einverständnis mit der marxistischen
Philosophie erklärte" — die Frage nämlich, wozu er dann den
Existentialismus vertritt? Die Antwort auf diese Frage
besteht, wie die theoretische und politische Entwicklung
Sartres gezeigt hat, in folgendem: Die Verteidigung der
existentialistischen Position bedeutet gleichzeitig auch den
Verzicht auf das Wesen des Marxismus. Das gleiche kann man
auch vom Strukturalismus sagen, bei all seinen Unterschieden
vom Existentialismus: Seine entschiedene Ablehnung einer
Gleichsetzung mit dem dialektischen Materialismus ist nicht
bloß eine Frage der Terminologie oder des Prestiges einer
Theorie, sie bringt eine grundlegende Divergenz mit dem
Marxismus zum Ausdruck. Diese zeigt sich in folgenden
Hauptmomenten:
1. Der Strukturalismus behauptet nicht nur und nicht bloß,
die methodologische Priorität der synchronischen Methode vor
der diachronischen, sondern er grenzt sie auch so radikal
voneinander ab, so daß deren innere Einheit völlig
ausgeschlossen wird. Freilich kommt er nicht zu einer rein
statischen Auffassung des Gegenstandes, und er lehnt das
Problem der Diachronie auch nicht ab. Doch in der sogenannten
„Strukturtheorie der Diachronie" geht es faktisch um den
Verzicht auf eine adäquate Lösung historischer Probleme.
Der Strukturalismus erkennt die Tatsache der einfachen
Entfaltung verschiedener Strukturen in der Zeit an, betrachtet
das aber nicht als einen in die Zukunft gerichteten Prozeß,
sondern sieht in ihr, umgekehrt, eine Bewegung zur Vollendung
und folglich zur Stagnation. So schreibt der Linguist A.
Greimas, daß „die Geschichte, statt Ausgangspunkt zu
sein, wie das ständig gesagt wird, umgekehrt, die Vollendung
darstellt"; sie spiele „eher die Rolle der Bremse als
die eines Motors"; daher enthalte auch, von seinem
Standpunkt aus, „die Volksweisheit, die behauptet: Je mehr
man etwas verändert, desto unveränderlicher wird es', ein
gutes Stück Wahrheit".(7) Hier fehlt das Wichtigste: Die
Geschichte als Prozeß der ununterbrochenen und unbegrenzten
Entwicklung der menschlichen Gesellschaft, d.h. gerade das,
was wirkliche Geschichte ist.
In den Fällen, da der Strukturalismus bestimmte
Veränderungen der Strukturen anerkennt, faßt er sie nur als
eine „Explosion der Struktur" infolge ihres Zusammenstoßes mit
äußeren Bedingungen auf. Damit ignoriert der Strukturalismus
die inneren Gesetze der historischen Entwicklung, und die
gesamte Geschichte wird „offen" in dem Sinne, daß sie als eine
zufällige Kette untereinander nicht verbundener Epochen und
Perioden hervortritt. So betrachtet M. Foucauld in der
Arbeit „Worte und Dinge" die verschiedenen Epochen in der
Entwicklung des menschlichen Wissens als eine Serie
epistemologischer Bilder, die eher an ein buntes Kaleidoskop
erinnern als an einen realen Prozeß der vorwärtsschreitenden
Entwicklung der Erkenntnis. Im Gegensatz zu der dialektischen
Betrachtung der Struktur und der Geschichte in ihrer tiefen
Einheit dreht sich der Strukturalismus, der diese Einheit
ignoriert und in den Strukturen deren relative.
Unveränderlichkeit besonders hervorhebt, im Teufelskreis von
Strukturen ohne reale Geschichte und von Geschichte ohne reale
Strukturen.
2. Der Marxismus gibt eine zutiefst rationale Auffassung
der Einheit von Struktur und Geschichte, indem er die
Triebkraft aller Prozesse aufdeckt: den dialektischen
Widerspruch. Als Einheit von Gegensätzen schließt er sowohl
die relative Unveränderlichkeit der Struktur als auch die
Gesetzmäßigkeit aufeinanderfolgender Etappen der historischen
Entwicklung ein; aber gleichzeitig deckt er in Form des
Kampfes der Gegensätze die innere Dynamik der Struktur und die
qualitativen Veränderungen auf, die deren reale Geschichte
bestimmen.
Der Strukturalismus kennt keinen dialektischen Widerspruch.
Und darin besteht eine der charakteristischsten Besonderheiten
seiner Methode. Er erkennt nur eine sich gegenseitig
ergänzende Gegenüberstellung von Fakten, Erscheinungen und
Strukturen, d.h. nur die äußere Form oder einen blassen
Abklatsch des dialektischen Widerspruchs, an. Die vom
Strukturalismus betrachteten Beziehungen sind gewöhnlich
Beziehungen einer ergänzenden Gegenüberstellung von Elementen
dieses oder jenes Systems, z.B. des Systems der Verwandtschaft
oder des Systems der Begriffe. Das sind keine inneren,
dialektischen Widersprüche, und das Funktionieren der
verschiedenen Elemente des Systems ist nicht mit der
Dialektik, sondern mit dem Mechanismus der Erscheinungen
verbunden.
Das Wichtigste an der wissenschaftlichen Analyse besteht
darin, hinter der sichtbaren Unveränderlichkeit der
Mechanismen verschiedener Erscheinungen die in der Tiefe
verborgenen widersprüchlichen Prozesse aufzudecken, die sie
hervorgebracht haben und im Verlauf der notwendigen
Entwicklung neue Mechanismen schaffen. Der Marxismus
bestreitet nicht im geringsten die Notwendigkeit einer Analyse
konkreter Mechanismen sozialer Erscheinungen. Man braucht nur
daran zu erinnern, wie Marx im „Kapital" den
Mechanismus des Übergangs vom Zyklus W-G-W, d.h. von der
Formel der einfachen Warenzirkulation, zum Zyklus G-W—G, zur
allgemeinen Formel des Kapitals, untersucht, dessen
Widersprüche wiederum den Mechanismus der Schaffung von
Mehrwert und den Prozeß des Klassenkampfes begreifen helfen.
Die Methode von Marx setzt keineswegs irgendeinen
Verzicht auf die Berücksichtigung des Mechanismus der
Erscheinungen voraus, aber sie deckt hinter der relativen
Unveränderlichkeit des Mechanismus die lebendige Dialektik der
Prozesse auf. Gerade die wissenschaftliche, die dialektische
Methode ermöglichte den Nachweis, wie Marx schrieb, daß
„die jetzige Gesellschaft kein fester Kristall, sondern ein
umwandlungsfähiger und beständig im Prozeß der Umwandlung
begriffener Organismus ist".(8) Man muß die Methode des
Strukturalismus in dieser Hinsicht als antidialektisch
einschätzen.
3. Warum sieht der Strukturalismus nicht die dialektischen
Widersprüche, dieses Bindeglied zwischen der Geschichte und
der Struktur? Weil er nämlich die Grundlage der Entwicklung
aller gesellschaftlichen Erscheinungen, die Dialektik der
Basis der menschlichen Gesellschaft, d.h. die Dialektik der
gesellschaftlichen Produktion der materiellen Güter,
ignoriert. Das ist das Wesen des Problems: Die
wissenschaftliche Dialektik von Marx ist von seinem
Materialismus nicht zu trennen, denn in der materiellen Praxis
des Menschen selbst wurzelt letztendlich die Dialektik aller
anderen Seiten des gesellschaftlichen Seins und Bewußtseins
(läuft aber natürlich nicht darauf hinaus). Mögen die
Teilverdienste der Strukturalisten noch so groß sein, ihren
Anstrengungen kann kein Erfolg beschieden sein, wenn die
bestimmende Grundlage aller sozialen Erscheinungen derart
ignoriert wird.
Unhaltbar mutet der Anspruch des Strukturalismus an, eine
universale Methode der Erkenntnis aller Erscheinungen und
Prozesse zu sein. Als Ausgangspunkt erscheint hier die
Verabsolutierung der Sprache, der linguistischen Strukturen,
die gegenüber allen anderen sozialen Faktoren als bestimmend
angesehen werden.Levi-Strauss sagt: „Die Sprache ist
eine vorwiegend kulturelle Erscheinung (die den Menschen vom
Tier unterscheidet)." (9) Daraus folgt auch das Grundaxiom
des Strukturalismus: Die Linguistik sei die führende
Wissenschaft des gesamten großen Bereichs der
Gesellschaftswissenschaft. Im Zusammenhang damit muß man die
erstaunliche Inkonsequenz des Strukturalismus vermerken, der
die Analyse der Gesamtheit der Elemente eines Systems in ihren
Zusammenhängen fordert und zugleich aus dem System der
sozialen Erscheinungen einen einzigen Faktor künstlich
aussondert, eines der Elemente, dem die entscheidende
Bedeutung beigemessen wird. Wenn Descartes seinerzeit
unter anderem glauben konnte, daß bloß die Sprache den
Menschen vom Tier unterscheidet, so ist gegenwärtig durch die
Wissenschaft bewiesen, daß ein solcher Unterschied kraft eines
Systems von Ursachen allmählich entstanden ist; eines der
Elemente dieses Systems ist die Sprache, aber neben anderen,
mindestens ebenso wichtigen Elementen, solchen wie die
Herstellung von Arbeitsinstrumenten. Damit ist letztendlich
auch die Entstehung der Sprache selbst in enger Verbindung mit
der Entwicklung des menschlichen Bewußtseins bedingt.
Falsch ist auch die strukturalistische Auffassung von der
Rolle der Linguistik als der „führenden Wissenschaft". Die
mechanische Übertragung von Methoden und Begriffen einer
Wissenschaft auf eine andere, ohne sorgfältiges Studium der
real existierenden Unterschiede und ihres konkreten Inhalts,
führt zur Ersetzung der wissenschaftlichen Analyse durch
Metapher, wie das von dem marxistischen Linguisten G.
Mounin mit Recht festgestellt wurde. Die Strukturalisten
sind sogar der Ansicht, daß sie nach Ansammlung einer
bestimmten Summe von Begriffen und Termini hinsichtlich
irgendeiner Gruppe von Fakten des menschlichen Seins
irgendeiner Gruppe von Fakten des menschlichen Seins
irgendeinen „Code" entdecken, der zu den „Geheimnissen" der
Erkenntnis führt. In Wirklichkeit erweist sich eine solche
„epistemologische" Methode als formal und unfruchtbar. Die
Mißachtung des historischen Materialismus bezahlt der
Strukturalismus mit der Rückkehr zum unlösbaren Rätsel der
Geschichte, in die Sackgasse des anthropologischen Idealismus
und zur Willkür epistemologischer Rezepte.
Inhalt und allgemeine Bedeutung des modernen
Strukturalismus zeichnen sich durch eine bestimmte
Zwiespältigkeit aus.
Zweifellos bedeutet der Strukturalismus im Vergleich zu
vielen vorangegangenen und modernen Strömungen des
bürgerlichen philosophischen Denkens einen Schritt vorwärts.
Er entstand und verbreitete sich unter den Bedingungen der
Krise der bürgerlichen Weltanschauung, da die geistige Armut
der traditionellen philosophischen Systeme und Lehren bei der
Lösung wichtigster Fragen des Seins und der Erkenntnis
offensichtlich wurde. Das gilt besonders für die Spielarten
des philosophischen Subjektivismus, denen gegenüber Ideen und
Methode des Strukturalismus gewisse Vorzüge aufweisen. Der
Strukturalismus, der die subjektivistischen Konzeptionen des
Existentialismus und Personalismus ablehnt, stützt sich auf
die Ergebnisse verschiedener Wissenschaften über den Menschen,
auf die Analyse objektiver — ökonomischer, historischer,
kultureller, linguistischer und anderer — Strukturen und zieht
umfangreiches konkretes Material zur Begründung seiner
Schlußfolgerung heran.
Wiedergeburt der Metaphysik
Aber zugleich liefert der Strukturalismus keine
wissenschaftliche Auffassung von den historischen Prozessen:
Er negiert faktisch den Fortschritt in der Entwicklung der
Menschheit. Unter dem Einfluß seiner Ideen erleben in den
Gesellschaftswissenschaften mystische Geschichtsvorstellungen
ihre Wiedergeburt, wird der wirkliche Sinn der Geschichte
entwertet, das Bewußtsein des Menschen von den realen
Strukturen losgelöst und mit einem autonomen Charakter
versehen. Der Strukturalismus sieht im historischen Prozeß
nicht die dialektischen Widersprüche, ist daher nicht
imstande, die wahren Ursachen der gesellschaftlichen
Erscheinungen festzustellen und zu erklären, was das Entstehen
der verschiedenen sozialen Strukturen bedingt, welche Faktoren
deren Entwicklung und Veränderung bestimmen. Nicht zufällig
muli er a priori Gesetze des menschlichen Geistes postulieren
und ihnen eine universelle Bedeutung beimessen. Die Strukturen
selbst sind dabei von diesen Gesetzen abgeleitete Formen, was
uns zu den Vorstellungen Descartes'über die angeborenen
Ideen zurückführt (Siehe z.B. Chomsky, „La linguistique
cartesienne".). Da aber der Strukturalismus darauf Anspruch
erhebt, eine positive wissenschaftliche Doktrin zu sein,
möchte er seinen Postulaten und Gesetzen natürlich keine
theologische Auslegung geben. Deshalb betrachtet er die
„Gesetze des menschlichen Geistes" nicht als „von oben"
hineingetragen, sondern als erbliche hypothetische Strukturen
des menschlichen Gehirns, die angeboren sind und einen ewigen
und unveränderlichen Charakter tragen. So vereinen sich im
Strukturalismus Idealismus und Metaphysik mit den beschränkten
und veralteten Prinzipien des „biologischen Materialismus" des
19. Jahrhunderts.
Der Marxismus befreite das menschliche Denken von der.
abstrakten metaphysischen Vorstellungen über eine ewige und
universelle menschliche Natur. Er löste das traditionelle
philosophische Problem des Wesens des Menschen
wissenschaftlich, indem er dessen tiefen sozialen Sinn
aufdeckte. In der berühmten sechsten These über Feuerbach
sagt Marx:,,... das menschliche Wesen ist kein dem
einzelnen Individuum inwohnendes Abstraktum. In seiner
Wirklichkeit ist es das ensemble der gesellschaftlichen
Verhältnisse. "(10) Darin liegt der Schlüssel des
Problems. Gewiß darf man die natürlichen (biologischen,
geographischen, klimatischen) Bedingungen, die in der
Entwicklung des Menschen die Ausgangsbedingungen sind, nicht
ignorieren. Aber das Wichtigste ist, daß sich im realen Leben
der Menschen eine immer tiefere Umgestaltung der natürlichen
Faktoren in soziale vollzieht, daß die Menschheit ihre
Existenz immer mehr auf die sozialhistorischen Voraussetzungen
gründet. Die sozialen Faktoren erlangen im Leben und Wirken
des Menschen entscheidende Bedeutung, und es ist nur
gesetzmäßig, daß gerade sie in letzter Instanz sein Wesen
bestimmen, aber nicht als ein abstraktes, sondern als ein
konkret-historisches Individuum.
Die Auffassung vom Wesen des Menschen als Gesamtheit der
gesellschaftlichen Verhältnisse muß allen
Gesellschaftswissenschaften zugrunde liegen, wollen sie
fruchtbare Ergebnisse erzielen. Der Strukturalismus jedoch
ignoriert im Grunde die gesellschaftliche Natur des Menschen
und führt die Gesellschaftswissenschaften in abstrakte und
metaphysische Spekulationen.
Solche Positionen gestatteten es dem Strukturalismus nicht,
den wirklichen „Sinn der Geschichte" und schon gar nicht die
Gesetze des Klassenkampfes zu begreifen, die überhaupt
außerhalb des Blickfeldes seiner Verfechter bleiben. Der
Strukturalismus erwies sich außerstande, hinter dem äußeren
Schein der sozialen Prozesse deren inneres Wesen aufzudecken.
Die realen gesellschaftlichen Erscheinungen können sich, wie
der Marxismus gezeigt hat, von den ideologischen Formen
unterscheiden, in denen sie spontan im Bewußtsein des
Individuums auftreten. So können die Verhältnisse zwischen den
Menschen im Produktions- und Zirkulations-prozeß
fälschlicherweise für Beziehungen zwischen Sachen gehalten
werden. Doch die mystifizierten Formen des Bewußtseins haben
stets eine bestimmte objektive Grundlage, und zwar die
gesellschaftlichen Verhältnisse, die der praktischen Erfahrung
der Menschen durchaus zugänglich sind. Es besteht daher die
prinzipielle Möglichkeit, vom falschen zum wirklichen
Bewußtsein überzugehen, und gerade darin besteht das Ziel der
wissenschaftlichen Erkenntnis.
Der Strukturalismus geht jedoch einen anderen Weg. Er
ignoriert das reale Wesen des Menschen und die wirklichen
Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung und zieht eine
unüberwindliche Trennwand zwischen den autonomen, anonymen
Sozialstrukturen und den Bewußtseinsformen, in denen sie ihren
Ausdruck finden. „Wir sind so weit", schreibt
Levi-Strauss, „daß wir die sozialen Strukturen als Objekte
betrachten können, die vom Charakter ihrer Verkörperung im
Bewußtsein der Menschen unabhängig sind..., als Objekte, die
sich von den Bildern unterscheiden, die sie in den
Vorstellungen des Menschen annehmen, so wie sich die
physikalische Realität von unseren sinnlichen Vorstellungen
über diese Realität und von den durch uns geschaffenen
Hypothesen unterscheidet."(11)
Charakteristisch ist, daß Levi-Strauss hier
Unterstützung bei Marx sucht, den er gleichzeitig
widerlegen will. Er führt „die berühmte Marxsche Formel"
an, die er wie folgt zitiert: „Die Menschen selbst
machen ihre eigene Geschichte, aber sie wissen nicht, daß sie
das tun. " (12) Dabei gibt Levi-Strauss keinen
Hinweis auf die Quelle. Und dies nicht ohne Grund! Denn das
genannte Zitat ist einfach fabriziert worden, wie das bereits
von Ch. Parain in „La Pensee" (Nr. 135, Oktober 1967)
festgestellt wurde. Marx hat etwas Derartiges nie
geschrieben, und er konnte es auch nie schreiben, weil er
einen ganz anderen Standpunkt hatte.
Und das schrieb Marx in Wirklichkeit aus diesem
Anlaß, beispielsweise in der Arbeit „Der achtzehnte Brumaire
des Louis Bonaparte": „Die Menschen machen ihre eigene
Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken,
nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar
vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen. "
(Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 8, S. 115.) In dieser
und in vielen anderen ähnlichen Äußerungen behauptet Marx
also keineswegs, daß die Menschen bei der Schöpfung ihrer
Geschichte dazu verurteilt sind, ihre eigenen Handlungen nicht
begreifen zu können. Marx sagt, daß die Menschen bei
der Schöpfung der Geschichte von den objektiv existierenden
Bedingungen ausgehen, die sie nicht willkürlich, durch
einfache Anstrengung des Willens, verändern können. Natürlich
kommt das Bewußtwerden dieser Bedingungen nicht plötzlich, auf
einmal, sondern es wird in einem langen und schweren Kampf der
Werktätigen für ihre Befreiung erreicht. Die gewaltige Rolle
der Kommunistischen Partei besteht gerade darin, daß sie dem
Proletariat und dessen Verbündeten hilft, die objektiv
existierenden Bedingungen ihres Lebens und Wirkens zu
erkennen, die realen Perspektiven des siegreichen Kampfes für
eine bessere Zukunft, für die Vernichtung der alten sozialen
Ausbeuterverhältnisse zu begreifen. Von der Bedeutung gerade
eines solchen bewußten Herangehens an die realen Bedingungen
des Kampfes der Werktätigen schreibt Marx in der Arbeit
„Grundrisse zur Kritik der Politischen Ökonomie": „Die
Erkennung der Produkte als seiner eignen und die Beurteilung
der Trennung von den Bedingungen seiner Verwirklichung als
einer ungehörigen, zwangsweisen - ist ein enormes Bewußtsein,
selbst das Produkt der auf dem Kapital ruhenden
Produktionsweise...".(13)
Das alles hat gar nichts gemein mit der „berühmten
Marxschen Formel", die Levi-Strauss erfunden hat, um
die Ideen des Marxismus zu verzerren und die eigenen
unwissenschaftlichen Vorstellungen von der
Menschheitsgeschichte zu rechtfertigen. Wir wollen nebenbei
bemerken, daß derartige Entstellungen der Gedanken,
Formulierungen und Zitate der Klassiker des
Marxismus-Leninismus eine Art „Mode" bei den bürgerlichen
Ideologen geworden sind; sie versuchen, mit diesen Methoden
die Ideen des Marxismus den eigenen Zielen anzupassen und in
den Augen unerfahrener Leser in ein falsches Licht zu rücken.
Kritik der „Kritiker"
Der zwiespältige Charakter des Strukturalismus offenbar
sich auch, wenn man untersucht, wie die verschiedenen
philosophischen Strömungen auf sein stürmisches Eindringen in
das ideologische Leben Frankreichs reagiert haben. Bekanntlich
haben französische Marxisten eine objektive und allseitige
Einschätzung des Platzes und der Rolle des Strukturalismus
gegeben, was selbstverständlich Dispute und Diskussionen
zwischen ihnen zu einer Reihe wichtiger, von den heutigen
Strukturalisten aufgeworfener Probleme nicht ausschließt.
Einen starken Widerhall — und nicht nur
in Frankreich — fanden die Materialien eines Sonderheftes
der Zeitschrift „La Pen-see" (Nr. 135), das seitdem in vielen
Ländern neu aufgelegt und übersetzt wurde. Dieses Heft enthält
12 Artikel, die der Analyse des Verhältnisses von Marxismus
und Strukturalismus gewidmet sind. Nur von den Positionen des
dialektischen und historischen Materialismus aus ist eine
objektiv richtige Betrachtung aller positiven und negativen
Seiten möglich, die einer so komplizierten und recht
heterogenen Bewegung des philosophischen und
wissenschaftlichen Denkens, wie es der Strukturalismus ist,
eigen sind.
Charakteristisch war die Reaktion seitens des Sartreschen
Existentialismus und des christlichen Personalismus, jener
philosophischen Strömungen, deren „Rücktritt" der
Strukturalismus verkündet hatte. Die Vertreter dieser
Strömungen machen - bei allen Unterschieden zwischen ihnen -
dem Strukturalismus vor allem dessen antihumanistische
Orientierung zum Vorwurf, die Tatsache, daß er den Menschen
„sowohl der Geschichte als auch des Sinns" beraubt.
Gleichzeitig beschuldigen sie den Strukturalismus, er
unterstütze im Namen der Wissenschaft die Ideologie des
Technokratismus, die den Menschen herabsetzt, seine
moralischen, kulturellen und religiösen Werte zerstört.
P. Ricoeur und /. M. Domenach, die den
Strukturalismus von den Positionen des christlichen
Personalismus kritisieren (siehe „Esprit", November 1963; Mai
1967), stellen ihm eine abstrakt-religiöse Konzeption vom
Menschen entgegen, der die Anerkennung eines „ewigen,
göttlichen " Wesens des Menschen zugrunde liegt, was die
Dogmen und moralischen Prinzipien der christlichen Religion
rechtfertigen soll. Deshalb kann man, wenn man auch die
Richtigkeit ihrer Anschuldigungen an den Strukturalismus,
„den Menschen vergessen zu haben" u.a., anerkennt, in
keiner Weise ihre eigenen Ansichten akzeptieren. Ihre
Konzeption des Menschen und des Humanismus beruht auf den
unwissenschaftlichen Vorstellungen von einer nicht existenten
„göttlichen " Natur des Menschen.
Die dominierende Tendenz des Strukturalismus ist, vom
Standpunkt Sartres aus, der „ Verzicht auf die
Geschichte", womit auch die Negation der Rolle der
menschlichen Praxis durch die Strukturalisten verbunden ist,
die von Sartre beharrlich „Praxis" genannt wird
(er verwendet, wie wir sehen werden, nicht zufällig eine von
der marxistischen unterschiedene Terminologie). Sartre
wendet sich gegen den Antihistorismus der Strukturalisten und
bemerkt, sowohl im System der Sprache als auch in den sozialen
Strukturen überhaupt gäbe es „Spuren der Einwirkung der
Praxis". Für eine Analyse der Entstehung der Strukturen
sei es daher notwendig, zum „Begriff der ,Praxis'als
allumfassenden Prozeß zurückzukehren". Und dann folgt eine
äußerst charakteristische Behauptung Sartres: „Es ist ganz
offenkundig, daß man auf die Geschichte zielt und dabei den
Marxismus zu treffen hofft. Es geht um die Schaffung einer
neuen Ideologie, des letzten Hindernisses, das die Bourgeoisie
noch gegen Marx errichten kann. "(14) Aber „völlig
offenkundig" ist auch, daß Sartre bei der Kritik
des Strukturalismus, der auf eine bestimmte Nähe zum Marxismus
Anspruch erhebt, sich nicht auf die Thesen des
Existentialismus stützt: Er tut das im Namen des Marxismus!
Überhaupt wollen heute in Worten alle .Marxisten' werden.
Diese fast allgemeine Hinwendung zum Marxismus ist zum
bemerkenswerten Symptom des gegenwärtigen ideologischen Lebens
in Frankreich geworden. Diese Hinwendung bringt die tiefen
sozialen Prozesse zum Ausdruck, die die Krise des geistigen
Lebens, des bürgerlichen Bewußtseins verstärken. Gesetzmäßig
ist daher das Interesse für die Ideen des Marxismus, der
ständig wachsenden Einfluß auf die verschiedenen
Bevölkerungsschichten nimmt. Aber der „Marxismus" Sartres
ist kein echter Marxismus, er trägt unweigerlich den
Stempel existentialistischer Ideen und Vorstellungen. Seine
„Praxis" insbesondere ist nicht die
gesellschaftlich-historische Tätigkeit der Menschen, nicht die
Gesamtheit der gesellschaftlichen Verhältnisse, was die Praxis
in marxistischer Auffassung ausmacht, sondern die
ausschließlich subjektive Tätigkeit des Individuums, dessen
„freies" Handeln auf der Grundlage der freien Wahl usw.
Das Rationale in diesen Ausführungen Sartres ist das
Eingeständnis, daß der Mensch der Schöpfer seiner Geschichte
ist. Aber diese These erhält im Existentialismus eine äußerst
subjektivistische Auslegung — der gesamte historische Prozeß
wird zur Verkörperung des Willens und des Bewußtseins des
Subjekts. Recht in dieser Hinsicht hat der Strukturalismus,
der das Primat der objektiven sozialen Strukturen gegenüber
den subjektiven Zielen und Bestrebungen der Menschen
anerkennt. Folglich kann man den Strukturalismus von den
Positionen des Existentialismus wie auch den Positionen
anderer subjektivistischer Systeme des „philosophischen
Humanismus" nicht widerlegen. Der Streit zwischen
Existentialismus und Strukturalismus wird - wenn man das so
sagen kann — „strukturell unlösbar", denn jede dieser
Doktrinen tritt widerlegend und gleichzeitig widerlegt in
Erscheinung. Die eine wie die andere trägt den Stempel der
Beschränktheit der bürgerlichen Ideen und Ansichten; daher die
Zwiespältigkeit, die Halbheit ihrer gegenseitigen Kritik.
Statischer und genetischer Strukturalismus
Der zwiespältige Charakter des Strukturalismus zeigt sich
auch recht deutlich im Zusammenstoß verschiedener Tendenzen
seines eigenen Gehalts. Viele Vertreter des Strukturalismus
bestreiten faktisch die historische Entwicklung der Strukturen
selbst, gehen vom Primat des synchronischen Herangehens
gegenüber dem diachronischen aus und vertreten damit
(ungeachtet ihrer diversen Vorbehalte) statische Ansichten
über soziale Erscheinungen. Von dieser Warte aus sind die
kritischen Bemerkungen an die Adresse des statischen
Strukturalismus seitens des bekannten Psychologen /. Piaget
interessant, des anerkannten Führers des Strukturalismus,
der sich genetisch nennt.
Piaget wirft den Vertretern des statischen
Strukturalismus vor allem die Trennung zwischen Genesis und
Struktur vor. Die Methode von Levi-Strauss, so stellt
er fest, geht ganz und gar von einer statischen Vorstellung
von den Strukturen aus
und läßt den Prozeß ihrer Entstehung außerhalb des
Blickfeldes. Noch härter ist sein Vorwurf an Foucauld: „Er
hat vom statischen Strukturalismus alle negativen Seiten
übernommen: Entwertung der Geschichte und der Genesis,
Mißachtung der Funktionen und in extremem Grade Negation des
Subjekts selbst... "(15) Piaget vertritt beharrlich
den Gedanken, daß „zwischen Genesis und Struktur eine
notwendige gegenseitige Verbindung vorhanden ist: Die Genesis
ist keineswegs der einfache Übergang von einer Struktur zur
anderen - es ist ein Übergang, der formende Bedeutung hat und
zu immer komplizierteren Gebilden führt; andererseits ist die
Struktur nicht bloß ein System verschiedener Transformationen
— es ist ein System, dessen Wurzeln sich in Bewegung und
Aktion befinden... "(16)
Die kritische Einstellung Piagets zum statischen
Strukturalismus, die unentwegte Anwendung des genetischen
Prinzips, die Auffassung der Genesis als bestimmender
Grundlage jeder Struktur veranlaßt zu der natürlichen Frage:
Sollte man seine Ansichten nicht als marxistisch betrachten?
Ist er ein marxistischer Strukturalist? Manche sind dieser
Ansicht, beispielsweise L. Goldman. Aber wenn dem so
ist, warum sagt Piaget selbst nichts Derartiges? Wie
seine Erklärung interpretieren, er stimme völlig mit den
Ansichten M. Gaudeliers überein, die dieser in dem
Artikel „System, Struktur und Widerspruch im .Kapital'",
veröffentlicht im existentialistischen Organ „Temps modernes"
(November 1966), geäußert hat? Enthält doch dieser Artikel in
Wirklichkeit keinerlei Kritik an den Ansichten
Levi-Strauss', akzeptiert er doch die marxistische
Dialektik genau in dem Maße und in der Form, wie sie nach den
Levi-Strauss-Normen revidiert und „korrigiert" worden war, d
Ji. in der Gestalt, in der sie faktisch aufgehört hatte,
Dialektik zu sein!
Piaget erblickte in den Arbeiten Althussers die
Möglichkeit, „den Marxismus in den Strukturalismus zu
übersetzen". Wir wollen im Zusammenhang damit eine sehr
wichtige Erklärung von Althusser selbst im Vorwort zur
zweiten Ausgabe seines Buches „,Das Kapital' lesen" anführen:
„Unsere Interpretation von Marx wurde der heutigen Mode
zuliebe als ,strukturalistisch' anerkannt und eingeschätzt.
Wir sind aber der Ansicht, daß der innere Sinn unserer Thesen
trotz der Nähe der Terminologie keineswegs mit der Ideologie
des Strukturalismus verbunden ist." Es versteht sich von
selbst, daß die Verwendung der Begriffe Struktur, System,
Elemente usw. bei weitem noch nicht bedeutet, daß wir es mit
dem Strukturalismus zu tun haben.
Die wissenschaftliche Bedeutung der Arbeiten Piagets
steht außer Zweifel. Das gilt insbesondere für seine
Spezialforschungen über verschiedene Probleme der Psychologie.
Gleichzeitig können seine allgemeintheoretischen,
philosophischen Ansichten nicht als marxistisch angesehen
werden. Das wird auch durch die Analyse des Begriffes
„Genesis" bestätigt, dem Piaget keineswegs zufällig vor
den Kategorien der Dialektik den Vorzug gibt. Wie M. de
Gandillac sehr treffend bemerkte, kommt das Wort „Genesis"
nicht vom griechischen genesis (Werden), sondern von gennesis
(Geburt).(17) Im Grunde bedeutet Genesis den sich
ununterbrochen wiederholenden Prozeß der Geburt dieser oder
jener Struktur, und dieser Prozeß erreicht jedesmal seine
Grenze in der Vollendung dieser Struktur. Gerade in diesem
Sinne betrachtet Piaget den Begriff „Genesis", wenn er
u.a. sagt: „ Was mich betrifft, so halte ich es für
möglich, die Genesis und die Struktur miteinander auszusöhnen,
indem ich die letztere zu einer bestimmten Form des
Gleichgewichts mache, zu der die Genesis hinneigt. "(18)
Eine solche Auffassung der Genesis, die ununterbrochen
verschiedene Strukturen hervorbringt und „zum Gleichgewicht
hinneigt", ist keineswegs der dialektischen Auffassung von der
historischen Entwicklung gleichwertig. Der einfache Wechsel
der Genesen im allgemeinen historischen Prozeß deckt dessen
inneren Triebkräfte noch nicht auf: die dialektischen
Widersprüche, die auch die „negative Arbeit" der Geschichte
einschließen, und nicht nur das positive Erzeugen
verschiedener Strukturen, Ereignisse und Erscheinungen.
In der wissenschaftlichen Forschung muß man natürlich die
Entstehung dieser oder jener Erscheinungen analysieren, d.h.
deren Genesis feststellen. In bestimmtem Rahmen ist es
möglich, von den inneren Widersprüchen des historischen
Prozesses insgesamt zu abstrahieren. Wir wollen daran
erinnern, daß Marx beispielsweise im „Kapital" bei der
Betrachtung der Genesis des Kapitals keineswegs auf eine
solche Methode verzichtet. Aber erst die gründliche Analyse
der gesamten Dialektik der kapitalistischen Produktion
ermöglichte es Marx, deren Wesen und innere
Entwicklungsgesetze aufzudecken. Beim Studium des kindlichen
Intellekts beispielsweise ist es in erster Annäherung möglich
und in gewissem Maße notwendig, von der historischen Evolution
zu abstrahieren. Aber man kann die Genesis des kindlichen
Intellekts nur in organischer Verbindung mit der gesamten
ganzheitlichen Entwicklung der Persönlichkeit des Kindes, mit
der Dialektik des gesamten Systems der sozialen Verhältnisse
bis zu Ende begreifen und dessen wirkliches Wesen aufdecken.
Der genetische Strukturalismus Piagets hat, wie
bereits festgestellt wurde, bei seinen Vorwürfen gegenüber dem
statischen Strukturalismus im großen und ganzen recht. Aber
auch Piaget war mit seinem Genesis-Begriff nicht
imstande, die wirklichen Ursachen und den Charakter der
gesellschaftlichen Entwicklung aufzudecken. Mehr noch,
Piaget gelangt zu einer Biologisierung der historischen
Erscheinungen und läßt damit die längst widerlegten Ansichten
der Anhänger verschiedener „organischer Theorien" der
Gesellschaft wieder auferstehen. Den Ideen Chomskys
über die „angeborene Vernunft" und Levi-Strauss' über
die „Beständigkeit des menschlichen Intellekts"
entgegentretend, äußert er folgende Thesen: „Es gibt keine
angeborenen Strukturen: Jede Struktur setzt den Prozeß ihrer
Entstehung voraus. Solche Prozesse führen uns zu den
vorangegangenen Strukturen, die in letzter Instanz zum ...
biologischen Problem führen." Und weiter: „Ich glaube
nicht, daß die Evolution der Vernunft eine andere Natur hat
als die biologische Evolution. "(19) Die Biologisierung
der sozialen Erscheinungen, die im gegebenen Falle von den
Positionen des genetischen Strukturalismus aus erfolgt,
ignoriert aber die grundlegenden, qualitativen Unterschiede
zwischen Gesellschaft und Natur. In methodologischer Hinsicht
ist das Mechanizismus, eine Spielart der metaphysischen
Prinzipien, die es nicht gestatten, das konkrete Wesen der
sozialen Erscheinungen und die tatsächlichen Gesetzmäßigkeiten
der historischen Entwicklung aufzudecken. Deshalb kann der
Strukturalismus insgesamt, ungeachtet rationaler Ideen bei den
Vertretern des genetischen Strukturalismus, nur die Rolle
einer antidialektischen Alternative zum Marxismus für sich
beanspruchen.
Das letztere erklärt weitgehend die verdächtige
Begeisterung, mit der der Strukturalismus von den
reaktionärsten Ideologen aufgenommen wird. Daraus erklärt sich
ferner sein vernichtender Sturz infolge der Ereignisse von
Mai/Juni 1968, die den Zusammenbruch aller Arten der Statik,
die Bloßlegung der dialektischen Widersprüche, eine „Rache" an
der „Lebens-", „Freiheit-" und „Persönlichkeits"philoso-phie,
eine Art Revanche der Geschichte bedeuteten. Damit wurde
offensichtlich, daß der Strukturalismus der realen
Wirklichkeit mit ihrer ganzen Kompliziertheit, Dynamik und
Widersprüchlichkeit nicht adäquat ist.
Muß man jedoch der Ansicht sein, daß die Ideen des
Strukturalismus heute und morgen keinen Platz mehr im
ideologischen Leben Frankreichs haben? Diese Schlußfolgerung
wäre verfrüht. Denn der Strukturalismus findet, trotz seiner
historischen Mißgeschicke, einen gewissen Nährboden in der
spezifischen Situation, wie sie in der Entwicklung der
wissenschaftlichen und philosophischen Ideen entstanden ist:
einerseits der mächtige Fortschritt der modernen
Wissenschaften, der objektiv eine mit dem Prozeß der
wissenschaftlichen Erkenntnis eng verbundene Philosophie
erfordert; andererseits mangelnde Kenntnis der Dialektik in
den verschiedenen Kreisen der wissenschaftlichen Intelligenz,
was natürlich das Vordringen antidialektischer Konzeptionen
fördert, insbesondere solcher, die von einem Schein von
Wissenschaftlichkeit umgeben sind. Der Marxismus sieht sich
einer solchen Situation nicht zum ersten Male gegenüber -
bereits in seiner Arbeit „Materialismus und
Empiriokritizismus" zeigte W. I.
Lenin die ganze Widersprüchlichkeit einer solchen
Situation auf, in der der wissenschaftliche Fortschritt unter
der Herrschaft idealistischer und metaphysischer Ideen zu
einer methodologischen Krise der Naturwissenschaft, zur
Verbreitung antiwissenschaftlicher philosophischer
Modeansichten unter den Wissenschaftlern führt.
Nicht zufällig war in dieser Situation eine gewisse
Wiedergeburt strukturalisti-scher Ideen, die nach 1968
zeitweilig in den Hintergrund getreten waren. Das
charakteristischste Beispiel ist das Auftreten des
Nobelpreisträgers/. Monod, eines bedeutenden
Spezialisten auf dem Gebiet der Molekularbiologie. Sein Buch
mit dem Titel „Zufall und Notwendigkeit. Untersuchung
naturphilosophischer Probleme der modernen Biologie" wurde
Ende 1970 veröffentlicht und fand sofort eine weite
Verbreitung. Es ist nicht unser Ziel, die philosophischen
Fragen der Biologie, die den Hauptinhalt des Buches bilden, zu
analysieren. Wir halten es hier nur für notwendig, die
strukturalistischen Ideen und Thesen zu unterstreichen, die
vom Autor in recht klarer Form zum Ausdruck gebracht werden.
Wir haben es hier in der Tat mit folgenden Erscheinungen zu
tun: allgemeine Anwendung des linguistischen Modells in
biologischen Forschungen („Die Theorie des genetischen Codes
dient als Hauptbasis der Biologie", S. 12); Definition des
Wesens des Menschen über den Begriff der Sprache, unter voller
Ausschaltung der Kategorien der Arbeit und der
gesellschaftlichen Verhältnisse (S. 144); Anerkennung der
„natürlichen" cartesianischen Konzeption von der angeborenen
Sprache (mit Berufung auf Chomsky und über ihn auf Descartes,
S. 150 u.a.); Negation der Evolution innerhalb der Struktur
und der Strukturen selbst im Geiste des statischen
Strukturalismus (im besten Falle wird eine „Deformation der
Invarianz", d.h. unveränderlicher Bildungen, anerkannt, S.
130); eine „nach allen Regeln" organisierte Offensive gegen
die Dialektik, die außerdem dem Evolutionismus Spencers
gleichgesetzt wird (das eine wie das andere wird vom Autor als
„szientististischer Progres-sismus des 19. Jahrhunderts"
definiert, S. 145). Für das Buch ist überhaupt eine
Feindseligkeit gegenüber dem Marxismus charakteristisch,
einer, um mit dem Verfasser zu sprechen, Ideologie des
„Animismus", der „Verhöhnung der Wissenschaft" (S. 194),
„voller verschiedener Drohungen, die Realität geworden sind"
(S. 193) usw.
Es entsteht der Eindruck, als treten die
strukturalistischen Ideen, die uns im Jahre 1970 dargeboten
werden, in einer natürlichen Verbindung mit der
Molekularbiologie in Erscheinung, was durch autoritative
Äußerungen gegenwärtiger Wissenschaftler untermauert wird.
Aber das ist ein rein äußerlicher Eindruck. In Wirklichkeit
sind alle strukturalistischen Hauptideen gerade nicht der
Wissenschaft, mit der sich /. Monod befaßt, entnommen -
weder der Biochemie der Zelle noch der modernen Biologie
schlechthin. Er hat sie von außen entlehnt, und zwar nicht nur
den Arbeiten der Strukturalisten der 60er Jahre, sondern auch
solchen Quellen wie die cartesianische Philosophie.
Die marxistische Philosophie kritisiert keinesfalls die
Ergebnisse der wirklichen wissenschaftlichen Erkenntnis, mit
denen gerade sie - wie das von Engels und Lenin
tiefschürfend aufgedeckt wurde - organisch verbunden ist,
sondern die idealistischen metaphysischen Spekulationen um die
Errungenschaften der Wissenschaft. Die marxistische
Philosophie übt heute genauso wie 1877 oder 1909 ihre ganz
natürliche und für die Wissenschaft nützlichste Funktion aus:
Sie hilft ihr, die eigenen Grundlagen, ihr wahres Wesen und
ihre wahre Bedeutung zu erkennen.
Die derzeitige Entwicklung des geistigen Lebens in
Frankreich ist gekennzeichnet durch eine tiefe Kluft zwischen
den absterbenden Systemen der spekulativen Philosophie und dem
strukturalistischen Neoszientismus als typischem Ausdruck
positi-vistischer Ideen auf französischem Boden. (Der
angelsächsische Positivismus vermochte trotz aller
Anstrengungen nicht, sich ein Auditorium in Frankreich zu
erringen.) Der Strukturalismus erweist sich bei aller
Bedeutung der rationalen Seiten seiner Methodologie als
untauglich, wichtigste philosophische Probleme, in erster
Linie der Erkenntnis des Wesens und der Gesetzmäßigkeiten des
historischen Prozesses, zu lösen. Mehr denn je tritt der
Marxismus als eine Lehre hervor, die als einzige imstande ist,
die realen Wege der Erkenntnis der Wahrheit und der
Umgestaltung der Welt auf der Grundlage der Prinzipien des
wahren Humanismus und der Gerechtigkeit zu weisen.
Der Marxismus-Leninismus ist die stärkste Waffe der
Kommunisten im Kampf gegen alle Formen und Arten der
bürgerlichen Ideologie, ihrer diversen Spekulationen auf
Schwierigkeiten und Widersprüche im Prozeß der Erkenntnis der
Welt, im Kampf für die Gewinnung der Intelligenz und der
Jugend für die Arbeiterklasse, für deren Einbeziehung in die
entschlossenen Aktionen gegen die Monopole, gegen die Kräfte
der Reaktion.
Anmerkungen
1) Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 13, S.8
2) Karl Marx, „Grundrisse der Kritik der politischen
Ökonomie", Dietz Verlag, Berlin 1953, S. 189.
3) Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 13, S. 638.
4) Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 25, S. 33.
5) C. Levi-Strauss, Anthropologie structurale, Paris 1958, p.
364.
6) C. Levi-Strauss, Tristes tropiques, Paris 1955, p. 44.
7) Temps modernes, Novembre 1966, p. 823.
8) Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 23, S. 16.9)
C. Levi-Strauss, Anthropologie structurale, p. 392.
10) Karl Marx, Grundrisse zur Kritik der politischen Ökonomie,
S. 366.
11) Anthropologie structurale, S. 134.
12) Ebenda, S. 31.
13) Karl Marx, „Grundrisse zur Kritik der politischen
Ökonomie, S. 366.
14) „L"Are", Nr. 30, 1966.
15) Le structuralisme, Paris 1968, S. 114.
16) Ebenda, S. 121.
17) Entretiens de Cerisy. Sur les notions de genese et de
structure, Paris 1965, S. 338.
18) Ebenda, S. 18.
19) Entretiens de Cerisy, S. 42, 54.
Editorische Hinweise
Aus: Probleme des Friedens und des Sozialismus, Heft 5
und 6, Berlin/Prag 1971
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