Über den Strukturalismus
Zu einem Aspekt des ideologischen Lebens in Frankreich

von Lucien Sève

11-2012

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In den letzten Jahren war das ideologische Leben Frankreichs von einer außerordentlichen Aufmerksamkeit für eine ganze Reihe von Arbeiten und theoretischen Problemen des modernen Strukturalismus gekennzeichnet. Um die Arbeiten des Anthropologen C. Levi-Straun und die mit ihnen verbundenen linguistischen Konzeptionen, die Theorien des Psychoanalytikers/. Lacan, des Historikers der menschlichen Kultur M. Foucauld sowie die Arbeiten anderer Forscher, zu denen auch häufig der kommunistische Philosoph Althusser gezählt wird, entwickelten sich in den 60er Jahren allmählich — von breitem Interesse getragen — Streitgespräche und Diskussionen, erschienen zahlreiche Publikationen. Diese Entwicklung erreichte in den Jahren 1965-1967 ihren Höhepunkt.

Man muß sagen, daß eine solche Konzentration der Aufmerksamkeit auf eine philosophische Schule für die neueste Geschichte Frankreichs keineswegs ein Einzelfall ist: Typische Beispiele dafür sind die weite Verbreitung des Bergsonismus in den Jahren 1900-1920 oder die gewaltige Popularität des Existentialismus Sartres in den Jahren 1945 — 1960. Aber selbst bei oberflächlicher Betrachtung läßt sich erkennen, daß der Strukturalismus im Vergleich zu diesen philosophischen Strömungen eine Reihe neuer Merkmale aufweist, in denen tiefgreifende Veränderungen im gegenwärtigen ideologischen Leben des Landes zum Ausdruck kommen.

Charakteristisch für den Strukturalismus ist nicht so sehr die Verkündung einer „neuen Philosophie" als vielmehr das Bestreben, die bestehenden philosophischen Konzeptionen im Lichte der von den Wissenschaften über den Menschen gesammelten Kenntnisse, die als unbestreitbar und unwiderlegbar dargeboten werden, als unhaltbar nachzuweisen. Anstelle eines einzigen „großen Philosophen", eines „Beherrschers der Geister" bietet der Strukturalismus eine ganze Galerie von Denkern und Verkündern neuer Ideen an; man kann ihn also keineswegs als eine einheitliche und geschlossene philosophische Strömung betrachten, da er in den verschiedensten Formen auftritt, die zuweilen fragmentarisch und sogar widersprüchlich sind. Zweideutig ist auch sein Verhältnis zum Marxismus, dem einerseits die Rolle eines „nahen Verwandten" oder zumindest eines „Ahnherrn" zugewiesen wird und der andererseits immer wieder als ein „toter Ast" am Stammbaum des Strukturalismus abgelehnt wird. Wir vermerken schließlich, daß die Periode der stürmischen Blüte des Strukturalismus kurz war: Sie begann mit der scharfen Polemik gegen Sartre in dem Buch „Das Urdenken" von Levi-Strauss (1962), erlebte 1966 den größten Aufschwung mit dem Erscheinen der Arbeiten „Worte und Dinge" von Foucauld und der „Skizzen" von Lacan (die Arbeiten Althussers und seiner Anhänger über Marx und das „Kapital" wurden Ende 1965 veröffentlicht) und wurde ganz schnell durch die Ereignisse vom Mai/Juni 1968 gleichsam fortgewischt.

Es ergibt sich natürlich die Frage: Weshalb wurden die Ideen des Strukturalismus, die zuvor einen sehr unbedeutenden Platz im geistigen Leben Frankreichs einnahmen, gerade um die Mitte der 60er Jahre plötzlich so einflußreich? Denn auch, nachdem diese Ideen die Aufmerksamkeit verschiedener Kreise der wissenschaftlichen Intelligenz erregt hatten, schien niemand auch nur zu vermuten, daß sie nahezu eine „Revolution" in der Erkenntnis auslösen könnten. Und es bleibt eine Tatsache, daß alle fundamentalen Forschungen, die dem modernen Strukturalismus zugrunde liegen, in die 30er Jahre fallen und in ihrer Mehrheit in der Periode vor dem ersten Weltkrieg wurzeln. Von diesen seien auf dem Gebiete der Linguistik die Arbeiten von F. de Saussure und später von N. Trubetzkoj, R. Jakobson und den Vertretern des Prager Zirkels genannt; in der Psychologie die Arbeiten der Theoretiker der Gestaltpsychologie, die in der Periode zwischen den beiden Weltkriegen die heutigen Ansprüche des Strukturalismus weitgehend vorwegnahmen. Unter einem etwas anderen Aspekt kann man auch die Arbeiten von S. Freud und, auf dem Gebiet der Philosophie, von E. Husserl und die später erschienen Werke G. Bache-lards zu philosophischen Fragen der Wissenschaft nennen.

Das alles erfordert von den Marxisten eine gründliche Analyse der Ursachen und Bedingungen für die Ausbreitung des Strukturalismus, um so mehr, als viele Anzeichen in den allerletzten Jahren - nach kurzfristiger Stille - auf eine Wiedergeburt seiner Ideen in neuen Formen und zum Teil in Verbindung mit der Entwicklung neuer Wissensgebiete deuten.

Veränderungen in der Ideologie

Warum also hat der Strukturalismus in Frankreich erst Mitte der 60er Jahre Verbreitung gefunden? Als eine der wichtigsten Ursachen, wenn nicht als die wichtigste, muß unserer Meinung nach die Tatsache gelten, daß Frankreichs ideologisches Leben bis 1960 offiziell von den traditionellen philosophischen Systemen kontemplativen Charakters beherrscht wurde. Das zeigte sich in der mehr als anderthalb Jahrhunderte währenden Herrschaft des akademischen Spiritualismus und Carte-sianismus mit ihrer Tendenz zum Subjektivismus als abstrakter Form des bürgerlichen Bewußtseins. Das Vorherrschen dieser Systeme erklärt sich keineswegs aus ihrer wissenschaftlichen Begründung, sondern weitgehend daraus, daß die aktuellsten Fragen der Gegenwart von ihnen in eine wissenschaftliche Terminologie gehüllt und dem lesenden Publikum in mehr oder minder „rationeller" Form dargeboten wurden. Lange Zeit gelang es dem philosophischen Subjektivismus, die Errungenschaften verschiedener Wissenschaften vom Menschen, die zudem selbst keine festen Grundlagen hatten, vor breiten Kreisen der Intelligenz so oder anders zu verbergen. So drängte beispielsweise H. Bergson seinen Lesern subjektivistische Ideen der Psychophysiologie und Biologie auf, um diese Wissenschaften in den Dienst des evolutionistischen Spiritualismus zu stellen. Ebenso verfuhr/-/". Sartre, wenn auch unter anderen Bedingungen. Er nutzte Daten der Verhaltenspsychologie (siehe seine „Skizzen zur phänomenologischen Theorie der Emotionen") oder der Psychoanalyse (vgl. „Baudelaire") oder gar Leitsätze des historischen Materialismus (z.B. „Kritik der dialektischen Vernunft") und suchte sie „umgestülpt" als Äußerung der „freien Wahl" des Individuums darzustellen, auf die letztlich alles hinauslaufen müsse. Diese und ähnliche Strömungen des philosophischen Subjektivismus erfüllten trotz Unterschiede und bestimmter Widersprüche zwischen ihnen insgesamt ein und dieselbe Funktion der bürgerlichen Ideologie: Die letzte „kopernika-nische Umwälzung", die unweigerlich das Ende der gesamten idealistischen Philosophie verkünden mußte, soweit wie möglich hinauszuschieben.

Es ist gesetzmäßig, daß die Ideen des Strukturalismus im ideologischen Leben Frankreichs erst dann in den Vordergrund rücken konnten, als der Subjektivismus, diese letzte Abzweigung der großen idealistischen Systeme der Vergangenheit, zum erstenmal seit Bestehen der bürgerlichen Philosophie nicht mehr imstande war, seine Positionen zu verteidigen. Damit wurde praktisch der Leitsatz Friedrich Engels' vom unvermeidlichen Zusammenbruch aller spekulativen Systeme der Philosophie bestätigt. Es war kein Zufall, daß die Ideen von Levi-Strauss gerade dann Aufmerksamkeit erregten, als der verzweifelte Versuch Sartres, das subjektiv-idealistische Prinzip vom Primat des individuellen Bewußtseins zu retten, offensichtliches Fiasko erlitt. Diesen Versuch unternahm er in der Arbeit „Kritik der dialektischen Vernunft", wobei er gleichzeitig — um angeblicher Objektivität willen - den historischen Materialismus anerkannte. (Seitdem versucht Sartre, sein theoretisches Scheitern durch den Übergang auf die Seite prinzipienloser kleinbürgerlicher linksradikaler Gruppen zu tarnen.) Und schließlich ertönte ein „drittes Klingelzeichen", welches das Hervortreten des Strukturalismus ankündigte: Levi-Strauss gab im Schlußkapitel seines Buches „Das Urdenken" im Namen der Wissenschaften vom Menschen der gesamten subjektivistischen Ideologie in Gestalt ihres letzten namhaften Vertreters, des Sartreschen Existentialismus, den Abschied.

Das geschah, als sich in verschiedenen Lebensbereichen der französischen Nation immer deutlicher die Ergebnisse der unmittelbaren Herrschaft der Monopole im Staatsorganismus bemerkbar machten. Das Wachstum des staatsmonopolistischen Kapitalismus bedeutet einen raschen Niedergang der traditionellen Mittelschichten und der alten Gruppen der Bourgeoisie, ihrer politischen Institutionen, ihrer „klassischen" Ideologie, deren wichtigster Wortführer in Frankreich lange Zeit die akademische Philosophie war. Von nun an wurde der utopische Charakter des „dritten Weges" bei der Lösung der „französischen Probleme" - auf halbem Wege zwischen den Monopolen und der Arbeiterklasse — ganz offenkundig. Im Zusammenhang damit offenbarte sich erst recht die Unhaltbarkeit der spekulativen Philosophie im allgemeinen wie auch der im Existentialismus Sartres verkörperten typischen Philosophie des „dritten Weges" im besonderen. Daraus erklärt sich auch das beträchtlich gewachsene Interesse für den Marxismus, dessen Verbreitung das Heranreifen günstiger ideologischer Bedingungen für die großen Klassenzusammenstöße im Mai/Juni 1968 gefördert hat.

Die Anhänger des Strukturalismus waren bestrebt, seine Ideen in populären Veröffentlichungen einem breiten Publikum — ungeachtet der antiphilosophischen Ausrichtung der Arbeiten seiner Hauptvertreter — gerade als Bestandteile einer neuen Philosophie darzulegen, die dazu berufen ist, den Platz der subjektivistischen philosophischen Systeme und vor allem des Existentialismus einzunehmen. Dazu trug auch das Bestreben des Strukturalismus bei, die Ergebnisse verschiedener Wissenschaften — der Ethnologie, der Linguistik, der Psychologie usw. — zu verallgemeinern. Ursprünglich war man sogar der Auffassung, der Strukturalismus habe sich dem Marxismus angeschlossen, wofür auch die Arbeiten Althussers zu sprechen schienen: Die Verkündung des Endes der Philosophie (gemeint sind die alten idealistischen Systeme) im Namen der Wissenschaften vom Menschen und die radikale Kritik an der subjektivistischen Ideologie des Humanismus anhand einer Analyse der objektiven Bedingungen eines jeden „menschlichen Fakts" sind nämlich stets dem Wesen nach marxistische Prinzipien gewesen — und nur Revisionisten vom Schlage R. Garaudys vermögen das nicht zu begreifen.

Somit faßten breite Kreise der Intelligenz Mitte der 60er Jahre den Strukturalismus als eine neue und besondere Form des Anschlusses an den Marxismus unter maßgeblicher Leitung bekannter Wissenschaftler und Hochschuldozenten auf. Eine spezifische ideologische Konjunktur führte dahin, daß fortschrittliche Geister etwas dem Marxismus von Grund auf Entgegengesetztes für die neueste Entwicklung des Marxismus zu halten begannen. Und dieses Etwas, der Strukturalismus, will die herrschende Ideologie werden, wobei er gleichzeitig das Ende der Ideologie überhaupt verkündet. Unter den Bedingungen einer Monopolisierung der Verlagstätigkeit und der Ideenverbreitung leitete das die populärste ideologische Mode ein, die Frankreich jemals gekannt hat.

Ist die strukturalistische Methode marxistisch?

Das Wesen der Methode des Strukturalismus legt Levi-Strauss wie folgt dar: Erstens muß man einzelne Fakten sammeln und analysieren und eine möglichst vollständige Liste derselben aufstellen; zweitens muß man die Wechselbeziehungen zwischen den Fakten ermitteln, sie in Gruppen zusammenfassen und die inneren korrelativen Beziehungen klären; drittens muß man alles zu einem einheitlichen Ganzen synthetisieren, ein System entsprechender Elemente aufbauen und damit das einheitliche, ganzheitliche Forschungsobjekt schaffen. (C. Levi-Strauss, Le totemisme aujourd'.hui, Paris 1965, p. 18—23.) Damit wird der zentrale Begriff der Methode definiert, die der gesamten Richtung den Namen gegeben hat — der Begriff der Struktur als eines bestimmten Systems, das durch einen gesetzmäßigen Zusammenhang gesteuert wird.

Im weiten Sinne des Wortes bedeutet der Begriff „Struktur" ein System stabiler innerer Beziehungen, die wesentliche Merkmale des Gegenstands bestimmen und ein einheitliches Ganzes bilden, das sich nicht auf die bloße Summe seiner Elemente zurückführen läßt, ein System, das diese Elemente lenkt, ob es sich nun um ihre Exi-

stenzweise oder ihre Entwicklungsgesetze handelt. Dieser Begriff der Struktur ist für den Marxismus nicht neu. Und obwohl sich der Strukturalismus grundlegend vom Marxismus unterscheidet, tritt dieser Unterschied auf dem gegebenen, dem primären Niveau, d.h. im Begriff der Struktur selbst, noch nicht in Erscheinung. Im Gegenteil: Man sollte betonen, daß das moderne Denken diesen Begriff von der Hegeischen und noch mehr von der marxistischen Dialektik übernommen hat. Man kann mit gutem Grund behaupten, daß der Begriff der Struktur erstmalig von den Begründern des wissenschaftlichen Kommunismus um die Mitte des 19. Jahrhunderts auf eine solche Erscheinung des menschlichen Seins wissenschaftlich angewandt wurde wie die Gesellschaft — nicht aber auf die Sprache, auf den Bereich des Unterbewußten oder das System der Verwandtschaft, wie das erst Anfang des 20. Jahrhunderts geschah.

Wir wollen daran erinnern, daß Marx bereits in seinem bekannten Vorwort „Zur Kritik der Politischen Ökonomie" im Jahre 1859 schrieb: „In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen."(1) In Vertiefung und Weiterentwicklung des Begriffes der Gesellschaft als eines organischen Ganzen stellt Marx in den „Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie" (1857-59) fest: „Wenn im vollendeten bürgerlichen System jedes ökonomische Verhältnis das andre in der bürgerlich-ökonomischen Form voraussetzt und so jedes Gesetzte zugleich Voraussetzung ist, so ist das mit jedem organischen System der Fall. Dies organische System selbst als Totalität besteht eben (darin), alle Elemente der Gesellschaft sich unterzuordnen, oder die ihm noch fehlenden Organe aus ihr Heraus zu schaffen. Es wird so historisch zur Totalität. "(2) Das ist in der Tat die vollständigste und tiefste Definition des Strukturbegriffs, und der moderne Strukturalismus dürfte ihm wohl kaum etwas Wesentliches hinzugefügt haben, abgesehen von den Versuchen seiner mathematischen Formalisierung.

Vielleicht beginnt dann das Auseinandergehen zwischen dem Strukturalismus und dem Marxismus mit der Definition der Regeln für die Verwendung des Strukturbegriffes selbst? Der Strukturalismus stellt hier das, wie er meint, überaus wichtige Prinzip der methodologischen Priorität des synchronischen Herangehens vor dem diachronischen auf. Wie wir sehen werden, gibt es in dieser Frage keine wesentlichen Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Marxismus und dem Strukturalismus, wenn man dieses Prinzip richtig versteht. In der Tat, was bedeutet dieses Prinzip in seinem strengsten Sinne? Es läuft darauf hinaus, daß man bei einer richtigen Anwendung der Forschungsmethode das Studium der jeweiligen Struktur vom Standpunkt ihres Zustandes und Funktionierens im jeweiligen Moment (synchro-

nisches Herangehen) abgrenzen muß vom Studium der Veränderungen dieser Struktur in der Zeit (diachronisches Herangehen). Mit anderen Worten: Man darf die Konfiguration nicht mit der Transfiguration verwechseln. Und weiter: Wenn die tatsächliche Geschichte die Geschichte von Strukturen und nicht bloß ihrer einzelnen Elemente ist, so muß man nach diesem Prinzip zuerst den Zustand der Strukturen erkennen, um später deren Geschichte rekonstruiren zu können. So aufgefaßt, widerspricht die grundlegende strukturalistische Regel nicht im geringsten dem marxistischen Denken, und wir können uns erneut auf Marx berufen, der eine analoge Methode bei der Analyse ökonomischer Erscheinungen des Kapitalismus anwendet.

Die Tätigkeit von Marx war bekanntlich darauf gerichtet, die historische Unvermeidlichkeit der revolutionären Ablösung der kapitalistischen Gesellschaft durch den höheren, sozialistischen Typ der gesellschaftlichen Verhältnisse nachzuweisen. Die Notwendigkeit einer solchen Ablösung leitete er nicht von abstrakten Entwicklungsschemata ab, sondern er ging von einer sorgfältigen Analyse der inneren Strukturen und des nach außen hin stabilen Funktionierens des Systems der kapitalistischen Wirtschaft aus. Marx geht also von der Struktur zur Geschichte. Als er auf seine Methode der Analyse ökonomischer Kategorien einging, unterstrich er insbesondere: „Es wäre also untubar und falsch, die ökonomischen Kategorien in der Folge aufeinander folgen zu lassen, in der sie historisch die bestimmenden waren. Vielmehr ist ihre Reihenfolge bestimmt durch die Beziehung, die sie in der modernen bürgerlichen Gesellschaft aufeinander haben, und die genau das umgekehrte von dem ist, was als ihre naturgemäße erscheint oder der Reihe der historischen Entwicklung entspricht. Es handelt sich nicht um das Verhältnis, das die ökonomischen Verhältnisse in der Aufeinanderfolge verschiedener Gesellschaftsformen historisch einnehmen. Noch weniger um ihre Reihenfolge ,in der Idee' (Proudhonj (einer verschwimmelten Vorstellung der historischen Bewegung). Sondern um ihre Gliederung innerhalb der modernen bürgerlichen Gesellschaft. "(3)

Unbestreitbar besteht die Aufgabe der Wirtschaftswissenschaft darin, die Gesetze der sozialökonomischen Entwicklung zu ermitteln, aber das kann erst geschehen, wenn der innere Zusammenhang zwischen den verschiedenen Seiten des zu erforschenden Objekts aufgedeckt ist. Erst dann kann die tatsächliche Bewegung in gebührender Weise gezeigt werden. Gerade so war der Gesamtplan des „Kapitals" gedacht: Im ersten Band werden die verschiedenen Seiten des kapitalistischen Produktionsprozesses als solchen aufgedeckt; der zweite Band ist dem Zirkulationsprozeß gewidmet, der gleichsam den Produktionsprozeß ergänzt; im dritten Band wurde es möglich, „die konkreten Formen aufzufinden und darzustellen, welche aus dem Bewegungs-prozeß des Kapitals, als Ganzes betrachtet, hervorwachsen".(4) Wie Marx wiederholt sagte, sollte das „Kapital", falls es vollendet worden wäre, mit einer Analyse des Klassenkampfes schließen, d.h. jener gesellschaftlichen Bewegung, die berufen ist, die Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise zu lösen. Das Marxsche Denken ging also, mit anderen Worten, von der „Mikroanatomie" der ökonomischen Elementarformen zur „Diachronie" und später zum gesamten historischen Prozeß über.

Die Fruchtbarkeit der Strukturmethode wurde folglich in der marxistischen Analyse ökonomischer Erscheinungen der kapitalistischen Gesellschaft demonstriert, lange bevor sie in der Linguistik, Ethnologie und der Psychoanalyse angewandt wurde.

Grundlegende Divergenz mit dem Marxismus

Das alles könnte die Vorstellung schaffen, als gäbe es zwischen der strukturali-stischen und der dialektischen Methode keinen wesentlichen Unterschied. Gerade so könnte man beispielsweise die Behauptung Levi-Strauss' auffassen, er habe den zentralen Begriff der Struktur „neben anderen bei Marx und Engels entlehnt". Und weiter bemerkt er, nun schon von einer höheren Warte aus: „Ich bin bemüht, alle Errungenschaften der Ethnologie der letzten 50 Jahre in die marxistische Richtung zu reintegrieren. "(5) Im Zusammenhang damit macht er eine bemerkenswerte Erklärung in den autobiographischen Notizen, die im Kapitel VI seiner Arbeit „Traurige Tropen" angeführt werden: „Die Lektüre von Marx versetzte mich in Begeisterung, um so mehr als ich erstmalig über sein großes Denken Anschluß an die philosophische Richtung bekam, die von Kant zu Hegel fuhrt: Mir wurde eine ganze Welt erschlossen. Seitdem hat mich dieses Gefühl nie verlassen, und ich habe selten versucht, mich in irgendeinem Problem auf dem Gebiet der Soziologie oder Ethnologie zurechtzufinden, ohne zuvor meine Gedanken durch das Lesen einiger Seiten aus dem Achtzehnten Brumaire des ,Louis Bonaparte' oder aus der .Kritik der Politischen Ökonomie'angeregt zu haben. "(6)

Aber wenn das alles stimmt, dann wird nicht verständlich, warum die Struktura-listen sich nicht einfach für Marxisten halten und weshalb sie die Methode, die nach ihrem Eingeständnis Marx entlehnt worden ist, mit einer solchen Beharrlichkeit strukturalistische und nicht dialektische Methode nennen. Diese Frage erinnert sehr an eine andere, die Sartre in eben den Jahren gestellt wurde, als er sein „tiefes Einverständnis mit der marxistischen Philosophie erklärte" — die Frage nämlich, wozu er dann den Existentialismus vertritt? Die Antwort auf diese Frage besteht, wie die theoretische und politische Entwicklung Sartres gezeigt hat, in folgendem: Die Verteidigung der existentialistischen Position bedeutet gleichzeitig auch den Verzicht auf das Wesen des Marxismus. Das gleiche kann man auch vom Strukturalismus sagen, bei all seinen Unterschieden vom Existentialismus: Seine entschiedene Ablehnung einer Gleichsetzung mit dem dialektischen Materialismus ist nicht bloß eine Frage der Terminologie oder des Prestiges einer Theorie, sie bringt eine grundlegende Divergenz mit dem Marxismus zum Ausdruck. Diese zeigt sich in folgenden Hauptmomenten:

1. Der Strukturalismus behauptet nicht nur und nicht bloß, die methodologische Priorität der synchronischen Methode vor der diachronischen, sondern er grenzt sie auch so radikal voneinander ab, so daß deren innere Einheit völlig ausgeschlossen wird. Freilich kommt er nicht zu einer rein statischen Auffassung des Gegenstandes, und er lehnt das Problem der Diachronie auch nicht ab. Doch in der sogenannten „Strukturtheorie der Diachronie" geht es faktisch um den Verzicht auf eine adäquate Lösung historischer Probleme.

Der Strukturalismus erkennt die Tatsache der einfachen Entfaltung verschiedener Strukturen in der Zeit an, betrachtet das aber nicht als einen in die Zukunft gerichteten Prozeß, sondern sieht in ihr, umgekehrt, eine Bewegung zur Vollendung und folglich zur Stagnation. So schreibt der Linguist A. Greimas, daß „die Geschichte, statt Ausgangspunkt zu sein, wie das ständig gesagt wird, umgekehrt, die Vollendung darstellt"; sie spiele „eher die Rolle der Bremse als die eines Motors"; daher enthalte auch, von seinem Standpunkt aus, „die Volksweisheit, die behauptet: Je mehr man etwas verändert, desto unveränderlicher wird es', ein gutes Stück Wahrheit".(7) Hier fehlt das Wichtigste: Die Geschichte als Prozeß der ununterbrochenen und unbegrenzten Entwicklung der menschlichen Gesellschaft, d.h. gerade das, was wirkliche Geschichte ist.

In den Fällen, da der Strukturalismus bestimmte Veränderungen der Strukturen anerkennt, faßt er sie nur als eine „Explosion der Struktur" infolge ihres Zusammenstoßes mit äußeren Bedingungen auf. Damit ignoriert der Strukturalismus die inneren Gesetze der historischen Entwicklung, und die gesamte Geschichte wird „offen" in dem Sinne, daß sie als eine zufällige Kette untereinander nicht verbundener Epochen und Perioden hervortritt. So betrachtet M. Foucauld in der Arbeit „Worte und Dinge" die verschiedenen Epochen in der Entwicklung des menschlichen Wissens als eine Serie epistemologischer Bilder, die eher an ein buntes Kaleidoskop erinnern als an einen realen Prozeß der vorwärtsschreitenden Entwicklung der Erkenntnis. Im Gegensatz zu der dialektischen Betrachtung der Struktur und der Geschichte in ihrer tiefen Einheit dreht sich der Strukturalismus, der diese Einheit ignoriert und in den Strukturen deren relative. Unveränderlichkeit besonders hervorhebt, im Teufelskreis von Strukturen ohne reale Geschichte und von Geschichte ohne reale Strukturen.

2. Der Marxismus gibt eine zutiefst rationale Auffassung der Einheit von Struktur und Geschichte, indem er die Triebkraft aller Prozesse aufdeckt: den dialektischen Widerspruch. Als Einheit von Gegensätzen schließt er sowohl die relative Unveränderlichkeit der Struktur als auch die Gesetzmäßigkeit aufeinanderfolgender Etappen der historischen Entwicklung ein; aber gleichzeitig deckt er in Form des Kampfes der Gegensätze die innere Dynamik der Struktur und die qualitativen Veränderungen auf, die deren reale Geschichte bestimmen.

Der Strukturalismus kennt keinen dialektischen Widerspruch. Und darin besteht eine der charakteristischsten Besonderheiten seiner Methode. Er erkennt nur eine sich gegenseitig ergänzende Gegenüberstellung von Fakten, Erscheinungen und Strukturen, d.h. nur die äußere Form oder einen blassen Abklatsch des dialektischen Widerspruchs, an. Die vom Strukturalismus betrachteten Beziehungen sind gewöhnlich Beziehungen einer ergänzenden Gegenüberstellung von Elementen dieses oder jenes Systems, z.B. des Systems der Verwandtschaft oder des Systems der Begriffe. Das sind keine inneren, dialektischen Widersprüche, und das Funktionieren der verschiedenen Elemente des Systems ist nicht mit der Dialektik, sondern mit dem Mechanismus der Erscheinungen verbunden.

Das Wichtigste an der wissenschaftlichen Analyse besteht darin, hinter der sichtbaren Unveränderlichkeit der Mechanismen verschiedener Erscheinungen die in der Tiefe verborgenen widersprüchlichen Prozesse aufzudecken, die sie hervorgebracht haben und im Verlauf der notwendigen Entwicklung neue Mechanismen schaffen. Der Marxismus bestreitet nicht im geringsten die Notwendigkeit einer Analyse konkreter Mechanismen sozialer Erscheinungen. Man braucht nur daran zu erinnern, wie Marx im „Kapital" den Mechanismus des Übergangs vom Zyklus W-G-W, d.h. von der Formel der einfachen Warenzirkulation, zum Zyklus G-W—G, zur allgemeinen Formel des Kapitals, untersucht, dessen Widersprüche wiederum den Mechanismus der Schaffung von Mehrwert und den Prozeß des Klassenkampfes begreifen helfen. Die Methode von Marx setzt keineswegs irgendeinen Verzicht auf die Berücksichtigung des Mechanismus der Erscheinungen voraus, aber sie deckt hinter der relativen Unveränderlichkeit des Mechanismus die lebendige Dialektik der Prozesse auf. Gerade die wissenschaftliche, die dialektische Methode ermöglichte den Nachweis, wie Marx schrieb, daß „die jetzige Gesellschaft kein fester Kristall, sondern ein umwandlungsfähiger und beständig im Prozeß der Umwandlung begriffener Organismus ist".(8) Man muß die Methode des Strukturalismus in dieser Hinsicht als antidialektisch einschätzen.

3. Warum sieht der Strukturalismus nicht die dialektischen Widersprüche, dieses Bindeglied zwischen der Geschichte und der Struktur? Weil er nämlich die Grundlage der Entwicklung aller gesellschaftlichen Erscheinungen, die Dialektik der Basis der menschlichen Gesellschaft, d.h. die Dialektik der gesellschaftlichen Produktion der materiellen Güter, ignoriert. Das ist das Wesen des Problems: Die wissenschaftliche Dialektik von Marx ist von seinem Materialismus nicht zu trennen, denn in der materiellen Praxis des Menschen selbst wurzelt letztendlich die Dialektik aller anderen Seiten des gesellschaftlichen Seins und Bewußtseins (läuft aber natürlich nicht darauf hinaus). Mögen die Teilverdienste der Strukturalisten noch so groß sein, ihren Anstrengungen kann kein Erfolg beschieden sein, wenn die bestimmende Grundlage aller sozialen Erscheinungen derart ignoriert wird.

Unhaltbar mutet der Anspruch des Strukturalismus an, eine universale Methode der Erkenntnis aller Erscheinungen und Prozesse zu sein. Als Ausgangspunkt erscheint hier die Verabsolutierung der Sprache, der linguistischen Strukturen, die gegenüber allen anderen sozialen Faktoren als bestimmend angesehen werden.Levi-Strauss sagt: „Die Sprache ist eine vorwiegend kulturelle Erscheinung (die den Menschen vom Tier unterscheidet)." (9) Daraus folgt auch das Grundaxiom des Strukturalismus: Die Linguistik sei die führende Wissenschaft des gesamten großen Bereichs der Gesellschaftswissenschaft. Im Zusammenhang damit muß man die erstaunliche Inkonsequenz des Strukturalismus vermerken, der die Analyse der Gesamtheit der Elemente eines Systems in ihren Zusammenhängen fordert und zugleich aus dem System der sozialen Erscheinungen einen einzigen Faktor künstlich aussondert, eines der Elemente, dem die entscheidende Bedeutung beigemessen wird. Wenn Descartes seinerzeit unter anderem glauben konnte, daß bloß die Sprache den Menschen vom Tier unterscheidet, so ist gegenwärtig durch die Wissenschaft bewiesen, daß ein solcher Unterschied kraft eines Systems von Ursachen allmählich entstanden ist; eines der Elemente dieses Systems ist die Sprache, aber neben anderen, mindestens ebenso wichtigen Elementen, solchen wie die Herstellung von Arbeitsinstrumenten. Damit ist letztendlich auch die Entstehung der Sprache selbst in enger Verbindung mit der Entwicklung des menschlichen Bewußtseins bedingt.

Falsch ist auch die strukturalistische Auffassung von der Rolle der Linguistik als der „führenden Wissenschaft". Die mechanische Übertragung von Methoden und Begriffen einer Wissenschaft auf eine andere, ohne sorgfältiges Studium der real existierenden Unterschiede und ihres konkreten Inhalts, führt zur Ersetzung der wissenschaftlichen Analyse durch Metapher, wie das von dem marxistischen Linguisten G. Mounin mit Recht festgestellt wurde. Die Strukturalisten sind sogar der Ansicht, daß sie nach Ansammlung einer bestimmten Summe von Begriffen und Termini hinsichtlich irgendeiner Gruppe von Fakten des menschlichen Seins irgendeiner Gruppe von Fakten des menschlichen Seins irgendeinen „Code" entdecken, der zu den „Geheimnissen" der Erkenntnis führt. In Wirklichkeit erweist sich eine solche „epistemologische" Methode als formal und unfruchtbar. Die Mißachtung des historischen Materialismus bezahlt der Strukturalismus mit der Rückkehr zum unlösbaren Rätsel der Geschichte, in die Sackgasse des anthropologischen Idealismus und zur Willkür epistemologischer Rezepte.

Inhalt und allgemeine Bedeutung des modernen Strukturalismus zeichnen sich durch eine bestimmte Zwiespältigkeit aus.

Zweifellos bedeutet der Strukturalismus im Vergleich zu vielen vorangegangenen und modernen Strömungen des bürgerlichen philosophischen Denkens einen Schritt vorwärts. Er entstand und verbreitete sich unter den Bedingungen der Krise der bürgerlichen Weltanschauung, da die geistige Armut der traditionellen philosophischen Systeme und Lehren bei der Lösung wichtigster Fragen des Seins und der Erkenntnis offensichtlich wurde. Das gilt besonders für die Spielarten des philosophischen Subjektivismus, denen gegenüber Ideen und Methode des Strukturalismus gewisse Vorzüge aufweisen. Der Strukturalismus, der die subjektivistischen Konzeptionen des Existentialismus und Personalismus ablehnt, stützt sich auf die Ergebnisse verschiedener Wissenschaften über den Menschen, auf die Analyse objektiver — ökonomischer, historischer, kultureller, linguistischer und anderer — Strukturen und zieht umfangreiches konkretes Material zur Begründung seiner Schlußfolgerung heran.

Wiedergeburt der Metaphysik

Aber zugleich liefert der Strukturalismus keine wissenschaftliche Auffassung von den historischen Prozessen: Er negiert faktisch den Fortschritt in der Entwicklung der Menschheit. Unter dem Einfluß seiner Ideen erleben in den Gesellschaftswissenschaften mystische Geschichtsvorstellungen ihre Wiedergeburt, wird der wirkliche Sinn der Geschichte entwertet, das Bewußtsein des Menschen von den realen Strukturen losgelöst und mit einem autonomen Charakter versehen. Der Strukturalismus sieht im historischen Prozeß nicht die dialektischen Widersprüche, ist daher nicht imstande, die wahren Ursachen der gesellschaftlichen Erscheinungen festzustellen und zu erklären, was das Entstehen der verschiedenen sozialen Strukturen bedingt, welche Faktoren deren Entwicklung und Veränderung bestimmen. Nicht zufällig muli er a priori Gesetze des menschlichen Geistes postulieren und ihnen eine universelle Bedeutung beimessen. Die Strukturen selbst sind dabei von diesen Gesetzen abgeleitete Formen, was uns zu den Vorstellungen Descartes'über die angeborenen Ideen zurückführt (Siehe z.B. Chomsky, „La linguistique cartesienne".). Da aber der Strukturalismus darauf Anspruch erhebt, eine positive wissenschaftliche Doktrin zu sein, möchte er seinen Postulaten und Gesetzen natürlich keine theologische Auslegung geben. Deshalb betrachtet er die „Gesetze des menschlichen Geistes" nicht als „von oben" hineingetragen, sondern als erbliche hypothetische Strukturen des menschlichen Gehirns, die angeboren sind und einen ewigen und unveränderlichen Charakter tragen. So vereinen sich im Strukturalismus Idealismus und Metaphysik mit den beschränkten und veralteten Prinzipien des „biologischen Materialismus" des 19. Jahrhunderts.

Der Marxismus befreite das menschliche Denken von der. abstrakten metaphysischen Vorstellungen über eine ewige und universelle menschliche Natur. Er löste das traditionelle philosophische Problem des Wesens des Menschen wissenschaftlich, indem er dessen tiefen sozialen Sinn aufdeckte. In der berühmten sechsten These über Feuerbach sagt Marx:,,... das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum inwohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse. "(10) Darin liegt der Schlüssel des Problems. Gewiß darf man die natürlichen (biologischen, geographischen, klimatischen) Bedingungen, die in der Entwicklung des Menschen die Ausgangsbedingungen sind, nicht ignorieren. Aber das Wichtigste ist, daß sich im realen Leben der Menschen eine immer tiefere Umgestaltung der natürlichen Faktoren in soziale vollzieht, daß die Menschheit ihre Existenz immer mehr auf die sozialhistorischen Voraussetzungen gründet. Die sozialen Faktoren erlangen im Leben und Wirken des Menschen entscheidende Bedeutung, und es ist nur gesetzmäßig, daß gerade sie in letzter Instanz sein Wesen bestimmen, aber nicht als ein abstraktes, sondern als ein konkret-historisches Individuum.

Die Auffassung vom Wesen des Menschen als Gesamtheit der gesellschaftlichen Verhältnisse muß allen Gesellschaftswissenschaften zugrunde liegen, wollen sie fruchtbare Ergebnisse erzielen. Der Strukturalismus jedoch ignoriert im Grunde die gesellschaftliche Natur des Menschen und führt die Gesellschaftswissenschaften in abstrakte und metaphysische Spekulationen.

Solche Positionen gestatteten es dem Strukturalismus nicht, den wirklichen „Sinn der Geschichte" und schon gar nicht die Gesetze des Klassenkampfes zu begreifen, die überhaupt außerhalb des Blickfeldes seiner Verfechter bleiben. Der Strukturalismus erwies sich außerstande, hinter dem äußeren Schein der sozialen Prozesse deren inneres Wesen aufzudecken. Die realen gesellschaftlichen Erscheinungen können sich, wie der Marxismus gezeigt hat, von den ideologischen Formen unterscheiden, in denen sie spontan im Bewußtsein des Individuums auftreten. So können die Verhältnisse zwischen den Menschen im Produktions- und Zirkulations-prozeß fälschlicherweise für Beziehungen zwischen Sachen gehalten werden. Doch die mystifizierten Formen des Bewußtseins haben stets eine bestimmte objektive Grundlage, und zwar die gesellschaftlichen Verhältnisse, die der praktischen Erfahrung der Menschen durchaus zugänglich sind. Es besteht daher die prinzipielle Möglichkeit, vom falschen zum wirklichen Bewußtsein überzugehen, und gerade darin besteht das Ziel der wissenschaftlichen Erkenntnis.

Der Strukturalismus geht jedoch einen anderen Weg. Er ignoriert das reale Wesen des Menschen und die wirklichen Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung und zieht eine unüberwindliche Trennwand zwischen den autonomen, anonymen Sozialstrukturen und den Bewußtseinsformen, in denen sie ihren Ausdruck finden. „Wir sind so weit", schreibt Levi-Strauss, „daß wir die sozialen Strukturen als Objekte betrachten können, die vom Charakter ihrer Verkörperung im Bewußtsein der Menschen unabhängig sind..., als Objekte, die sich von den Bildern unterscheiden, die sie in den Vorstellungen des Menschen annehmen, so wie sich die physikalische Realität von unseren sinnlichen Vorstellungen über diese Realität und von den durch uns geschaffenen Hypothesen unterscheidet."(11)

Charakteristisch ist, daß Levi-Strauss hier Unterstützung bei Marx sucht, den er gleichzeitig widerlegen will. Er führt „die berühmte Marxsche Formel" an, die er wie folgt zitiert: „Die Menschen selbst machen ihre eigene Geschichte, aber sie wissen nicht, daß sie das tun. " (12) Dabei gibt Levi-Strauss keinen Hinweis auf die Quelle. Und dies nicht ohne Grund! Denn das genannte Zitat ist einfach fabriziert worden, wie das bereits von Ch. Parain in „La Pensee" (Nr. 135, Oktober 1967) festgestellt wurde. Marx hat etwas Derartiges nie geschrieben, und er konnte es auch nie schreiben, weil er einen ganz anderen Standpunkt hatte.

Und das schrieb Marx in Wirklichkeit aus diesem Anlaß, beispielsweise in der Arbeit „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte": „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen. " (Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 8, S. 115.) In dieser und in vielen anderen ähnlichen Äußerungen behauptet Marx also keineswegs, daß die Menschen bei der Schöpfung ihrer Geschichte dazu verurteilt sind, ihre eigenen Handlungen nicht begreifen zu können. Marx sagt, daß die Menschen bei der Schöpfung der Geschichte von den objektiv existierenden Bedingungen ausgehen, die sie nicht willkürlich, durch einfache Anstrengung des Willens, verändern können. Natürlich kommt das Bewußtwerden dieser Bedingungen nicht plötzlich, auf einmal, sondern es wird in einem langen und schweren Kampf der Werktätigen für ihre Befreiung erreicht. Die gewaltige Rolle der Kommunistischen Partei besteht gerade darin, daß sie dem Proletariat und dessen Verbündeten hilft, die objektiv existierenden Bedingungen ihres Lebens und Wirkens zu erkennen, die realen Perspektiven des siegreichen Kampfes für eine bessere Zukunft, für die Vernichtung der alten sozialen Ausbeuterverhältnisse zu begreifen. Von der Bedeutung gerade eines solchen bewußten Herangehens an die realen Bedingungen des Kampfes der Werktätigen schreibt Marx in der Arbeit „Grundrisse zur Kritik der Politischen Ökonomie": „Die Erkennung der Produkte als seiner eignen und die Beurteilung der Trennung von den Bedingungen seiner Verwirklichung als einer ungehörigen, zwangsweisen - ist ein enormes Bewußtsein, selbst das Produkt der auf dem Kapital ruhenden Produktionsweise...".(13)

Das alles hat gar nichts gemein mit der „berühmten Marxschen Formel", die Levi-Strauss erfunden hat, um die Ideen des Marxismus zu verzerren und die eigenen unwissenschaftlichen Vorstellungen von der Menschheitsgeschichte zu rechtfertigen. Wir wollen nebenbei bemerken, daß derartige Entstellungen der Gedanken, Formulierungen und Zitate der Klassiker des Marxismus-Leninismus eine Art „Mode" bei den bürgerlichen Ideologen geworden sind; sie versuchen, mit diesen Methoden die Ideen des Marxismus den eigenen Zielen anzupassen und in den Augen unerfahrener Leser in ein falsches Licht zu rücken.

Kritik der „Kritiker"

Der zwiespältige Charakter des Strukturalismus offenbar sich auch, wenn man untersucht, wie die verschiedenen philosophischen Strömungen auf sein stürmisches Eindringen in das ideologische Leben Frankreichs reagiert haben. Bekanntlich haben französische Marxisten eine objektive und allseitige Einschätzung des Platzes und der Rolle des Strukturalismus gegeben, was selbstverständlich Dispute und Diskussionen zwischen ihnen zu einer Reihe wichtiger, von den heutigen Strukturalisten aufgeworfener Probleme nicht ausschließt. Einen starken Widerhall — und nicht nur

in Frankreich — fanden die Materialien eines Sonderheftes der Zeitschrift „La Pen-see" (Nr. 135), das seitdem in vielen Ländern neu aufgelegt und übersetzt wurde. Dieses Heft enthält 12 Artikel, die der Analyse des Verhältnisses von Marxismus und Strukturalismus gewidmet sind. Nur von den Positionen des dialektischen und historischen Materialismus aus ist eine objektiv richtige Betrachtung aller positiven und negativen Seiten möglich, die einer so komplizierten und recht heterogenen Bewegung des philosophischen und wissenschaftlichen Denkens, wie es der Strukturalismus ist, eigen sind.

Charakteristisch war die Reaktion seitens des Sartreschen Existentialismus und des christlichen Personalismus, jener philosophischen Strömungen, deren „Rücktritt" der Strukturalismus verkündet hatte. Die Vertreter dieser Strömungen machen - bei allen Unterschieden zwischen ihnen - dem Strukturalismus vor allem dessen antihumanistische Orientierung zum Vorwurf, die Tatsache, daß er den Menschen „sowohl der Geschichte als auch des Sinns" beraubt. Gleichzeitig beschuldigen sie den Strukturalismus, er unterstütze im Namen der Wissenschaft die Ideologie des Technokratismus, die den Menschen herabsetzt, seine moralischen, kulturellen und religiösen Werte zerstört.

P. Ricoeur und /. M. Domenach, die den Strukturalismus von den Positionen des christlichen Personalismus kritisieren (siehe „Esprit", November 1963; Mai 1967), stellen ihm eine abstrakt-religiöse Konzeption vom Menschen entgegen, der die Anerkennung eines „ewigen, göttlichen " Wesens des Menschen zugrunde liegt, was die Dogmen und moralischen Prinzipien der christlichen Religion rechtfertigen soll. Deshalb kann man, wenn man auch die Richtigkeit ihrer Anschuldigungen an den Strukturalismus, „den Menschen vergessen zu haben" u.a., anerkennt, in keiner Weise ihre eigenen Ansichten akzeptieren. Ihre Konzeption des Menschen und des Humanismus beruht auf den unwissenschaftlichen Vorstellungen von einer nicht existenten „göttlichen " Natur des Menschen.

Die dominierende Tendenz des Strukturalismus ist, vom Standpunkt Sartres aus, der „ Verzicht auf die Geschichte", womit auch die Negation der Rolle der menschlichen Praxis durch die Strukturalisten verbunden ist, die von Sartre beharrlich „Praxis" genannt wird (er verwendet, wie wir sehen werden, nicht zufällig eine von der marxistischen unterschiedene Terminologie). Sartre wendet sich gegen den Antihistorismus der Strukturalisten und bemerkt, sowohl im System der Sprache als auch in den sozialen Strukturen überhaupt gäbe es „Spuren der Einwirkung der Praxis". Für eine Analyse der Entstehung der Strukturen sei es daher notwendig, zum „Begriff der ,Praxis'als allumfassenden Prozeß zurückzukehren". Und dann folgt eine äußerst charakteristische Behauptung Sartres: „Es ist ganz offenkundig, daß man auf die Geschichte zielt und dabei den Marxismus zu treffen hofft. Es geht um die Schaffung einer neuen Ideologie, des letzten Hindernisses, das die Bourgeoisie noch gegen Marx errichten kann. "(14) Aber „völlig offenkundig" ist auch, daß Sartre bei der Kritik des Strukturalismus, der auf eine bestimmte Nähe zum Marxismus Anspruch erhebt, sich nicht auf die Thesen des Existentialismus stützt: Er tut das im Namen des Marxismus!

Überhaupt wollen heute in Worten alle .Marxisten' werden. Diese fast allgemeine Hinwendung zum Marxismus ist zum bemerkenswerten Symptom des gegenwärtigen ideologischen Lebens in Frankreich geworden. Diese Hinwendung bringt die tiefen sozialen Prozesse zum Ausdruck, die die Krise des geistigen Lebens, des bürgerlichen Bewußtseins verstärken. Gesetzmäßig ist daher das Interesse für die Ideen des Marxismus, der ständig wachsenden Einfluß auf die verschiedenen Bevölkerungsschichten nimmt. Aber der „Marxismus" Sartres ist kein echter Marxismus, er trägt unweigerlich den Stempel existentialistischer Ideen und Vorstellungen. Seine „Praxis" insbesondere ist nicht die gesellschaftlich-historische Tätigkeit der Menschen, nicht die Gesamtheit der gesellschaftlichen Verhältnisse, was die Praxis in marxistischer Auffassung ausmacht, sondern die ausschließlich subjektive Tätigkeit des Individuums, dessen „freies" Handeln auf der Grundlage der freien Wahl usw.

Das Rationale in diesen Ausführungen Sartres ist das Eingeständnis, daß der Mensch der Schöpfer seiner Geschichte ist. Aber diese These erhält im Existentialismus eine äußerst subjektivistische Auslegung — der gesamte historische Prozeß wird zur Verkörperung des Willens und des Bewußtseins des Subjekts. Recht in dieser Hinsicht hat der Strukturalismus, der das Primat der objektiven sozialen Strukturen gegenüber den subjektiven Zielen und Bestrebungen der Menschen anerkennt. Folglich kann man den Strukturalismus von den Positionen des Existentialismus wie auch den Positionen anderer subjektivistischer Systeme des „philosophischen Humanismus" nicht widerlegen. Der Streit zwischen Existentialismus und Strukturalismus wird - wenn man das so sagen kann — „strukturell unlösbar", denn jede dieser Doktrinen tritt widerlegend und gleichzeitig widerlegt in Erscheinung. Die eine wie die andere trägt den Stempel der Beschränktheit der bürgerlichen Ideen und Ansichten; daher die Zwiespältigkeit, die Halbheit ihrer gegenseitigen Kritik.

Statischer und genetischer Strukturalismus

Der zwiespältige Charakter des Strukturalismus zeigt sich auch recht deutlich im Zusammenstoß verschiedener Tendenzen seines eigenen Gehalts. Viele Vertreter des Strukturalismus bestreiten faktisch die historische Entwicklung der Strukturen selbst, gehen vom Primat des synchronischen Herangehens gegenüber dem diachronischen aus und vertreten damit (ungeachtet ihrer diversen Vorbehalte) statische Ansichten über soziale Erscheinungen. Von dieser Warte aus sind die kritischen Bemerkungen an die Adresse des statischen Strukturalismus seitens des bekannten Psychologen /. Piaget interessant, des anerkannten Führers des Strukturalismus, der sich genetisch nennt.

Piaget wirft den Vertretern des statischen Strukturalismus vor allem die Trennung zwischen Genesis und Struktur vor. Die Methode von Levi-Strauss, so stellt er fest, geht ganz und gar von einer statischen Vorstellung von den Strukturen aus

und läßt den Prozeß ihrer Entstehung außerhalb des Blickfeldes. Noch härter ist sein Vorwurf an Foucauld: „Er hat vom statischen Strukturalismus alle negativen Seiten übernommen: Entwertung der Geschichte und der Genesis, Mißachtung der Funktionen und in extremem Grade Negation des Subjekts selbst... "(15) Piaget vertritt beharrlich den Gedanken, daß „zwischen Genesis und Struktur eine notwendige gegenseitige Verbindung vorhanden ist: Die Genesis ist keineswegs der einfache Übergang von einer Struktur zur anderen - es ist ein Übergang, der formende Bedeutung hat und zu immer komplizierteren Gebilden führt; andererseits ist die Struktur nicht bloß ein System verschiedener Transformationen — es ist ein System, dessen Wurzeln sich in Bewegung und Aktion befinden... "(16)

Die kritische Einstellung Piagets zum statischen Strukturalismus, die unentwegte Anwendung des genetischen Prinzips, die Auffassung der Genesis als bestimmender Grundlage jeder Struktur veranlaßt zu der natürlichen Frage: Sollte man seine Ansichten nicht als marxistisch betrachten? Ist er ein marxistischer Strukturalist? Manche sind dieser Ansicht, beispielsweise L. Goldman. Aber wenn dem so ist, warum sagt Piaget selbst nichts Derartiges? Wie seine Erklärung interpretieren, er stimme völlig mit den Ansichten M. Gaudeliers überein, die dieser in dem Artikel „System, Struktur und Widerspruch im .Kapital'", veröffentlicht im existentialistischen Organ „Temps modernes" (November 1966), geäußert hat? Enthält doch dieser Artikel in Wirklichkeit keinerlei Kritik an den Ansichten Levi-Strauss', akzeptiert er doch die marxistische Dialektik genau in dem Maße und in der Form, wie sie nach den Levi-Strauss-Normen revidiert und „korrigiert" worden war, d Ji. in der Gestalt, in der sie faktisch aufgehört hatte, Dialektik zu sein!

Piaget erblickte in den Arbeiten Althussers die Möglichkeit, „den Marxismus in den Strukturalismus zu übersetzen". Wir wollen im Zusammenhang damit eine sehr wichtige Erklärung von Althusser selbst im Vorwort zur zweiten Ausgabe seines Buches „,Das Kapital' lesen" anführen: „Unsere Interpretation von Marx wurde der heutigen Mode zuliebe als ,strukturalistisch' anerkannt und eingeschätzt. Wir sind aber der Ansicht, daß der innere Sinn unserer Thesen trotz der Nähe der Terminologie keineswegs mit der Ideologie des Strukturalismus verbunden ist." Es versteht sich von selbst, daß die Verwendung der Begriffe Struktur, System, Elemente usw. bei weitem noch nicht bedeutet, daß wir es mit dem Strukturalismus zu tun haben.

Die wissenschaftliche Bedeutung der Arbeiten Piagets steht außer Zweifel. Das gilt insbesondere für seine Spezialforschungen über verschiedene Probleme der Psychologie. Gleichzeitig können seine allgemeintheoretischen, philosophischen Ansichten nicht als marxistisch angesehen werden. Das wird auch durch die Analyse des Begriffes „Genesis" bestätigt, dem Piaget keineswegs zufällig vor den Kategorien der Dialektik den Vorzug gibt. Wie M. de Gandillac sehr treffend bemerkte, kommt das Wort „Genesis" nicht vom griechischen genesis (Werden), sondern von gennesis (Geburt).(17) Im Grunde bedeutet Genesis den sich ununterbrochen wiederholenden Prozeß der Geburt dieser oder jener Struktur, und dieser Prozeß erreicht jedesmal seine Grenze in der Vollendung dieser Struktur. Gerade in diesem Sinne betrachtet Piaget den Begriff „Genesis", wenn er u.a. sagt: „ Was mich betrifft, so halte ich es für möglich, die Genesis und die Struktur miteinander auszusöhnen, indem ich die letztere zu einer bestimmten Form des Gleichgewichts mache, zu der die Genesis hinneigt. "(18) Eine solche Auffassung der Genesis, die ununterbrochen verschiedene Strukturen hervorbringt und „zum Gleichgewicht hinneigt", ist keineswegs der dialektischen Auffassung von der historischen Entwicklung gleichwertig. Der einfache Wechsel der Genesen im allgemeinen historischen Prozeß deckt dessen inneren Triebkräfte noch nicht auf: die dialektischen Widersprüche, die auch die „negative Arbeit" der Geschichte einschließen, und nicht nur das positive Erzeugen verschiedener Strukturen, Ereignisse und Erscheinungen.

In der wissenschaftlichen Forschung muß man natürlich die Entstehung dieser oder jener Erscheinungen analysieren, d.h. deren Genesis feststellen. In bestimmtem Rahmen ist es möglich, von den inneren Widersprüchen des historischen Prozesses insgesamt zu abstrahieren. Wir wollen daran erinnern, daß Marx beispielsweise im „Kapital" bei der Betrachtung der Genesis des Kapitals keineswegs auf eine solche Methode verzichtet. Aber erst die gründliche Analyse der gesamten Dialektik der kapitalistischen Produktion ermöglichte es Marx, deren Wesen und innere Entwicklungsgesetze aufzudecken. Beim Studium des kindlichen Intellekts beispielsweise ist es in erster Annäherung möglich und in gewissem Maße notwendig, von der historischen Evolution zu abstrahieren. Aber man kann die Genesis des kindlichen Intellekts nur in organischer Verbindung mit der gesamten ganzheitlichen Entwicklung der Persönlichkeit des Kindes, mit der Dialektik des gesamten Systems der sozialen Verhältnisse bis zu Ende begreifen und dessen wirkliches Wesen aufdecken.

Der genetische Strukturalismus Piagets hat, wie bereits festgestellt wurde, bei seinen Vorwürfen gegenüber dem statischen Strukturalismus im großen und ganzen recht. Aber auch Piaget war mit seinem Genesis-Begriff nicht imstande, die wirklichen Ursachen und den Charakter der gesellschaftlichen Entwicklung aufzudecken. Mehr noch, Piaget gelangt zu einer Biologisierung der historischen Erscheinungen und läßt damit die längst widerlegten Ansichten der Anhänger verschiedener „organischer Theorien" der Gesellschaft wieder auferstehen. Den Ideen Chomskys über die „angeborene Vernunft" und Levi-Strauss' über die „Beständigkeit des menschlichen Intellekts" entgegentretend, äußert er folgende Thesen: „Es gibt keine angeborenen Strukturen: Jede Struktur setzt den Prozeß ihrer Entstehung voraus. Solche Prozesse führen uns zu den vorangegangenen Strukturen, die in letzter Instanz zum ... biologischen Problem führen." Und weiter: „Ich glaube nicht, daß die Evolution der Vernunft eine andere Natur hat als die biologische Evolution. "(19) Die Biologisierung der sozialen Erscheinungen, die im gegebenen Falle von den Positionen des genetischen Strukturalismus aus erfolgt, ignoriert aber die grundlegenden, qualitativen Unterschiede zwischen Gesellschaft und Natur. In methodologischer Hinsicht ist das Mechanizismus, eine Spielart der metaphysischen Prinzipien, die es nicht gestatten, das konkrete Wesen der sozialen Erscheinungen und die tatsächlichen Gesetzmäßigkeiten der historischen Entwicklung aufzudecken. Deshalb kann der Strukturalismus insgesamt, ungeachtet rationaler Ideen bei den Vertretern des genetischen Strukturalismus, nur die Rolle einer antidialektischen Alternative zum Marxismus für sich beanspruchen.

Das letztere erklärt weitgehend die verdächtige Begeisterung, mit der der Strukturalismus von den reaktionärsten Ideologen aufgenommen wird. Daraus erklärt sich ferner sein vernichtender Sturz infolge der Ereignisse von Mai/Juni 1968, die den Zusammenbruch aller Arten der Statik, die Bloßlegung der dialektischen Widersprüche, eine „Rache" an der „Lebens-", „Freiheit-" und „Persönlichkeits"philoso-phie, eine Art Revanche der Geschichte bedeuteten. Damit wurde offensichtlich, daß der Strukturalismus der realen Wirklichkeit mit ihrer ganzen Kompliziertheit, Dynamik und Widersprüchlichkeit nicht adäquat ist.

Muß man jedoch der Ansicht sein, daß die Ideen des Strukturalismus heute und morgen keinen Platz mehr im ideologischen Leben Frankreichs haben? Diese Schlußfolgerung wäre verfrüht. Denn der Strukturalismus findet, trotz seiner historischen Mißgeschicke, einen gewissen Nährboden in der spezifischen Situation, wie sie in der Entwicklung der wissenschaftlichen und philosophischen Ideen entstanden ist: einerseits der mächtige Fortschritt der modernen Wissenschaften, der objektiv eine mit dem Prozeß der wissenschaftlichen Erkenntnis eng verbundene Philosophie erfordert; andererseits mangelnde Kenntnis der Dialektik in den verschiedenen Kreisen der wissenschaftlichen Intelligenz, was natürlich das Vordringen antidialektischer Konzeptionen fördert, insbesondere solcher, die von einem Schein von Wissenschaftlichkeit umgeben sind. Der Marxismus sieht sich einer solchen Situation nicht zum ersten Male gegenüber - bereits in seiner Arbeit „Materialismus und Empiriokritizismus" zeigte W. I. Lenin die ganze Widersprüchlichkeit einer solchen Situation auf, in der der wissenschaftliche Fortschritt unter der Herrschaft idealistischer und metaphysischer Ideen zu einer methodologischen Krise der Naturwissenschaft, zur Verbreitung antiwissenschaftlicher philosophischer Modeansichten unter den Wissenschaftlern führt.

Nicht zufällig war in dieser Situation eine gewisse Wiedergeburt strukturalisti-scher Ideen, die nach 1968 zeitweilig in den Hintergrund getreten waren. Das charakteristischste Beispiel ist das Auftreten des Nobelpreisträgers/. Monod, eines bedeutenden Spezialisten auf dem Gebiet der Molekularbiologie. Sein Buch mit dem Titel „Zufall und Notwendigkeit. Untersuchung naturphilosophischer Probleme der modernen Biologie" wurde Ende 1970 veröffentlicht und fand sofort eine weite Verbreitung. Es ist nicht unser Ziel, die philosophischen Fragen der Biologie, die den Hauptinhalt des Buches bilden, zu analysieren. Wir halten es hier nur für notwendig, die strukturalistischen Ideen und Thesen zu unterstreichen, die vom Autor in recht klarer Form zum Ausdruck gebracht werden.

Wir haben es hier in der Tat mit folgenden Erscheinungen zu tun: allgemeine Anwendung des linguistischen Modells in biologischen Forschungen („Die Theorie des genetischen Codes dient als Hauptbasis der Biologie", S. 12); Definition des Wesens des Menschen über den Begriff der Sprache, unter voller Ausschaltung der Kategorien der Arbeit und der gesellschaftlichen Verhältnisse (S. 144); Anerkennung der „natürlichen" cartesianischen Konzeption von der angeborenen Sprache (mit Berufung auf Chomsky und über ihn auf Descartes, S. 150 u.a.); Negation der Evolution innerhalb der Struktur und der Strukturen selbst im Geiste des statischen Strukturalismus (im besten Falle wird eine „Deformation der Invarianz", d.h. unveränderlicher Bildungen, anerkannt, S. 130); eine „nach allen Regeln" organisierte Offensive gegen die Dialektik, die außerdem dem Evolutionismus Spencers gleichgesetzt wird (das eine wie das andere wird vom Autor als „szientististischer Progres-sismus des 19. Jahrhunderts" definiert, S. 145). Für das Buch ist überhaupt eine Feindseligkeit gegenüber dem Marxismus charakteristisch, einer, um mit dem Verfasser zu sprechen, Ideologie des „Animismus", der „Verhöhnung der Wissenschaft" (S. 194), „voller verschiedener Drohungen, die Realität geworden sind" (S. 193) usw.

Es entsteht der Eindruck, als treten die strukturalistischen Ideen, die uns im Jahre 1970 dargeboten werden, in einer natürlichen Verbindung mit der Molekularbiologie in Erscheinung, was durch autoritative Äußerungen gegenwärtiger Wissenschaftler untermauert wird. Aber das ist ein rein äußerlicher Eindruck. In Wirklichkeit sind alle strukturalistischen Hauptideen gerade nicht der Wissenschaft, mit der sich /. Monod befaßt, entnommen - weder der Biochemie der Zelle noch der modernen Biologie schlechthin. Er hat sie von außen entlehnt, und zwar nicht nur den Arbeiten der Strukturalisten der 60er Jahre, sondern auch solchen Quellen wie die cartesianische Philosophie.

Die marxistische Philosophie kritisiert keinesfalls die Ergebnisse der wirklichen wissenschaftlichen Erkenntnis, mit denen gerade sie - wie das von Engels und Lenin tiefschürfend aufgedeckt wurde - organisch verbunden ist, sondern die idealistischen metaphysischen Spekulationen um die Errungenschaften der Wissenschaft. Die marxistische Philosophie übt heute genauso wie 1877 oder 1909 ihre ganz natürliche und für die Wissenschaft nützlichste Funktion aus: Sie hilft ihr, die eigenen Grundlagen, ihr wahres Wesen und ihre wahre Bedeutung zu erkennen.

Die derzeitige Entwicklung des geistigen Lebens in Frankreich ist gekennzeichnet durch eine tiefe Kluft zwischen den absterbenden Systemen der spekulativen Philosophie und dem strukturalistischen Neoszientismus als typischem Ausdruck positi-vistischer Ideen auf französischem Boden. (Der angelsächsische Positivismus vermochte trotz aller Anstrengungen nicht, sich ein Auditorium in Frankreich zu erringen.) Der Strukturalismus erweist sich bei aller Bedeutung der rationalen Seiten seiner Methodologie als untauglich, wichtigste philosophische Probleme, in erster Linie der Erkenntnis des Wesens und der Gesetzmäßigkeiten des historischen Prozesses, zu lösen. Mehr denn je tritt der Marxismus als eine Lehre hervor, die als einzige imstande ist, die realen Wege der Erkenntnis der Wahrheit und der Umgestaltung der Welt auf der Grundlage der Prinzipien des wahren Humanismus und der Gerechtigkeit zu weisen.

Der Marxismus-Leninismus ist die stärkste Waffe der Kommunisten im Kampf gegen alle Formen und Arten der bürgerlichen Ideologie, ihrer diversen Spekulationen auf Schwierigkeiten und Widersprüche im Prozeß der Erkenntnis der Welt, im Kampf für die Gewinnung der Intelligenz und der Jugend für die Arbeiterklasse, für deren Einbeziehung in die entschlossenen Aktionen gegen die Monopole, gegen die Kräfte der Reaktion.

Anmerkungen

1) Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 13, S.8
2) Karl Marx, „Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie", Dietz Verlag, Berlin 1953, S. 189.
3) Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 13, S. 638.
4) Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 25, S. 33.
5) C. Levi-Strauss, Anthropologie structurale, Paris 1958, p. 364.
6) C. Levi-Strauss, Tristes tropiques, Paris 1955, p. 44.
7) Temps modernes, Novembre 1966, p. 823.
8) Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 23, S. 16.
9) C. Levi-Strauss, Anthropologie structurale, p. 392.
10) Karl Marx, Grundrisse zur Kritik der politischen Ökonomie, S. 366.
11) Anthropologie structurale, S. 134.
12) Ebenda, S. 31.
13) Karl Marx, „Grundrisse zur Kritik der politischen Ökonomie, S. 366.
14) „L"Are", Nr. 30, 1966.
15) Le structuralisme, Paris 1968, S. 114.
16) Ebenda, S. 121.
17) Entretiens de Cerisy. Sur les notions de genese et de structure, Paris 1965, S. 338.
18) Ebenda, S. 18.
19) Entretiens de Cerisy, S. 42, 54.

Editorische Hinweise

Aus: Probleme des Friedens und des Sozialismus, Heft 5 und 6, Berlin/Prag 1971

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