T 4- Aktion zu DDR-Zeiten in Pirna verschwiegen, erst jetzt gibt es eine Gräberstätte
70 Jahre nach der Euthanasie befindet sich auf dem Gelände eine Behindertenwerkstatt

von  Anne Seeck

11/11

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Die "Heil- und Pflegeanstalt Pirna-Sonnenstein" war vor 200 Jahren gegründet worden. Im Nationalsozialismus wurden dort 15 000 Menschen vergast. Zu DDR-Zeiten herrschte in Pirna zu diesen Verbrechen Schweigen. Seit 1991 gibt es auf dem Gelände eine Behindertenwerkstatt der AWO. Wer die Hungerlöhne in Behindertenwerkstätten kennt, kann das alles nur als Skandal ansehen. Erst  seit dem Jahre 2000 gibt es in Pirna- Sonnenstein eine Gedenkstätte. Jetzt soll eine Gräberstätte für 15.000 NS-Opfer eingeweiht werden. Denn die Asche der Opfer wurde von den Nazis den Elbhang hinuntergeschüttet. Wahrscheinlich haben die damaligen Pirnaer "wieder mal von nichts gewusst".  

In Pirna- Sonnenstein fand die T 4-Aktion statt. Bis zum 24. August 1941, als Adolf Hitler vor allem aus innenpolitischen Gründen den sogenannten „Euthanasie-Stop“ erließ, wurden im Rahmen der „Aktion T4“ in Pirna-Sonnenstein insgesamt 13 720 psychisch kranke und geistig behinderte Menschen vergast.  

Die meisten NS- Opfer waren mit grau lackierten Bussen der Tarnfirma "Gemeinnützige Kranken-Transportgesellschaft" aus Krankenhäusern und Heilanstalten nach Pirna gebracht worden. Das mobile Denkmal eines grauen Busses erinnerte von Juni 2010 bis August 2011 in der Pirnaer Innenstadt an die Tötungsaktion. 

Die grauen Busse- ein mobiles Denkmal: http://www.denktag.de/Die-Route.2239.0.html

Der graue Bus ist mittlerweile in Köln: https://syndikalismus.wordpress.com/ 

Zur Geschichte der Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein 

Unter Leitung von Dienststellen der NSDAP und einer speziell geschaffenen Zentrale der Vernichtungsaktion in der Tiergartenstraße 4 in Berlin wurden im Rahmen der sogenannten „Aktion T4“ in den Jahren 1940 und 1941 sechs Tötungsanstalten im Deutschen Reich eingerichtet, in denen mehr als 70 000 psychisch Kranke und geistig behinderte Menschen aus psychiatrischen Einrichtungen, Alters- und Pflegeheimen und Krankenhäusern vergast wurden.  

Eine dieser sechs Tötungsanstalten befand sich in Pirna-Sonnenstein. http://www.deathcamps.org 

Die Aktion Zivilcourage schreibt:

"Im Frühjahr 1940 ließ die Berliner „Euthanasie“-Zentrale in einem abgeschirmtem Teil des Anstaltsgeländes eine Tötungsanstalt einrichten: Im Keller eines Krankengebäudes – Haus C 16 – wurde eine Gaskammer installiert und ein Krematorium eingebaut. Der vier Häuser umfassende Komplex wurde an der Elb- und Parkseite mit einer heute noch weitgehend vorhandenen Mauer, an den übrigen Abschnitten mit einem hohen Bretterzaun umgeben, um die Vorgänge im Innern zu verdecken.

Ende Juni 1940 nahm die Vernichtungsanstalt ihren Betrieb auf. Hier arbeiteten in den Jahren 1940/41 insgesamt etwa 100 Angestellte: Ärzte, Pfleger, Fahrer, Schwestern, Bürokräfte, Polizisten. Mehrmals wöchentlich wurden Patienten aus Heil- und Pflegeanstalten mit Bussen abgeholt und auf den Sonnenstein gebracht. Nach Passieren des von einem Polizeikommando bewachten Eingangstores der Anstalt, wurden die Opfer vom Pflegepersonal im Erdgeschoss des Hauses C 16 – nach Männern und Frauen getrennt – in je einen Aufnahmeraum gebracht. In einem weiteren Raum wurden sie einzeln in der Regel zwei Ärzten der Anstalt vorgeführt, die eine fingierte Todesursache festlegten. Nach der „Untersuchung“ mussten sich die Menschen unter der Aufsicht von Schwestern und Pflegern in einem weiteren Raum entkleiden. Anschließend wurden jeweils 20 bis 30 Menschen unter dem Vorwand, es ginge ins Bad, in den Keller gebracht. Dort wurden sie in die als Duschraum mit mehreren Brauseköpfen an der Decke hergerichtete Gaskammer geführt. Dann schloss das beteiligte Personal die Stahltür zur Gaskammer. Ein Anstaltsarzt kam hinzu, drehte den Gashahn an einer Kohlenmonoxid-Flasche auf und beobachtete den Tötungsvorgang, der etwa fünf Minuten dauerte.

Nach dem Absaugen des Gases wurden die Leichen von Heizern aus der Gaskammer herausgezogen und in zwei Koksöfen verbrannt. Zuvor wurden noch ausgewählte Patienten seziert und vorhandene Goldzähne herausgebrochen. Die Asche der Opfer wurde auf der Anstaltsdeponie abgelagert oder nachts einfach hinter dem Haus den Elbhang hinuntergeschüttet. Das „Standesamt Sonnenstein“ versandte an die Hinterbliebenen eine Sterbeurkunde mit gefälschter Todesursache und einen standardisierten „Trostbrief“. Ermordet wurden auf dem Sonnenstein Frauen und Männer aller Altersstufen und selbst Kinder, unter anderem aus dem „Katharinenhof“ im sächsischen Großhennersdorf und aus der Landesanstalt Chemnitz-Altendorf. Die auf dem Sonnenstein ermordeten Kranken kamen aus Sachsen, Thüringen, Schlesien und Teilen Bayerns. Bis zum 24. August 1941, als Adolf Hitler vor allem aus innenpolitischen Gründen den sogenannten „Euthanasie-Stop“ erließ, wurden im Rahmen der „Aktion T4“ in Pirna-Sonnenstein insgesamt 13 720 psychisch kranke und geistig behinderte Menschen vergast.

Im Sommer 1941 wurden dann zusätzlich mehr als tausend Häftlinge aus Konzentrationslagern im Rahmen der „Aktion 14f 13“ in Pirna-Sonnenstein ermordet. Zu diesem Zeitpunkt verfügten die Lager noch nicht über eigene Gaskammern. Das Ausmaß der Häftlingstransporte nach dem Sonnenstein ist noch nicht vollständig bekannt. Belegt sind Transporte aus den Konzentrationslagern Sachsenhausen, Buchenwald und Auschwitz. An der Massenvergasung von fast 600 Häftlingen des KZ Auschwitz Ende Juli 1941 zeigt sich der Übergang zu einer neuen Dimension der Verbrechen.

In der ersten Hälfte des Jahres 1942 wurden in Ostpolen Lager zur Vernichtung der polnischen Juden eingerichtet, die auf die Erfahrungen der „Aktion T4“ zurückgreifen konnten. Etwa ein Drittel der Mitarbeiter der Tötungsanstalt Sonnenstein wurden in den Jahren 1942 und 1943 in den Vernichtungslagern Belzec, Sobibor und Treblinka eingesetzt.

Im Laufe des Sommers 1942 wurde die „Euthanasie“-Anstalt Sonnenstein aufgelöst. Die Gaskammer und das Krematorium wurden abgebaut. Nach sorgsamer Verwischung der Spuren der Verbrechen wurden die Gebäude seit Ende 1942 als Wehrmachtlazarett genutzt."

Auch der Bundesverband Psychiatrieerfahrener beschäftigt sich mit den Euthanasie-Opfern. Sie schreiben:

"Von 1939 bis ´48 wurden in Deutschland schätzungsweise 300.000 psychiatrische Gefangene systematisch ermordet. Die Morde fingen mit der sogenannten "Aktion T4" an, die von 1939 bis1941 dauerte. Insgesamt wurden mindestens 275.000 (nach Angaben der Nürnberger Prozesse) in der Zeit von 1939 bis 1945 - dem Ende des Nazi Regimes - ermordet. Aber die Morde durch systematisches Verhungernlassen in den psychiatrischen Gefängnissen in Deutschland wurde bis 1948/49 fortgesetzt, so dass noch 25.000 Opfer zu der in den Nürnberger Prozessen gegebenen Zahl hinzugefügt werden müssen."  http://www.psychiatrie-erfahren.de/lesung-bilder.htm

Hier eine Arbeit zu den Kontinuitäten der (Zwangs-)Psychiatrie.
Eine kritische Betrachtung: http://www.irrenoffensive.de 

Zu DDR-Zeiten weitestgehend verschwiegen wurde die T 4- Aktion in Pirna- Sonnenstein.  

Im Sommer 1947 fand ein Dresdner Ärzteprozess statt, in dem wurden einige der Beteiligten an der Mordaktion auf dem Sonnenstein zur Verantwortung gezogen. Dabei verurteilte das Dresdner Schwurgericht Prof. Hermann Paul Nitsche, der vom Frühjahr 1940 an einer der medizinischen Leiter der Krankenmordaktion im Deutschen Reich gewesen war, sowie zwei Sonnensteiner Pfleger zum Tode. 

Hier die Biographie von Hermann Paul Nitsche: http://de.wikipedia.org/wiki/Hermann_Paul_Nitsche  

Nach dem Ärzteprozess wurde in Pirna kaum noch über die hier verübten Verbrechen gesprochen. Diese Verbrechen im Nationalsozialismus wurden über vier Jahrzehnte verdrängt und weitgehend verschwiegen, obwohl die DDR sich als antifaschistischen Staat bezeichnete. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges waren hier bis 1949 Flüchtlingslager, Quarantänelager für entlassene Wehrmachtsangehörige, Teile des Landratsamts und eine Polizeischule (bis 1954) untergebracht. Dann wurde das Gebäude der Tötungsanstalt von einem von der Öffentlichkeit abgeschirmten Großbetrieb genutzt. Von 1954 bis 1991 wurde ein großer Teil des Geländes überwiegend betrieblich vom Strömungsmaschinenwerk zum Bau von Flugzeugturbinen verwendet. 1977 wurde das „Kreisrehabilitationszentrum Pirna“ im Schlossbereich eingerichtet. 1991 ging daraus die Werkstatt für behinderte Menschen in Trägerschaft der Arbeiterwohlfahrt hervor. 

Heute eine Behindertenwerkstatt der AWO auf dem Gelände 

Sie schreiben: "Die modernen Pirnaer Werkstätten mit Arbeits- und Betreuungsangeboten sind unsere Antwort auf die besondere Verantwortung, die uns wie der ganzen Gesellschaft auferliegt".: http://www.awo-sonnenstein.de/ 

Die "Löhne" in Behindertenwerkstätten 

Im Berufsbildungsbereich beträgt das Ausbildungsgeld einheitlich ca. 73 Euro. Der Lohn im Arbeitsbereich ist gesetzlich geregelt. Die Werkstatt muss mindestens 70% des durch Arbeit erwirtschafteten Geldes an die die Werkstattmitarbeiter ausschütten. Nach welchen Kriterien die Löhne in der Werkstatt berechnet werden, ist frei gestellt, der Mindestlohn für jeden Mitarbeiter sind 73 Euro. 

In der Deutzer Erklärung von 2006 heißt es: Seit 2003 sinkt das Arbeitsentgelt der Werkstattbeschäftigten. Es betrug 2004 im Bundesdurchschnitt 154,36 Euro im Monat. Damit arbeiten Menschen mit Behinderung in Werkstätten für einen Hungerlohn, der einem Taschengeld gleichkommt. Das ist ein Skandal!  

Die Deutzer Erklärung: http://www.bvkm.de/ 

Ein Gehaltsvergleich mit einem Leiter einer Behindertenwerkstatt:

DIE STELLE

BERUF: Heimleitung / Pflegedienstleitung
TÄTIGKEIT: Leiter Behindertenwerkstatt
HIERARCHIEEBENE: fachliche Mitarbeiterführung mit Budget

DER STELLENINHABER
ALTER: 56 Jahre
AUSBILDUNG: Diplom FH
ARBEITSSTUNDEN: 45.0
DER ARBEITGEBER
BRANCHE: Soziale Einrichtungen
FIRMENGRÖSSE: 21 - 50 Mitarbeiter

DAS GEHALT Leiter Behindertenwerkstatt (JAHRESBRUTTO) Grundgehalt: 42.000 € Überstunden: 0 € Prämien/Tantiemen: 1.500 € Betriebliche Altersvorsorge: 0 € Sonstige Leistungen: 0 € Gesamtgehalt: 43.500 € Firmenwagen: 0 € 

Das heißt also, der Leiter einer Behindertenwerkstatt bekommt monatlich ca. 3600 Euro, der Behinderte einen Mindestlohn von 73 Euro bzw. oftmals Lohn in der Höhe eines Ein-Euro-Jobs (ca.180 Euro).  

In einem Internetforum schreibt jemand zu einer Behindertenwerkstatt:

"Ein Freund von mir arbeitet seit 1,5 Jahren in einer sogenannten Behindertenwerkstätte (HWK Karlsruhe).

Er arbeitet dort mit anderen seelisch beinträchtigten Menschen 5,5 bis 6h am Tag als Landschaftsgärtner, Florist und Gärtner. Geistig Schwerbehinderte werden von der HWK auch in Verpackungs- und Lagerjobs (z.B. für L`Oreal) eingesetzt.

Die Aufträge erfolgen durch Firmen und werden regulär berechnet, zweieinviertel Jahre erhält er für diese Tätigkeit lediglich 70,- zusätzlich im Monat zur Grundsicherung (Hartz-4-Satz).

Leistungen der HWK beschränkten sich bislang auf Chauffiersdienste zur Arbeitsstelle und zurück, zugesagte Beratung beschränkt sich auf Platitüden a la "ihr seid ja alle behindert und könnt froh sein überhaupt arbeiten zu können" und dem wertvollen Hinweis, den Hausarzt aufzusuchen.

Anstelle von "Beratung und Betreuung", für die die dortigen Mitarbeiter ohnehin nicht ausreichend qualifiziert wären, gibt´s Druck und emotionale Erpressung - "die Kollegen schaffen den Auftrag sonst nicht".

In der HWK ist mein Freund auf dem Dauerabstellgleis - und die HWK verdient daran.

Das Ganze ist zwar als gemeinnützige GmbH aufgezogen, es mag ja auch sein dass es für einige der schwerer Beeinträchtigten eine Möglichkeit zur Teilhabe am Leben darstellt, aber damit kann doch nicht der ganze Zweck dieser Organisation erfüllt sein, zumal die ja auch nach ihren Möglichkeiten eingesetzt und ausgenutzt werden?

Wisst ihr von irgendwelchen Initiativen, Organisationen oder dergleichen, die so eine mehr oder weniger dauerhafte (nach den 2,25 Jahren erfolgt eine Einstufung nach Tauglichkeit bis zu maximal 400,- Zuverdienst je nach Qualifikation) Abzocke beobachten, dokumentieren und im Bedarfsfall anfechten?"

Einweisung von Hartz IV- BezieherInnen in Behindertenwerkstätten: http://www.gegen-hartz.de/           

Ausbeutung von Burn-Out-Kranken in wirtschaftsgesponserten Behindertenwerkstätten http://www.chefduzen.de/

Zu Zuverdienstfirmen für Psychiatriebetroffene u.v.m. hier ein Artikel von mir: http://www.trend.infopartisan.net/trd1210/t101210.html 

Seit 2000 befindet sich außerdem eine Gedenkstätte auf dem Gelände:  

Erst im Herbst 1989 drang das Geschehen in das öffentliche Bewusstsein der Stadt. Am 1. September 1989 wurde im evangelischen Gemeindezentrum eine Ausstellung des Historikers Götz Aly zur „Aktion T4“ eröffnet. In der Folge entstand eine Bürgerinitiative zur Schaffung einer würdigen Gedenkstätte für die Opfer der „Euthanasie“-Verbrechen auf dem Sonnenstein. Im Juni 1991 konstituierte sich das Kuratorium Gedenkstätte Sonnenstein e.V. 1992-1994 fanden Forschungen statt, seit 1995 wurde die Gedenkstätte dann rekonstruiert. Seit dem 9.Juni 2000 gibt es eine ständige Ausstellung. 

Die Gedenkstätte: http://www.stsg.de/cms/pirna/geschichte/ns-verbrechen_in_pirna  

Buchhinweise:

Im Jahre 2010 erschien ein Buch zur T 4-Aktion in Pirna- Sonnenstein:

  • "Die Rolle der Krankenpflege im Nationalsozialismus am Beispiel der "T4"-Aktion in der Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein (1940-1941)"

  •  "Im Sammeltransport verlegt" - Die Einbeziehung der sächsischen Kranken- und Behinderteneinrichtungen in die "Aktion T4" (2005 erschienen)

Editorische Hinweise
Wir erhielten den Text von der Autorin für diese Ausgabe.