Der
selbsternannte König Afrikas ist nicht mehr. Am 20. Oktober 2011
wurde Muammar al-Qadhafi (englische Transkription aus dem
Arabischen, sprachlich exakter als die ab jetzt verwendete
eingedeutschte Version) oder al-Gaddafi in der libyschen
Hafenstadt Syrte getötet. Bis zuletzt hatte er, den Beobachter
bis dahin seit dem Fall der Hauptstadt Tripolis Ende August
dieses Jahres auf der Flucht oder in den Weiten der Sahara
gewähnt hatten, mit seinen letzten Getreuen dort ausgeharrt.
Syrte, wo er auf die Welt kam, war für al-Gaddafi eine Hochburg
gewesen, die mit Investitionen und mehr oder weniger prächtigen
Bauten „verwöhnt“ worden war. Dort behielt der gestürzte
Diktator noch einen Rest an sozialer Massenbasis.
Es ist nicht
exakt geklärt, unter welchen Umständen al-Gaddafi zu Tode kam.
Die letzten acht Minuten seines Lebens können zwar auf einem
Kurzfilm, den die im US-amerikanischen Boston ansässige Zeitung
The Global Post ins Internet stellte - und den zahlreiche
Seiten im Netz übernommen haben - und in dem reichlich Blut zu
sehen ist, verfolgt werden. Doch die Szenen, die von
Amateurfilmern festgehalten wurden, sind nur unvollständig
filmisch festhalten. Zudem sind viele Bilder sehr verwackelt.
Der libysche
„Nationale Übergangsrat“ - englisch abgekürzt NTC -, die
Struktur der neuen Machthaber im Lande, spricht davon, er sei an
einer Schussverletzung gestorben. Unterdessen kann man in den
o.g. Aufnahmen sehen, dass al-Gaddafi am Kopf und an den Beinen
stark blutet, als er von (damaligen) Rebellen des NTC aus dem
Loch gezogen wird, in dem er sich zuvor versteckt hatten. Manche
Betrachteter vermuteten, al-Gaddafi sei bei der Bombardierung
des Autokonvois, in welchem er durch NATO-Flugzeuge bombadiert
worden war, durch Geschosse getroffen worden und sei am
Blutverlust gestorben. Andere Beobachter behaupten jedoch, der
abgehalfterte Diktator sei gelyncht worden. Ein Journalist der
Pariser Tageszeitung Libération, der al-Gaddafis
Leiche in der libyschen Stadt Misrata auf einem Leintuch
ausgebreitet sah, will seinerseits zahlreiche Blutergüsse,
Kratz- und Prellspuren gesehen haben. Gleichzeitig spricht er
von Einschusslöchern.. Ein junger Mann, Senad Sadek al-Ureybi,
gab später mit mehr oder minder unverhülltem Stolz an, er selbst
habe al-Gaddafi getötet. Auf der Webseite Gawker
erzählt er: „Wir haben ihn geschnappt, ich habe ihm ins
Gesicht schlagen. Manche der Rebellen wollten ihn mitnehmen, da
habe ich zwei mal auf ihn geschossen, in den Kopf und in die
Brust.“
Auch wenn
die Einzelheiten unklar sind, so spricht doch vieles dafür, dass
al-Gaddafi nach seiner Gefangennahme absichtlich zu Tode
gebracht worden ist. Einem Diktator, der notorisch foltern und
bisweilen auch Flugzeuge in die Luft sprengen lieb
(wie im September 1989, wo eine Maschine der französischen
Gesellschaft UTA explodierte, an der Bord sich vermeintlich ein
libyscher Opposition befand), wird man deswegen nicht
nachtrauern: Von Angehörigen seiner Bevölkerung umgebracht zu
werden, zählte nun einmal zu seinem Berufsrisiko.
Auf
politischer Ebene jedoch ist es gleichwohl bedenklich, dass die
neuen Machthaber es entweder selbst vorzogen oder aber nicht
verhindern konnten, dass al-Gaddafi auf diese Weise kurzer
Prozess gemacht wurde - anstatt ihn vor ein ordentliches Gericht
zu stellen. Hinzu kommt vor allem auch, dass offenbar nicht nur
al-Gaddafi durch die Hand der Rebellen starb. So wurden 53
Leichen unterhalb des Hotels Mahari in Syrte gefunden, die von
offenbar hingerichteten, zuvor „loyal“ auf Seiten Gaddafis
kämpfenden Soldaten stammen. Einige von ihnen trugen Fesseln an
den Händen, die darauf hindeuten, dass diese Kombattanten
bereits gefangen und wehrlos waren, als sie gemeinsam
hingerichtet wurden. Allgemein gehört die oft brutale Behandlung
von Gefangenen zu den dunklen Punkten des „neuen Libyen“ - zu
der sich noch eine besondere rassistische Komponente vor dem
Hintergrund einer wahren Hysterie über „schwarze Söldner“, weil
Gaddafi Kämpfer in Staaten wie Mali und Tschad rekrutiert hatte,
hinzugestellt. Amnesty international und Human Rights Watch
publizierten ausführliche und zum Teil erschreckende Berichte
darüber. Nichtsdestotrotz scheint es sich nicht um eine planmäbige
Politik der allgemeinen Ausgrenzung von Schwarzen durch die
Rebellenführung zu handeln, da in deren Truppen auch schwarze
Libyer kämpften, wie auf vielen Aufnahmen klar zu erkennen ist.
Frankreich
und USA lassen ihren früheren Foltererfreund bewusst über die
Klinge springen
Noch
wesentlich bedenklicher ist, dass offenkundig zwei der
wichtigsten an der militärischen Intervention zur Unterstützung
der Rebellen in Libyen beteiligten Mächte - Frankreich und die
USA - sich sehr bewusst für die Liquidierung al-Gaddafis und
gegen seine Gefangennahme entschieden. Und zwar aufgrund der
politischen Befürchtung, ein eventueller Prozess gegen
al-Gaddafis könnte die Sprache auch auf jene bringen, die ihn
aus- und aufrüsteten (zu seinen wichtigsten Waffenverkäufern
zählten in den letzten Jahren Frankreich und Italien). Die
seinem Geheimdienst beibrachten, Telefonkommunikationen und
Internet zu überwachen, um so eventuelle Oppositionelle oder
Kritiker zu überwachen - wie der französische
Auslandsgeheimdienst DGSE, der zu diesem Zwecke vom Sommer 2008
bis noch im Februar 2011 im Hauptquartier des libyschen
Geheimdiensts in Tripolis residierte. Auch aus diesem Grund, um
nämlich die Flut von Enthüllungen über die Komplizenschaft
Frankreichs mit den nordafrikanischen Diktaturen - nach den
Umbrüchen in Tunesien und Ägypten - zu unterbrechen, entschied
sich Nicolas Sarkozy Anfang März 2011 zur Intervention in Libyen
und zum Bruch der Allianz mit Gaddafi. Doch nach den Kämpfen in
Tripolis, Ende August d.J., flatterten die Dokumente frei
zugänglich in den Archiven des libyschen Geheimdiensts herunter.
Das Wall Street Journal (vom 29. August), Le Figaro
vom 01. September und andere Medien publizierten ein paar
Enthüllungen dazu.
Doch der
Clou kam erst noch. Am 26. Oktober 2011 berichtete die
französische Wochenzeitung Le Canard enchaîné
ausführlich darüber, wie Washington und Paris al-Gaddafi de
facto zum Tode verurteilten, um einen Schwung weiterer
Enthüllungen durch einen internationalen Prozess zu verhindern.
Am 19. Oktober wandte sich demnach ein hoher US-Militär aus dem
Pentagon an den französischen militärischen Nachrichtendienst,
um ihn darüber zu informieren, am Aufenthaltsort des gestürzten
Diktators bestehe keinerlei Zweifel mehr. Um hinzuzufügen:
„Diesen Mann am Leben zu lassen, bedeutet, ihn in eine Atombombe
zu verwandeln.“ Damit war dessen Schicksal besiegelt.
„Wir werden
doch nicht über Gaddafi Tränen ausschütten“
erklärte dazu, kurz darauf, Frankreichs Aubenminister
Alain Juppé. Dies verrät eine gewisse Kaltschnäuzigkeit.
Allerdings geht auch die scharf entgegen gesetzte Kritik zu
weit, welche der französische Psychologe Jean-Claude Paye in le
Monde formulierte, und die von einer „Regression unserer
Gesellschaft in die Barbarei“ deswegen spricht, weil al-Gaddafis
Leiche in Misrata vor Einwohner-inne-n zur Schau gestellt worden
war. Al-Gaddafi hatte im Jahr 2011 Rebellen und „abtrünnige“
Bevölkerungszeichen wörtlich als „Ratten“ bezeichnet,
seine Truppen hatten etwa die Stadt Misrata wochenlang belagert
und bombardiert, und in die Gewalt seiner Truppen geratenen
Opponenten drohten ohne Zweifel Folter und Tod. Dass die
Bewohner-innen des monatelang belagerten Misrata sich mit
eigenen Augen vom Tod des Diktators überzeugen wollten, ist
nachvollziehbar- oder erlaubt jedenfalls nicht, über
„barbarische Araber“ zu schwadronieren. Auch ein
europäischer Diktator wie Benito Mussolini wurde, einmal
geschnappt, als Leiche zur Schau gestellt.
Die
Scharia-Affäre
Wesentlich
fragwürdiger, was die Aussichten auf die künftige Entwicklung in
Libyen betrifft, ist die Ankündigung des NTC aus der letzten
Oktoberwoche, die libysche Gesetzgebung werde sich zukünftig an
der Scharia - der orthodox-islamischen Sammlung von Geboten und
Verboten - orientieren. Diese Ankündigung ist zwar in
„westlichen“ bzw. „nördlichen“ Ohren missverständlich: In vielen
arabischen Ländern - wie etwa im Nachbarland Ägypten -, wo
keineswegs islamistische Regimes regieren, sieht die Verfassung
ebenfalls die Scharia als Gesetzgebung vor. Dies bedeutet im
Grunde nur einen vagen, grundsätzlichen Bezug als „islamische
Werte“ als Quelle der Gesetzgebung. In den meisten Fällen
bedeutet dies, dass etwa die Familiengesetzgebung auf einer
Vorrangstellung der Männer (als Familienchef) beruht, und dass
männliche Erben gegenüber weiblichen Familienmitglieder bei der
Erbteilung bevorzugt werden. Nur in einer Minderzahl von
Staaten, namentlich in Saudi-Arabien und im Iran, schliebt
dieser prinzipielle Bezug auf die Scharia auch bestimmte, aus
früheren Jahrhunderten stammende Körper- und Züchtigungsstrafen
(für Alkoholkonsum, Diebstahl, Ehebruch…) ein.
Übrigens
mitunter auch in Libyen unter dem alten Regime, wo Muammar
al-Gadhafi die Scharia bereits im Jahr 1973 zur Quelle der
Gesetzgebung erkoren hatte. Bisweilen wurden dort auch die „Huddud“
(Züchtigungsstrafen) vollzogen, jedoch relativ selten und
unregelmäbig,
nicht systematisch wie in Saudi-Arabien oder dem Iran. Insofern
kann jedenfalls nicht davon gesprochen, jetzt, nach dem Sturz
des alten Regimes, habe Libyen soeben einen rapiden Sturz in die
Vergangenheit vollzogen. Allerdings muss hinzugefügt werden,
dass NTC-Präsident Mustapha Abdeljelal als Beispiel für ein
nicht mit der Scharia konformes Gesetz, das im künftigen Libyen
abgeschafft werden solle, die deutliche Einschränkung der
(theoretisch erlaubten) Polygamie im Libyen Gaddafis an. Am
selben Tag erklärte Abdeljelal auch, der NTC wolle künftig die
aktive Rolle von Frauen in der Politik fördern, sie zu
Abgeordneten und Ministerinnen machen. Gegen den ersten Teil
seiner Erklärung opponierten jedoch Frauen innerhalb des
politischen Lagers der früheren Rebellen – und jetzigen
Machthaber – heftig. Die Frauenorganisation Nisa’a
al-Libya al-hurra („Frauen des freien Libyen“), die an
der Rebellion gegen das Gaddafi-Regime teilnahm, hat den
Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen eingeschaltet, um
zu erreichen, dass dieser sich explizit gegen die Erleichterung
der Polygamie im Namen der Scharia in Libyen ausspricht?
Im NTC
existieren derzeit vier gröbere
Gruppen. Erstens sind da die (meist aus einem „westlichen“ bzw.
„nördlichen“ Exil zurückkehrenden) Technokraten wie der
Ingenieur Abdulrahim al-Kib - welcher am 31. Oktober mit der
Bildung einer Regierung bis zum 23. November beauftragt wurde.
Sie werden oft in die erste Reihe gestellt. Zum Zweiten trifft
man auf den harten Kern des ursprünglich im ostlibyschen
Benghazi gebildeten NTC, der die örtliche Bourgeoisie abbildet:
Selbige hatte bereits bislang erhebliche materielle Reichtümer
akkumulieren können, war jedoch von der politischen Macht
ferngehalten und im libyschen Staat marginalisiert worden. Zum
Dritten finden sich, ebenfalls in führenden Stellen, ehemalige
Spitzenfunktionäre des Gaddafi-Regimes wieder. Zu ihnen zählt
der aktuelle NTC-Chef Abdeljelal, welcher jedoch auch ein
Bindeglied zu einem Teil der Islamisten darstellt: Bis zu deren
Verbot hatte er als Student den libyschen Muslimbrüdern
angehört. Später und bis zu Anfang dieses Jahres amtierte er als
Justizminister al-Gaddafis. Bisweilen legte er sich jedoch in
jüngerer Vergangenheit auch mit dem Diktator an, da er auf der
Ausarbeitung einer (bis datoi nicht existierenden) schriftlichen
Verfassung und einer gewissen Gesetzestreue - gerade als
schriftgläubiger Muslim - beharrte, während für Gaddafi nur
seine eigenen, wechselhaften Ideen zu gelten hatten. Ein
weiterer führender Spitzenfunktionär des Regimes war bis Ende
Juli d.J. der Militärchef der Rebellen, Abdelfatah Younis. Er
hatte dereinst mit Gaddafi in einer Gruppe junger Offiziere die
Macht übernommen (1969), war dessen Innenminister und oberster
Folterknecht gewesen. Dann hatte er Anfang 2011 die Seiten
gewechselt. Doch am 28. Juli 2011 wurde er in rund 40 Kilometern
Entfernung von Benghazi getötet – von Leuten aus den eigenen
Reihen der Rebellen, wie viele Stimmen seither nicht müde werde
zu behaupten. (Seine Grobfamilie
forderte vom NTC eine Entschädigung für seinen Tod.)
Zum Vierten
finden wir die Islamisten, die innerhalb des NTC die Minderheit
bilden, jedoch unter den aktiv an der Front kämpfenden Rebellen
breiten Rückhalt besitzen. Ihnen steht mit Sicherheit eine
aussichtsreiche Zukunft bevor, da in Libyen nicht auch nur in
Ansätzen eine nennenswerte Arbeiterbewegung oder Linke gibt:
Nicht nur, dass alle politischen Kräfte und Gewerkschaften unter
Gaddafi einem absoluten Organisationsverbot unterlagen. Hinzu
kommt auch, dass Libyen einen „Rentenstaat“ - der die Einkommen
von Erdöl und -gas auf den Weltmärkten abschöpfte - bildete, der
seinen Staatsbürgern zumindest garantieren konnte, wenig
körperliche Arbeit verrichten zu müssen. Für jene stand bislang
ein Millionenheer von Migranten bereit, auch wenn dieses nun
durch die pogromartigen Ausschreitungen gegen Schwarze unter dem
Vorwand der Söldner-Hysterie auf brutale Weise verringert wird.
Vor diesem Hintergrund erscheinen den Benachteiligten vor allem
die Islamisten als Träger eine Form von (reaktionärer) sozialer
Utopie. Mit ihnen muss also in Zukunft gerechnet werden. Ein
früherer Jihadist und Afghanistankämpfer, Abdelhakim Belhadj von
der „Libyschen kämpfenden Gruppe“, der erst 2010 aus dem
Gefängnis entlassen worden war, wurde etwa zum
Militärkommandanten von Tripolis ernannt.
Editorische Hinweise
Wir erhielten den Text vom Autor für
diese Ausgabe.