Libyen nach Al-Qadhafi (al-Gaddafi)
Einige Anmerkungen zum Tod des gestürzten libyschen Diktators - und zu den politischen Aussichten des nordafrikanischen Landes

von Bernard Schmid

11/11

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Der selbsternannte König Afrikas ist nicht mehr. Am 20. Oktober 2011 wurde Muammar al-Qadhafi (englische Transkription aus dem Arabischen, sprachlich exakter als die ab jetzt verwendete eingedeutschte Version) oder al-Gaddafi in der libyschen Hafenstadt Syrte getötet. Bis zuletzt hatte er, den Beobachter bis dahin seit dem Fall der Hauptstadt Tripolis Ende August dieses Jahres auf der Flucht oder in den Weiten der Sahara gewähnt hatten, mit seinen letzten Getreuen dort ausgeharrt. Syrte, wo er auf die Welt kam, war für al-Gaddafi eine Hochburg gewesen, die mit Investitionen und mehr oder weniger prächtigen Bauten „verwöhnt“ worden war. Dort behielt der gestürzte Diktator noch einen Rest an sozialer Massenbasis. 

Es ist nicht exakt geklärt, unter welchen Umständen al-Gaddafi zu Tode kam. Die letzten acht Minuten seines Lebens können zwar auf einem Kurzfilm, den die im US-amerikanischen Boston ansässige Zeitung The Global Post ins Internet stellte - und den zahlreiche Seiten im Netz übernommen haben - und in dem reichlich Blut zu sehen ist, verfolgt werden. Doch die Szenen, die von Amateurfilmern festgehalten wurden, sind nur unvollständig filmisch festhalten. Zudem sind viele Bilder sehr verwackelt.  

Der libysche „Nationale Übergangsrat“ - englisch abgekürzt NTC -, die Struktur der neuen Machthaber im Lande, spricht davon, er sei an einer Schussverletzung gestorben. Unterdessen kann man in den o.g. Aufnahmen sehen, dass al-Gaddafi am Kopf und an den Beinen stark blutet, als er von (damaligen) Rebellen des NTC aus dem Loch gezogen wird, in dem er sich zuvor versteckt hatten. Manche Betrachteter vermuteten, al-Gaddafi sei bei der Bombardierung des Autokonvois, in welchem er durch NATO-Flugzeuge bombadiert worden war, durch Geschosse getroffen worden und sei am Blutverlust gestorben. Andere Beobachter behaupten jedoch, der abgehalfterte Diktator sei gelyncht worden. Ein Journalist der Pariser Tageszeitung Libération, der al-Gaddafis Leiche in der libyschen Stadt Misrata auf einem Leintuch ausgebreitet sah, will seinerseits zahlreiche Blutergüsse, Kratz- und Prellspuren gesehen haben. Gleichzeitig spricht er von  Einschusslöchern.. Ein junger Mann, Senad Sadek al-Ureybi, gab später mit mehr oder minder unverhülltem Stolz an, er selbst habe al-Gaddafi getötet. Auf der Webseite Gawker erzählt er: „Wir haben ihn geschnappt, ich habe ihm ins Gesicht schlagen. Manche der Rebellen wollten ihn mitnehmen, da habe ich zwei mal auf ihn geschossen, in den Kopf und in die Brust.“ 

Auch wenn die Einzelheiten unklar sind, so spricht doch vieles dafür, dass al-Gaddafi nach seiner Gefangennahme absichtlich zu Tode gebracht worden ist. Einem Diktator, der notorisch foltern und bisweilen auch  Flugzeuge in die Luft sprengen lieb (wie im September 1989, wo eine Maschine der französischen Gesellschaft UTA explodierte, an der Bord sich vermeintlich ein libyscher Opposition befand), wird man deswegen nicht nachtrauern: Von Angehörigen seiner Bevölkerung umgebracht zu werden, zählte nun einmal zu seinem Berufsrisiko.  

Auf politischer Ebene jedoch ist es gleichwohl bedenklich, dass die neuen Machthaber es entweder selbst vorzogen oder aber nicht verhindern konnten, dass al-Gaddafi auf diese Weise kurzer Prozess gemacht wurde - anstatt ihn vor ein ordentliches Gericht zu stellen. Hinzu kommt vor allem auch, dass offenbar nicht nur al-Gaddafi durch die Hand der Rebellen starb. So wurden 53 Leichen unterhalb des Hotels Mahari in Syrte gefunden, die von offenbar hingerichteten, zuvor „loyal“ auf Seiten Gaddafis kämpfenden Soldaten stammen. Einige von ihnen trugen Fesseln an den Händen, die darauf hindeuten, dass diese Kombattanten bereits gefangen und wehrlos waren, als sie gemeinsam hingerichtet wurden. Allgemein gehört die oft brutale Behandlung von Gefangenen zu den dunklen Punkten des „neuen Libyen“ - zu der sich noch eine besondere rassistische Komponente vor dem Hintergrund einer wahren Hysterie über „schwarze Söldner“, weil Gaddafi Kämpfer in Staaten wie Mali und Tschad rekrutiert hatte, hinzugestellt. Amnesty international und Human Rights Watch publizierten ausführliche und zum Teil erschreckende Berichte darüber. Nichtsdestotrotz scheint es sich nicht um eine planmäbige Politik der allgemeinen Ausgrenzung von Schwarzen durch die Rebellenführung zu handeln, da in deren Truppen auch schwarze Libyer kämpften, wie auf vielen Aufnahmen klar zu erkennen ist.  

Frankreich und USA lassen ihren früheren Foltererfreund bewusst über die Klinge springen  

Noch wesentlich bedenklicher ist, dass offenkundig zwei der wichtigsten an der militärischen Intervention zur Unterstützung der Rebellen in Libyen beteiligten Mächte - Frankreich und die USA - sich sehr bewusst für die Liquidierung al-Gaddafis und gegen seine Gefangennahme entschieden. Und zwar aufgrund der politischen Befürchtung, ein eventueller Prozess gegen al-Gaddafis könnte die Sprache auch auf jene bringen, die ihn aus- und aufrüsteten (zu seinen wichtigsten Waffenverkäufern zählten in den letzten Jahren Frankreich und Italien). Die seinem Geheimdienst beibrachten, Telefonkommunikationen und Internet zu überwachen, um so eventuelle Oppositionelle oder Kritiker zu überwachen - wie der französische Auslandsgeheimdienst DGSE, der zu diesem Zwecke vom Sommer 2008 bis noch im Februar 2011 im Hauptquartier des libyschen Geheimdiensts in Tripolis residierte. Auch aus diesem Grund, um nämlich die Flut von Enthüllungen über die Komplizenschaft Frankreichs mit den nordafrikanischen Diktaturen - nach den Umbrüchen in Tunesien und Ägypten - zu unterbrechen, entschied sich Nicolas Sarkozy Anfang März 2011 zur Intervention in Libyen und zum Bruch der Allianz mit Gaddafi. Doch nach den Kämpfen in Tripolis, Ende August d.J., flatterten die Dokumente frei zugänglich in den Archiven des libyschen Geheimdiensts herunter. Das Wall Street Journal (vom 29. August), Le Figaro vom 01. September und andere Medien publizierten ein paar Enthüllungen dazu. 

Doch der Clou kam erst noch. Am 26. Oktober 2011 berichtete die französische Wochenzeitung Le Canard enchaîné ausführlich darüber, wie Washington und Paris al-Gaddafi de facto zum Tode verurteilten, um einen Schwung weiterer Enthüllungen durch einen internationalen Prozess zu verhindern. Am 19. Oktober wandte sich demnach ein hoher US-Militär aus dem Pentagon an den französischen militärischen Nachrichtendienst, um ihn darüber zu informieren, am Aufenthaltsort des gestürzten Diktators bestehe keinerlei Zweifel mehr. Um hinzuzufügen: „Diesen Mann am Leben zu lassen, bedeutet, ihn in eine Atombombe zu verwandeln.“ Damit war dessen Schicksal besiegelt.  

„Wir werden doch nicht über Gaddafi Tränen ausschütten“ erklärte dazu, kurz darauf, Frankreichs Aubenminister Alain Juppé. Dies verrät eine gewisse Kaltschnäuzigkeit. Allerdings geht auch die scharf entgegen gesetzte Kritik zu weit, welche der französische Psychologe Jean-Claude Paye in le Monde formulierte, und die von einer „Regression unserer Gesellschaft in die Barbarei“ deswegen spricht, weil al-Gaddafis Leiche in Misrata vor Einwohner-inne-n zur Schau gestellt worden war. Al-Gaddafi hatte im Jahr 2011 Rebellen und „abtrünnige“ Bevölkerungszeichen wörtlich als „Ratten“ bezeichnet, seine Truppen hatten etwa die Stadt Misrata wochenlang belagert und bombardiert, und in die Gewalt seiner Truppen geratenen Opponenten drohten ohne Zweifel Folter und Tod. Dass die Bewohner-innen des monatelang belagerten Misrata sich mit eigenen Augen vom Tod des Diktators überzeugen wollten, ist nachvollziehbar- oder erlaubt jedenfalls nicht, über „barbarische Araber“ zu schwadronieren. Auch ein europäischer Diktator wie Benito Mussolini wurde, einmal geschnappt, als Leiche zur Schau gestellt. 

Die Scharia-Affäre 

Wesentlich fragwürdiger, was die Aussichten auf die künftige Entwicklung in Libyen betrifft, ist die Ankündigung des NTC aus der letzten Oktoberwoche, die libysche Gesetzgebung werde sich zukünftig an der Scharia - der orthodox-islamischen Sammlung von Geboten und Verboten - orientieren. Diese Ankündigung ist zwar in „westlichen“ bzw. „nördlichen“ Ohren missverständlich: In vielen arabischen Ländern - wie etwa im Nachbarland Ägypten -, wo keineswegs islamistische Regimes regieren, sieht die Verfassung ebenfalls die Scharia als Gesetzgebung vor. Dies bedeutet im Grunde nur einen vagen, grundsätzlichen Bezug als „islamische Werte“ als Quelle der Gesetzgebung. In den meisten Fällen bedeutet dies, dass etwa die Familiengesetzgebung auf einer Vorrangstellung der Männer (als Familienchef) beruht, und dass männliche Erben gegenüber weiblichen Familienmitglieder bei der Erbteilung bevorzugt werden. Nur in einer Minderzahl von Staaten, namentlich in Saudi-Arabien und im Iran, schliebt dieser prinzipielle Bezug auf die Scharia auch bestimmte, aus früheren Jahrhunderten stammende Körper- und Züchtigungsstrafen (für Alkoholkonsum, Diebstahl, Ehebruch…) ein.  

Übrigens mitunter auch in Libyen unter dem alten Regime, wo Muammar al-Gadhafi die Scharia bereits im Jahr 1973 zur Quelle der Gesetzgebung erkoren hatte. Bisweilen wurden dort auch die „Huddud“ (Züchtigungsstrafen) vollzogen, jedoch relativ selten und unregelmäbig, nicht systematisch wie in Saudi-Arabien oder dem Iran. Insofern kann jedenfalls nicht davon gesprochen, jetzt, nach dem Sturz des alten Regimes, habe Libyen soeben einen rapiden Sturz in die Vergangenheit vollzogen. Allerdings muss hinzugefügt werden, dass NTC-Präsident Mustapha Abdeljelal als Beispiel für ein nicht mit der Scharia konformes Gesetz, das im künftigen Libyen abgeschafft werden solle, die deutliche Einschränkung der (theoretisch erlaubten) Polygamie im Libyen Gaddafis an. Am selben Tag erklärte Abdeljelal auch, der NTC wolle künftig die aktive Rolle von Frauen in der Politik fördern, sie zu Abgeordneten und Ministerinnen machen. Gegen den ersten Teil seiner Erklärung opponierten jedoch Frauen innerhalb des politischen Lagers der früheren Rebellen – und jetzigen Machthaber – heftig. Die Frauenorganisation Nisa’a al-Libya al-hurra („Frauen des freien Libyen“), die an der Rebellion gegen das Gaddafi-Regime teilnahm, hat den Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen eingeschaltet, um zu erreichen, dass dieser sich explizit gegen die Erleichterung der Polygamie im Namen der Scharia in Libyen ausspricht?  

Im NTC existieren derzeit vier gröbere Gruppen. Erstens sind da die (meist aus einem „westlichen“ bzw. „nördlichen“ Exil zurückkehrenden) Technokraten wie der Ingenieur Abdulrahim al-Kib - welcher am 31. Oktober mit der Bildung einer Regierung bis zum 23. November beauftragt wurde. Sie werden oft in die erste Reihe gestellt. Zum Zweiten trifft man auf den harten Kern des ursprünglich im ostlibyschen Benghazi gebildeten NTC, der die örtliche Bourgeoisie abbildet: Selbige hatte bereits bislang erhebliche materielle Reichtümer akkumulieren können, war jedoch von der politischen Macht ferngehalten und im libyschen Staat marginalisiert worden. Zum Dritten finden sich, ebenfalls in führenden Stellen, ehemalige Spitzenfunktionäre des Gaddafi-Regimes wieder. Zu ihnen zählt der aktuelle NTC-Chef Abdeljelal, welcher jedoch auch ein Bindeglied zu einem Teil der Islamisten darstellt: Bis zu deren Verbot hatte er als Student den libyschen Muslimbrüdern angehört. Später und bis zu Anfang dieses Jahres amtierte er als Justizminister al-Gaddafis. Bisweilen legte er sich jedoch in jüngerer Vergangenheit auch mit dem Diktator an, da er auf der Ausarbeitung einer (bis datoi nicht existierenden) schriftlichen Verfassung und einer gewissen Gesetzestreue - gerade als schriftgläubiger Muslim - beharrte, während für Gaddafi nur seine eigenen, wechselhaften Ideen zu gelten hatten. Ein weiterer führender Spitzenfunktionär des Regimes war bis Ende Juli d.J. der Militärchef der Rebellen, Abdelfatah Younis. Er hatte dereinst mit Gaddafi in einer Gruppe junger Offiziere die Macht übernommen (1969), war dessen Innenminister und oberster Folterknecht gewesen. Dann hatte er Anfang 2011 die Seiten gewechselt. Doch am 28. Juli 2011 wurde er in rund 40 Kilometern Entfernung von Benghazi getötet – von Leuten aus den eigenen Reihen der Rebellen, wie viele Stimmen seither nicht müde werde zu behaupten. (Seine Grobfamilie forderte vom NTC eine Entschädigung für seinen Tod.) 

Zum Vierten finden wir die Islamisten, die innerhalb des NTC die Minderheit bilden, jedoch unter den aktiv an der Front kämpfenden Rebellen breiten Rückhalt besitzen. Ihnen steht mit Sicherheit eine aussichtsreiche Zukunft bevor, da in Libyen nicht auch nur in Ansätzen eine nennenswerte Arbeiterbewegung oder Linke gibt: Nicht nur, dass alle politischen Kräfte und Gewerkschaften unter Gaddafi einem absoluten Organisationsverbot unterlagen. Hinzu kommt auch, dass Libyen einen „Rentenstaat“ - der die Einkommen von Erdöl und -gas auf den Weltmärkten abschöpfte - bildete, der seinen Staatsbürgern zumindest garantieren konnte, wenig körperliche Arbeit verrichten zu müssen. Für jene stand bislang ein Millionenheer von Migranten bereit, auch wenn dieses nun durch die pogromartigen Ausschreitungen gegen Schwarze unter dem Vorwand der Söldner-Hysterie auf brutale Weise verringert wird. Vor diesem Hintergrund erscheinen den Benachteiligten vor allem die Islamisten als Träger eine Form von (reaktionärer) sozialer Utopie. Mit ihnen muss also in Zukunft gerechnet werden. Ein früherer Jihadist und Afghanistankämpfer, Abdelhakim Belhadj von der „Libyschen kämpfenden Gruppe“, der erst 2010 aus dem Gefängnis entlassen worden war, wurde etwa zum Militärkommandanten von Tripolis ernannt.

Editorische Hinweise
Wir erhielten den Text vom  Autor für diese Ausgabe.