Ausgrenzung durch die Mittelschicht
Ein Bericht über eine Tagung in Potsdam

von Anne Seeck

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Am 2. November 2011 fand in Potsdam eine Tagung der Heinrich-Böll-Stiftung Brandenburg zu "Ausgrenzung durch die Mittelschicht- Abwertende Einstellungen der Mitte und ihre Folgen für die Gesellschaft" statt.

Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit- ein Vortrag von Prof. Wilhelm Heitmeyer von der Uni Bielefeld  

Prof. Wilhelm Heitmeyer sprach zunächst zum Thema "Gesellschaftliche Entwicklung und Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit". 10 Jahre haben Heitmeyer u.a. die Studie "Deutsche Zustände" vorgelegt. Die letzte Folge 10 erscheint im Dezember. Der Kern sei die Ideologie der Ungleichwertigkeit. Die soziale Ungleichheit hätte sich verschärft, es würde sich ein autoritärer Kapitalismus herausbilden.  

Hintergrundprozesse seien: 

1. Sozialer Wandel und Krisenanfälligkeit: Aufgrund der Strukturkrisen sei für Teile der Gesellschaft Integration nicht mehr möglich.
2. Durch eine ethnisch heterogene Gesellschaft gebe es Integrationsprobleme.
3. Das Verhältnis von Ökonomie und Politik verändert sich. Das Kapital hätte einen Kontrollgewinn, die nationalstaatliche Politik einen Kontrollverlust. Es geht um Nützlichkeit, Effizienz, Verwertbarkeit.
4. Krisen: Finanzkrise, Wirtschaftskrise, Fiskalkrise, Gesellschaftskrise (Entwicklung des demokratischen Systems) 

Für die Studie haben sie die Theorie der sozialen Desintegration angewendet, die Heitmeyer an der Uni Bielefeld entwickelt hat. Diese hat drei Dimensionen. Zunächst die strukturellen Bedingungen der Reproduktion, d.h. Zugänge zu Arbeit, Bildung, Wohnungsmarkt etc. Zweitens sind es die Teilnahmechancen, also die Vergesellschaftung. Die dritte Dimension ist der soziale Nahraum, die Vergemeinschaftung. Anerkennung, emotionale Beziehungen etc.

Hier mehr über die Theorie und Wilhelm Heitmeyer: http://de.wikipedia.org/wiki/Wilhelm_Heitmeyer

Eine zweite Theorie stammt von Richard Wilkinson und Kate Pickett. Mit einer Vielzahl von Studien belegen die Beiden, dass in Ländern mit größerer Ungleichheit junge Männer vermehrt zu Gewalt neigen. Soziale Probleme seien zwar vermehrt in den ärmeren Schichten einer Gesellschaft festzustellen, aber häufiger in Gesellschaften, die eine hohe Ungleichheit aufweisen.

Ihr Buch "Gleichheit ist Glück": http://www.socialnet.de/rezensionen/11444.php    

Die soziale Spaltung hat enorm zugenommen, das muß subjektiv verarbeitet werden. Ein hoher Anteil glaubt nicht mehr an die Kernnormen Solidarität, Gerechtigkeit, Fairness. Immer mehr kündigen die Solidarität mit "sozial Schwachen" auf, insbesondere ist es die Gruppe mit höheren Einkommen. Auch die Fremdenfeindlichkeit steigt vor allem in höheren Einkommensgruppen. Die Eliten führen einen Klassenkampf von oben. Insbesondere die über 60jährigen sind für die Abwertungsmuster verantwortlich. Zudem sind rassistische und fremdenfeindliche Positionen bei Frauen stärker als bei Männern.  

Die ökonomistischen Einstellungen in der Bevölkerung verbreiten sich. Schwache Gruppen werden abgewertet und ausgegrenzt.

Diese Dinge fallen nicht vom Himmel. Seit Einführung von Hartz IV ist die Angst auch in den mittleren Soziallagen angekommen. Im Clement-Report "Vorrang für die Anständigen" wurden Erwerbslose als "Parasiten" bezeichnet. Die ökonomischen Prinzipien greifen in das alltägliche Denken über. 

Heitmeyer: "Wir brauchen eine neue Kultur der Anerkennung. In welcher Gesellschaft wollen wir eigentlich leben? Diese Debatte müßten Teile der Elite vom Zaun brechen, aber die sind Teil des Problems. Sie haben keine Vision"   

Aber vielleicht gebe es doch Hoffnung, denn im bürgerlichen Lager werden die Zweifel immer größer. Denn das bürgerliche Lager stände auf dem Kopf. Dient das politische System nur den Reichen? Linke Gesellschaftskritik sei wieder da und werde auch gebraucht.  

Als Beispiele nannte er Frank Schirrmacher von der FAZ, der sagte: "Ich beginne zu glauben, dass die Linke recht hat."

Als zweites Beispiel nannte er Charles Moore. „Die Stärke der Analyse der Linken“, so schreibt der erzkonservative Charles Moore im „Daily Telegraph“, „liegt darin, dass sie verstanden haben, wie die Mächtigen sich liberal-konservativer Sprache als Tarnumhang bedient haben, um sich ihre Vorteile zu sichern. ,Globalisierung‘ zum Beispiel sollte ursprünglich nichts anderes bedeuten als weltweiter freier Handel. Jetzt heißt es, dass Banken die Gewinne internationalen Erfolgs an sich reißen und die Verluste auf jeden Steuerzahler in jeder Nation verteilen. Die Banken kommen nur noch ,nach Hause‘, wenn sie kein Geld mehr haben. Dann geben unsere Regierungen ihnen neues.“ 

Ergebnisse der Studie sind in diesem Artikel zu finden: http://www.trend.infopartisan.net/teilhabe/seek_rechtspopulismus.html  

Der Selbstbetrug der Mittelschicht- ein Vortrag von Ulrike Herrmann (taz)  

Ulrike Herrmann hatte das Buch "Selbstbetrug der Mittelschicht" geschrieben. „Die Mittelschicht kann also nicht nur Opfer, sondern muss auch Täter sein. Wenn sie absteigt, dann nur, weil sie an diesem Abstieg mitwirkt. Sie selbst ist es, die für eine Steuer- und Sozialpolitik stimmt, die ihren Interessen völlig entgegengesetzt ist.“ Lobbyisten zielen auf das Selbstbild der Mittelschicht. „Sie sprechen deren Träume und Hoffnungen an, bedienen deren Ängste und Vorurteile. Wenn Lobbyisten Privilegien für die Reichen durchbringen wollen, dann müssen sie der Mittelschicht das Gefühl geben, dass diese ebenfalls zur Elite gehört...Die Mittelschicht wird so lange für die Reichen zahlen, wie sie sich selbst zu den Reichen zählt.“

Ein Artikel im Spiegel: http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/0,1518,687760,00.html

Das Buch  heißt: "Hurra, wir dürfen zahlen: Der Selbstbetrug der Mittelschicht".  

Sie begann ihren Vortrag mit dem Buch von Thilo Sarrazin. Er straft zwei Gruppen mit Verachtung: muslimische Einwanderer und die deutsche Unterschicht. 1,5 Millionen Exemplare von dem Buch wurden verkauft. Das Buch kostet 22,99 Euro und ist den Käufern ein wirkliches Anliegen. Er vertritt zwei Thesen. Die muslimischen Einwanderer müssen dumm sein, weil die Religion sie verdummt. Die deutsche Unterschicht sei genetisch bedingt zu blöd. Dumme Eltern bekommen dumme Kinder. All das ist durch Experten widerlegt.

Worum geht es dabei? Wenn die Armen alle arm sind, weil sie dumm sind, dann setzen sich also die Intelligenten durch und die gehören dann natürlich der Elite an. Ackermann sei dann eben ein intelligenter Leistungsträger. Es werden also die Privilegien der Privilegierten verteidigt, was die Leser aber nicht merken. Denn sie denken, sie würden zu den Intelligenten zählen, bemerken aber ihre eigene Dummheit nicht. Trotz des Unsinns (oder wegen des Unsinns?) drehte sich wochenlang das politische Leben um Sarrazin. Kern des Buches sind Emotionen, die er transportiert. Ressentiments, Panik, Angst. Die Sprache ist technokratisch. 

Die Mehrheit in der Gesellschaft fürchtet den Abstieg. Und die Mittelschicht schrumpft faktisch. 1998 gehörten 64,3% der Mittelschicht an, 2008 waren es 58,7%. Betroffen ist vor allem die untere Mittelschicht. Auch wer zur Mittelschicht gezählt werde, sei fragwürdig. Ein Single mit 1070- 2350 Nettoeinkommen. Viele steigen ab, weil die Reallöhne sinken. In vier Jahren gab es einen Reallohnverlust von 2%. Selbst im Boom steigen die Reallöhne nicht. Es profitieren Kapitaleigener, Aktien- und Firmenbesitzer. 

In keinem anderen Industrieland geht die Schere zwischen Arm und Reich so schnell auseinander. Natürlich gibt es Länder, wo die Schere weiter auseinander ist. Das Besondere in Deutschland ist die Geschwindigkeit, mit der die Mittelschicht schrumpft. Sie haben Recht, wenn sie sich als Opfer fühlen. Aber sie deuten es um: Die Armen seien die Ausbeuter.  

1% der Reichen besitzen 23% des gesamten Volksvermögens. Das sind Immobilien, Aktien, Anlagen. 10% besitzen 61% des Vermögens. 1% besitzt 70% des Firmeneigentums. Die Reichen müssten also über einen IQ von 10 000 besitzen, ein Genie hat einen IQ von 200.  

Es geht also um einen Verteilungskampf. Und darin stellt sich die Mittelschicht dämlich an. Dabei entscheidet die Mittelschicht jede Wahl, die Unterschicht geht nicht zur Wahl. Ulrike Hermann meint, die Mittelschicht hätte die Macht, die Gesellschaft so zu gestalten, dass es ihr gut geht.  

Dagegen haben sie eine Politik befördert, die Reiche privilegiert. Bei der Reform der Einkommenssteuer wurde der Spitzensteuersatz um 11% gesenkt. Das sei eine beispiellose historische Zäsur. CDU, FDP, SPD und Grüne haben mitgemacht, sie haben die Reichen beschenkt. Auch die Abgeltungssteuer wurde gesenkt. Millionäre sind niedriger besteuert als Einkommenssteuerzahler. Zudem brauchen Firmenerben laut Erbschaftssteuergesetz keine Steuern zahlen. Als Ausgleich wurde die Mehrwertsteuer erhöht, die alle zahlen müssen.  

Die Mittelschicht ist Täter, sie wirkt am eigenen Abstieg mit. Jeder Politiker will wiedergewählt werden. Die Wahl muß gewonnen werden. Deshalb müssen sie die Emotionen der Mehrheit berühren. Auch die Lobbyisten zielen auf das Selbstbild der Mittelschicht.  

Bei dem Selbstbetrug wirken drei Mechanismen: 

1) Die vehemente Verachtung der Unterschicht 

Diese hat Sarrazin nicht erfunden, sie ist vorhanden. Die Mittelschicht ist befriedigt, andere unter sich zu wissen. Und wenn sie nicht unten ist, dann müsse sie oben sein. 

2) Der endgültige Aufstieg sei nahe 

Sie glaubt an ihre eigene Karriere. Reichtum liege knapp oberhalb ihres Einkommens. Subjektiv fühlt sich jeder zur Mittelschicht zugehörig. "Ich muß mich nur noch etwas anstrengen." Die meisten haben einen Bildungsaufstieg erlebt, Aufstieg sei also möglich. Sie übersehen dabei das Paradox, dass noch nie soviele so gut ausgebildet waren und trotzdem sinken die Reallöhne.  

Die Mittelschicht setzt nicht auf Umverteilung, sondern auf individuellen Aufstieg.  

Dabei reicht der Bildungsabschluß heute nicht, wichtig ist die soziale Herkunft. Die Elite rekrutiert sich aus sich selbst. Das ist eine Parallelwelt. So stammt auch Sarrazin aus der Oberschicht.  

3) Die Reichen rechnen sich arm 

Ein Beispiel war Frau Schikedanz, die sich arm wähnte, weil sie von der Milliardärin zur Millionärin abgestiegen war.

Über Reichtum weiß man ganz wenig. In der Einkommens- und Verbrauchs-Stichprobe werden Nettoeinkommen über 18 000 nicht befragt. Das seien ja nur 1% der Bevölkerung. Dabei besitzen sie 23% des Volksvermögens. Reichtum ist anonym.  

Es gibt also eine fatale Allianz. Die Reichen halten sich für arm, die Mittelschicht für fast reich. Der Staat ist diskredtiert, weil er die Sozialschmarotzer unterstützen würde. Hauptsache Steuersenkung. In der Krise rettete dagegen der Staat das Vermögen der Vermögenden. Für die Reichen wurde so die Krise zum doppelten Geschäft.  

Als positives Beispiel nannte Ulrike Herrmann den New Deal in den USA in den 30iger Jahren des 20. Jahrhunderts. Dort wurde der Spitzensteuersatz erhöht. Die Reichen heute hätten eine Wahl: entweder sie zahlen mehr Steuern oder es kommt zum Crash.

Schwenken die Eliten um? Als Beispiel nannte sie Warren Buffett. Im Juni 2010 startete er zusammen mit Bill Gates die Kampagne The Giving Pledge (deutsch: Das Versprechen, etwas herzugeben). Buffett kündigte an, dass er nach seinem Tod 99 Prozent seines Vermögens für wohltätige Zwecke hinterlassen wolle. 

Was kann die Mittelschicht tun? 

Die Mittelschicht sollte selbst denken und nicht auf die Parteien hören. Umfragen wirken sich auf Parteien aus (Fukushima, Frauenquote bei CDU). Die Politik schwenke um, wenn sich die Bevölkerungsmeinung ändert. Der Einstellungswandel in der Bevölkerung hätte politische Macht. Eine andere Steuer- und Sozialpolitik sei wichtig. Das sei im Eigeninteresse der Mittelschicht.

Ansonsten bleibe die Allianz mit den Reichen, die zum eigenen Abstieg führe.  

Ein Kommentar 

Meines Erachtens ist es etwas naiv, zu glauben

  •  Die Debatte "Wie wollen wir leben?" würde vom bürgerlichen Lager oder gar Teilen der Elite angestoßen. (Heitmeyer)

  • Wenn sich die Bevölkerungsmeinung ändert, würde sich auch die Politik ändern. (Herrmann)

"Wie wollen wir leben?", Nachdenken über eine andere Gesellschaft ist eher in linken selbstorganisierten Kreisen anzutreffen, z.B. in der Zeitschrift "Contraste", im Kommune-Buch, Projektwerkstatt Saasen, aber auch bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung etc.

Diese Debatte ist noch marginalisiert.

Und wie soll sich denn die Bevölkerungsmehrheit in wesentlichen Punkten ändern, solange z.B. die Eigentums- und Produktionsverhältnisse, die Medien, das Erziehungs- und Bildungssystem etc. sich nicht ändern. Solange die kapitalistischen Strukturen so weiter wirken.

Der Kapitalismus hat die Eigenschaft Kritik aufzusaugen und sich zu modernisieren, damit ändert sich aber das System nicht grundsätzlich. Zudem befinden wir uns im Klimawandel, die Mittelschicht muß ihre imperiale Lebensweise ändern.

Es gibt auch kein Zurück in den Keynsianismus, denn das Konkurrenzsystem des Realsozialismus ist weggebrochen. Auch der Sozialstaat alter Prägung war kritikwürdig, das vergessen die Nostalgiker in West und Ost.  

Die Eliten werden das alles zu verhindern wissen, solange sie nicht entmachtet und enteignet werden.  

Verwahrloste Unterschicht? Zur Abwertung prekärer Lebensformen im wirtschaftlichen Leistungsdiskurs - Vortrag von Prof. Klaus Dörre (Uni Jena) 

Die Unterschichtdebatte wurde von ideologischer Musik begleitet. Sie war intellektuell vorbereitet durch das Buch "Riskante Moderne" von Paul Nolte. Wir hätten es mit einer neuen Unterschicht zu tun, der Klassenbegriff wird dabei kulturalisiert.

Ursachen seien nach Nolte:

1) Der Übergang zur Einwanderungsgesellschaft

2) Die Erosion der traditionellen Familie (Armut erzeugt Kinder)

3) Die Herausbildung einer Massen- und Klassenstruktur (Unterschichtenfernsehen)

Die Klassen würden sich kulturell konstituieren. Die Leistungsträger würden von der Unterschicht ausgebeutet.

Als im Frühjahr 2011 bekannt wurde, dass die Sanktionen für Hartz IV- Bezieher zugenommen haben, hieß es, da sieht man, die wollen nicht. Es ist die Angst, der Virus der Leistungsfeindlichkeit könnte die eigenen Kinder befallen. 

Die These von Dörre: Diese Debatte erzielt deshalb gesellschaftliche Wirkung, weil sie etwas transportiert, was gesellschaftliche Realität ist. Es breitet sich ein neuer historischer Typus von Prekarität aus.  

Viele Klischees finden sich in der Gesellschaft wieder. Es gibt die Phänomene, aber es ist ein Zerrbild einer kulturell verwahrlosten Unterschicht. In der Unterschichtendebatte wird behauptet, das sei ein Wohlfahrtsproblem, es ginge ihnen zu gut.  

Gesellschaftliches System von Bewährungsproben 

Dieser Gedanke der Bewährungsproben geht auf das Buch "Der neue Geist des Kapitalismus" zurück. Ein Element sei die Kraftprobe, ein zweites Element die Wertigkeitsprüfung.  

Auf dem Arbeitsmarkt gibt es gesicherte Stammbelegschaften und Leiharbeiter. Die Leiharbeiter müssen sich ständig bewähren, sie müssen ständig nachweisen, das sie geeignet sind, den Sprung in die Stammbelegschaft zu schaffen. Es findet auch eine ständige Wertigkeitsprüfung statt. Der Leiharbeiter hat eine schlechtere Wertigkeit. In einer Firma sollten Leiharbeiter einen roten Winkel auf ihrer Kleidung tragen... 

Aber: Jede Arbeit ist besser als keine. Es besteht eine Anerkennungsproblematik. Hartz IV ist ein nicht respektierter Status, das ist ein Status unterhalb der Respektabilität. Hier gibt es auch das Problem, ob sie Zugang zu sozialen Netzwerken haben. Bei Hartz IV- Bezieher homogenisiert sich auch oft das Umfeld, weil sie in anderen Kreisen nicht mithalten können. Man trifft sich mit Leuten, die ähnlich sind.  

Belegschaftsbefragungen in der Metall- und Elektroindustrie 

Aus einem Interview: "Wir haben in erster Linie die Metall- und Elektroindustrie untersucht und einzelne Betriebe herausgepickt, also keine Branchenanalyse gemacht, sondern einzelne Betriebe herausgenommen und haben uns vor allen Dingen konzentriert auf diesen Typus der 'strategischen Nutzung' von Leiharbeit beziehungsweise den Typus 'Flexibilitätspuffer', also nicht so sehr den Personalersatz, sondern wir wollten schon die Intensivnutzung von Leiharbeit stärker in den Blick nehmen. Wir haben das ergänzt, die Studien in der Metall- und Elektroindustrie, um einige Betriebe im Bereich Nahrung, Genuss, Gaststätten und im Dienstleistungssektor."

Automobilunternehmen waren dabei, die bis zu 1000 Zeitarbeiter beschäftigten, bei einem Leiharbeiteranteil insgesamt von 35 bis 40 Prozent. Die Wissenschaftler nahmen Zulieferfirmen unter die Lupe mit einem Zeitarbeitsanteil von 50 Prozent.

http://www.dradio.de/dlf/sendungen/studiozeit-ks/913400/  

Dabei ging es auch um das Verhältnis zu Leiharbeitern und Arbeitslosen.

Einerseits sind die Beschäftigten an Leiharbeitern interessiert, weil sie ihre Arbeitsplätze sicherer machen. Vor allem aber Arbeiter in der Produktion sagten nein bei der Frage, ob die Leiharbeiter zur Betriebsfamilie gehören. Sie werden als Konkurrenz wahrgenommen.

Auch ehemalige Stammarbeiter, die entlassen wurden und dann wieder als Leiharbeiter kamen, würden nicht dazu gehören.  

Es gibt auch eine neue Studie der Otto-Brenner-Stiftung "Integrationshemnis Leiharbeit" 

Dem Satz "Eine Gesellschaft, die jeden mitnimmt, ist auf Dauer nicht überlebensfähig" stimmten 51% zu, 34% teils teils.

Bei dem Satz "Auf Arbeitslose sollte mehr Druck ausgeübt werden." gab es im Osten weniger stärkere Zustimmung.

Klaus Dörre erzählte, dass z.B. Jena Zeiten erlebt hat, in denen 60% arbeitslos waren. Trotzdem fühlen sich dort Arbeitslose besonders ausgegrenzt.   

Exklusive Solidarität 

Klaus Dörre stellte bei den Befragungen fest, dass die Menschen untereinander solidarisch und auch gesellschafts- und kapitalismuskritisch sind, trotzdem erfolgt auch gerade im Westen eine Abwertung gegen schwächere Gruppen. Wer im Boom arbeitslos bleibt, für den zeigen sie kein Verständnis. Die Entsolidarisierung führt bis auf die unterste Sprosse: "Ich kenne Faule, aber ich bin es nicht." Das heißt sie werten sich selbst auf, indem sie andere abwerten.  

Der ideologische Krieg gegen die Unterschicht müßte eingestellt werden. Die Sozialkritik muß in der Gesellschaft Platz nehmen.  

Prof. Ursula Dalllinger stellte dann in ihrem sehr fachspezifischen Vortrag fest, dass insbesondere die untere Mittelschicht vom Abstieg betroffen ist. Die Abstiegsbefürchtung schlägt um in Distanzierung und Abwertung. Die Forschung sollte endlich auf die Oberschicht schauen.  

Ein Kommentar 

Der ideologische Krieg gegen die Unterschicht wird nicht aufhören, solange der Stellenwert der Arbeit in Zeiten der Angst vor dem sozialen Abstieg und des Sozialabbaus so hoch ist, denn der Slogan "Jede Arbeit ist besser als keine" und der Niedriglohnsektor sollen durchgesetzt werden.

Was in der Debatte um Sarrazins Buch untergegangen ist, sind seine Forderungen nach Arbeitspflicht (workfare) und Senkung des Hartz IV- Regelsatzes.

Entweder wird es dazu kommen oder wir beginnen eine gesellschaftliche Debatte über die "Arbeitsgesellschaft" und die Zukunft der Arbeit. Das bedingungslose Grundeinkommen birgt insbesondere zwei Gefahren, dass es das kapitalistische Wachstumsmodell beibehält, um das Grundeinkommen zu finanzieren, was ökologisch eine Katastrophe ist, oder es wird so niedrig (Kombilohn) sein, dass die Menschen gezwungen sind, zu Hungerlöhnen zu arbeiten.  

Reizwerte, Nachrichtenwerte und die Abwertung der Anderen- Vortrag von Dr. Hans- Jürgen Arlt (Uni der Künste Berlin) 

Warum man von den Medien nichts Besseres erwarten kann, erklärte Hans- Jürgen Arlt in diesem Vortrag. 

Interessant ist seine Website (http://www.kommunikation-und-arbeit.de/) mit diesen zwei Studien:  

Hier eine "Bild"- Studie von Arlt und Storz. Drucksache "Bild"- Eine Marke und ihre Mägde

Am Anfang der Studie heißt es: "Die Griechenland- und Eurokrise ist in der ersten Hälfte des Jahres 2010 ein herausragendes öffentliches Thema. Wie behandelte die „Bild“- Zeitung die Ereignisse um die Griechenland und Eurokrise?

Die „Bild“-Zeitung ‚strickt‘ aus den Ereignissen und um das Thema herum eine Geschichte, die Geschichte von den faulen und betrügerischen Griechen, die an das Geld des deutschen Steuerzahlers wollen. Diese „Bild“-Aufführung läuft von Ende Januar bis Ende Mai 2010 in fortwährend neuen Episoden und wird im Herbst mit einer Serie noch einmal aufgegriffen...." 

Zum massenmedialen Umgang mit Finanzmarktpolitik, Die Krisenstudie: http://www.kommunikation-und-arbeit.de/mediapool/63/639017/data/Studie-kurzfinal.pdf

"Der tagesaktuelle deutsche Wirtschaftsjournalismus ist ein gläubiger Diener des Mainstreams, kein kritischer Träger der Aufklärung. Im Bereich der Wirtschaft, den die Gesellschaft selbst für ihren wichtigsten hält, leistet sie sich einen tagesaktuellen

Journalismus, der wenig Information bietet und viel Desorientierung verursacht. Der tagesaktuelle deutsche Wirtschaftsjournalismus hat als Beobachter, Berichterstatter und Kommentator des Finanzmarktes und der Finanzmarktpolitik bis zum offenen Ausbruch

der globalen Finanzmarktkrise schlecht gearbeitet; Pfusch am Bau nennt man das im Handwerk..." 

Kommunikation beginne nie von vorn...jede, auch öffentliche Mitteilung entspringt aus bestehenden Erwartungen, Hoffnungen und Befürchtungen und trifft auf bestehende Erweartungen, Hoffnungen und Befürchtungen...

Kommunikation ist ein Beziehungsspiel...über dessen Ausgang nicht die Absender entscheiden, sondern die Adressaten.

Man mag seine eigenen Äußerungen für noch so bedeutend halten, wenn ihnen nichts folgt, sind sie bedeutungslos. Und ob etwas folgt, entscheiden die anderen, die Adressaten. 

Alle Kommunikation ist Selektion. Die Forderung nach objektiver Berichterstattung ist Unsinn. Umso mehr Sinn macht die Frage nach den Auswahlkriterien. 

Sehen wir uns also mal die Perspektive einer Redaktion an. Die Öffentlichkeit (Information, Kritik, Kontrolle) setzt sie unter einen Legitimationsdruck. Dann gibt es von außen noch den PR-Einfluß, die PR-Lobby setzt sie unter einen Interessendruck. Dazu kommt die Finanzierungsquelle Werbung, die eine hohe Quote und Auflage will, das setzt die Redaktion unter Unterhaltungsdruck. Und die Finanzierungsquelle Verkauf will geringe Kosten und setzt sie unter Rationalisierungsdruck.  

Im 19. Jahrhundert war noch die ganze Presse von PR dominiert. (Parteien, Verbände, Kirchen etc.) Im 20. Jahrhundert entstanden die Massenmedien, die Parteien, Verbände, Initiativen, Unternehmen lieferten nur noch die Informationen und die Zeitungen wählen aus. Heute wird das Internet immer bedeutsamer.   

Basiswerte der Massenkommunikation 

1. Prominenz: es muß was Bekanntes vorkommen
2. Sensation: die Mitteilung muß was Neues beinhalten 

Attraktionsmethoden der Massenkommunikation 

1. Personalisierung
2. Emotionalisierung (große Gefühle)
3. Dramatisieren (Lieblingsthema Krise)
4. Moralisieren 

Arlt meinte, die Themen sind in den Massenmedien egal, wichtig sind die Reizworte:  

- Familie, Liebe, Sex
- Sieg, Niederlage
- Wirtschaft: arm, reich
- Politik: Macht, Ohnmacht
- Recht: Kriminalität
- Gesundheit: krank, gesund 

Also: reich, mächtig, kriminell, krank, sexy, erfolgreich 

Verhältnisse/ Erwartungsstrukturen produzieren die Verhaltensweisen. Verhaltensweisen produzieren die Verhältnisse/ Erwartungsstrukturen.  

Arlt fragte: Werden Menschen, die sensationsgeil sind, Journalisten? Oder verhalten sich Menschen, die Journalisten wurden, sensationsgeil? (Politiker machthungrig, Sportler siegesdurstig, Manager geldgierig.....) 

In diese Aufmerksamkeitsökonomie kommt die Wertung hinein. Es bilden sich Typen.

- moralisieren: gut, böse
- dramatisieren: Held, Schurke
- emotionalisieren: schön, hässlich
- personalisieren: Gewinner, Verlierer

Dabei gibt es auch interessante Mischungen: schöne Schurkin, böser Gewinner Sterotypen erleichtern die Kommunikation... 

In die Schlagzeilen gerät der öffentliche Mensch nur als Held oder als Schurke, Genie oder Flasche, hochgejubelt oder niedergebrüllt. Attraktionsmethoden wirken in allen massenmedialen Formaten.

Zur Wertung gehört die Aufwertung und Abwertung. Aufgewertet wird z.B. der hart arbeitende deutsche Steuerzahler, abgewertet der Pleite- Grieche.  

Die Politik basiert auf Aufwertung und Abwertung, deshalb ist diese auch in den Medien zu finden.
In einer wertepluralen Gesellschaft gibt es Abwertung und eine Tendenz zur Ausgrenzung.
In einer werterigorosen, fundamentalistischen Gesellschaft gibt es Ausgrenzung und eine Tendenz zur Ausmerzung.  

Abschließend schreibt Hans- Jürgen Arlt in seinem Handout:

"Vor dem Hintergrund der Zumutungen einer selbstverantwortlichen Lebensführung unter Konkurrenzverhältnissen mit permanenten Interessenkonflikten, der Risiken des Scheiterns und des sozialen Absturzes, der Identitätsbedrohungen durch Multikulti und Sinnpluralismus, der luxuriösen Möglichkeiten unverschämten Reichtums der anderen machen Quotenjagd plus Werterigorismus Menschenjagd wahrscheinlich."... 

In der Diskussion nach diesem Teil, in dem es um Abwertungsprozesse bei Wirtschaft, Politik und Medien ging, wurde die Aktivierungspolitik kritisiert. Die einzige Perspektive, die Langzeitarbeitslose hätten, sei Prekarität. "Wir müssen über das Hamsterrad reden." Hans- Jürgen Alt befürwortet das bedindungslose Grundeinkommen. Es ginge darum "Nein sagen zu können". Das sei der Kern der Freiheit.  

In der abschließenden Podiumsdiskussion sagte die Journalistin Hilal Sezgin, dass auf dieser Tagung auch über die Islamfeindlichkeit hätte geredet werden müssen. Die Medien seien Antriebskräfte für diese Islamfeindlichkeit. Sie forderte Medienschaffende auf, Selbstreflexion zu betreiben. Ein Verdi- Vertreter sagte, dass man gegen die Prekarisierung ankämpfen müsse. Arbeit darf nicht arm machen. Menschen werden klein gemacht, die Würde des Menschen müsse im MIttelpunkt stehen. Die Frage des Arbeitsethos müsse angegangen werden. Er kritisierte die paternalistische, autoritäre Herangehensweise gegenüber Hartz IV- BezieherInnen. Wilhelm Heitmeyer wies darauf hin, wie wichtig Anerkennung sei. Es gebe eine verachtende Gleichgültigkeit gegenüber Migranten und der deutschen Unterschicht. Ein Staatssekretär des Brandenburger Ministeriums für Arbeit und Soziales meinte, die Gesellschaft gründe auf Arbeit und am sinnigsten sei die "Beteiligung an Arbeit". Er sei für eine pro-aktive und versorgende Sozialpolitik.  

Ein Kommentar: Was ist überhaupt Arbeit? Welche Arbeit wird in dieser Gesellschaft bezahlt? Viele Hartz IV- BezieherInnen arbeiten, als Ein-Euro-Jobber in Schulen, Seniorenheimen, Kultureinrichtungen etc., als selbständige Aufstocker, Minijobber oder ehrenamtlich in Intiativen, z.B. Obdachlosenhilfe, in Stadtteilinitiativen. Sie kriechen unter den Teppich der Gesellschaft, da wo sonst nicht hingeschaut wird. Sie sind ein Teil der Zivilgesellschaft, die das Leben erträglicher macht. Ist die Arbeit in einem Call-Center etwa sinnvoller, nur weil es der 1. Arbeitsmarkt ist und dort Profit gemacht wird? Eine Debatte um die Arbeitsgesellschaft ist dringend notwendig. Sie steht in engem Zusammenhang mit dem zunehmendem Rechtspopulismus, der sich in Europa ausbreitet.

Editorische Hinweise
Wir
erhielten den Text von der Autorin.