Texte
zur antikapitalistischen
Organisations- und Programmdebatte

11/11

trend
onlinezeitung

Es gibt einen Überblick über alle bei TREND 2011 veröffentlichten Texte zur Debatte über Organisation und Programm, angeregt durch die "Sozialistische Initiative Berlin" (vormals Berlin-Schöneberg)

Links“radikale“ Politiksimulation und Probleme,
die für sie keine sind

von  Meinhard Creydt

„Wissen, was man sagt, ist viel seltener, als man meint, und es ist mit dem  allergrößten Unrecht, dass die Anschuldigung, nicht zu wissen, was man sagt, für  die härteste gilt“ (Hegel). 

Was bekannt ist, ist meist gerade deshalb nicht erkannt. Dies gilt besonders für Probleme, die vielen Links“radikalen“ nominell – wenigstens „irgendwie“ – bekannt sind, ihnen nicht wirklich als Probleme gelten, sich ihnen aber dessen ungeachtet faktisch stellen. Bei diesen Problemen handelt es sich u. a. um die Priorität der außerparlamentarischen Aktivitäten (1), den Inhalt der Sozialismusperspektive (2) und den Unterschied zwischen dem vorherrschenden Alltagsbewusstsein und der aufgrund seiner Grenzen notwendigen Erkenntnisarbeit (3).  

1) Viele „radikale“ Linke betonen die Priorität des außerparlamentarischen Kampfes, wissen aber augenscheinlich nicht so recht, was sie damit sagen. So auch die Berliner Initiative für linksradikale Schlesiertreffen (SIB) um Michael Prütz. Unsere Vertriebenen („Seit 1992 ist meine politische Heimat (!) die PDS“, so Prütz – wie immer vollmundig – auf der Website der PDS-Berlin 2001) schaffen es, zwei entgegengesetzte Gedanken zusammenzubringen, ohne auch nur den Gegensatz zu bemerken. Einerseits das für einen guten Linksradikalen obligatorische Bekenntnis zur Priorität des außerparlamentarischen Kampfes, andererseits die Bewunderung für die französische Organisation NPA (Neue antikapitalistische Partei). Der Kandidat der in der NPA aufgegangenen LCR hatte bei den letzten Präsidentschaftswahlen in der ersten Wahlrunde ca. 4% der Wählerstimmen erhalten. Den Berichten von Martin Suchanek 2010 bzw. Pierre Mabout und Alex Lantier 2010 zufolge legte sich die NPA 2010 in einer internen Debatte lahm, die die Regionalwahlen zum Thema hatte.[1] Das Thema des Vorgehens in der Wahlkampagne und der nicht endenwollende interne Streit darum nahmen einen Stellenwert ein, der für eine linke Politik, die weiß, was Stand- und Spielbein ist, unangemessen groß ausfiel. Die Konzentration der Aufmerksamkeit auf die Regionalwahlen ist etwas anderes als eine Politik, die dort Basisarbeit vorantreibt, wo die Menschen arbeiten.  

Das Votum für das Primat des außerparlamentarischen Kampfes bei Prütz und Schilwa passt  auch nicht zu ihrer Betätigung 2006 bei der WASG-Kandidatur in Berlin. In der Zeitschrift Arbeiterpolitik, 48. Jg., 2007,  Nr. 2, hieß es zur Berliner WASG-Kandidatur  treffend:

 „Die WASG trat mit dem Anspruch an, der parlamentarische Repräsentant der sozialen Bewegungen in der Stadt sein wollen. Doch die kräftezehrenden innerparteilichen Auseinandersetzungen und die nur auf wenige Mitglieder gestützten Wahlaktivitäten, ließen den Aktiven kaum Zeit, in den bestehenden sozialpolitischen Zusammenhängen weiter zu arbeiten. Sowohl das Berliner Bündnis gegen Privatisierung wie auch die Sozialbündnisse mussten ihre Arbeit zeitweise einschränken, weil viele ihrer Aktivisten ihre gesamte freie Zeit der Unterstützung des Wahlkampfes der WASG widmeten.

Ein weiteres Hemmnis für die Außendarstellung der Partei war, dass sie über keinerlei programmatische Identität verfügte. Das Wahlprogramm bestand aus einem Sammelsurium

von Einzelaussagen, die alle nur ein Ziel besaßen, eine Gegenposition zur PDS zu formulieren. Dies reichte zwar aus, eine Vielzahl von Linken für eine Stimmabgabe zugunsten der WASG zu mobilisieren, die in den letzten Jahren angesichts der staatsintegrativen Politik der PDS nicht mehr zur Wahl gegangen waren oder ungültig gestimmt hatten. Um aber in das Spektrum der der unzufriedenen Wähler von PDS

und SPD eindringen zu können, war dies zu wenig. Viele inhaltliche Fragen blieben ungeklärt. Ebenso war nicht klar, welche Ausrichtung die WASG Berlin über den Wahltag hinaus annehmen würde: Wollte sie eine Wahlpartei bleiben, die trotz vieler inhaltlicher Bedenken letztlich auch in Berlin mit der PDS fusionieren (dem Vereinigungsprozess bundesweit hatte sie ja unterstützt) würde oder zielte sie darauf, den Kern einer neuen linken Partei zu bilden, die bundesweit eigenständig auftreten wollte?“ 

Wie beim WASG-Engagement von Prütz und Schilwa 2006, so auch heute. Die von ihnen angekündigte Veranstaltung „Geht was links von der Linken?“ drückt es aus: Sie haben nicht eine eigene Substanz an Basisarbeit und Erkenntnisarbeit, sondern definieren sich subaltern – in Abgrenzung und d.h. negativ abhängig von einer anderen Organisation. Als Dissidenten, Vertriebene oder Trittbrettfahrer.  

2) Viele Linke  tragen die sozialistische Perspektive wie eine Monstranz vor sich her. Sie stellen sich nicht argumentativ der einschlägigen Gegenposition. Ihr zufolge ist  „der Begriff des ‚Sozialismus’ als eine umfassende Strukturformel für eine Gesellschaftsordnung verwirklichter Emanzipation heute (und nicht erst seit heute) operativ leer“ (Offe 1989). 

Wer diese These widerlegen wollte, müsste, so Claus Offe,

„immerhin den folgenden Feststellungen Punkt für Punkt widersprechen können:
Wir wissen nicht, wie die politischen und ökonomischen Institutionen des Sozialismus beschaffen sind;
selbst wenn wir es wüssten, bliebe der Weg zu ihnen unbekannt;
selbst wenn der Weg bekannt wäre, wären relevante Teile der Bevölkerung nicht bereit, ihn zu beschreiten;
selbst wenn sie es wären, bestünde nicht die zureichende Gewähr dafür, dass der dann etablierte Zustand funktionsfähig und gegen Regressionen immun wäre;
selbst wenn auch das der Fall wäre, bliebe noch immer ein großer Teil der heute politisch thematisierten Gesellschaftsprobleme ungelöst“
(Offe 1989)

Eine ähnliche These hat auch schon Karl Korsch formuliert:

„Es wird einer späteren Generation höchst merkwürdig vorkommen, mit einer wie einfachen Formel der Sozialismus unserer Tage auskommen konnte und wie viele verschiedene und teilweise gegensätzliche Bestrebungen sich unter dieser einen Formel zusammenfanden. ‚Vergesellschaftung der Produktionsmittel’ lautet die einfache Formel, mit welcher der Sozialismus bisher gearbeitet hat und mit welcher er in Deutschland voraussichtlich noch längere Zeit auskommen wird: die gemeinsame Formel für Staatssozialisten, Syndikalisten, Genossenschaftler und mannigfache andere Richtungen.

Fragt man einen Sozialisten, was er unter ‚dem Sozialismus’ versteht, so wird man als Antwort im besten Falle eine Schilderung ‚des Kapitalismus’ erhalten, und die Bemerkung, dass ‚der Sozialismus’ diesen Kapitalismus durch die Vergesellschaftung der Produktionsmittel  beseitigen werde. Aller Nachdruck liegt dabei auf dem Negativen, dass der Kapitalismus beseitigt werden soll; auch der Ausdruck ‚Vergesellschaftung der Produktionsmittel’ bedeutet zunächst weiter nichts als die Verneinung des Privateigentums an Produktionsmitteln. Sozialismus bedeutet Antikapitalismus. Der Begriff ‚Vergesellschaftung der Produktionsmittel’ hat einen klaren negativen Sinn; nach der positiven Seite hin ist er leer und nichtssagend“ (Korsch 1912).

Artikel, in denen ich zu einer Debatte beitrage, die sich der mit Offe und Korsch skizzierten Position stellt, sind: Creydt 2001, 2005, 2006, 2008.[2] Diese Texte finden sich auch auf www.meinhard-creydt.de unter der Rubrik „Nach dem Kapitalismus“. 

3) Michael Prütz drückt in seltener Offenherzigkeit die für viele linke Betriebsamkeit einschlägige Wurstigkeit in Bezug auf die Verarbeitung eigener Fehler aus. Auch seine  Ahnungslosigkeit in Bezug auf den Unterschied zwischen dem Alltagsbewusstsein und der aus seinen Grenzen notwendigen Erkenntnisarbeit artikuliert eine weit verbreitete Mentalität:

„Ich habe so ziemlich alle Kampagnen von Vietnam bis Agenda 2010 mitgemacht. Rückblickend würde ich 50 % meiner politischen Tätigkeit für falsch halten. Aber so ist das Leben. Man lernt immer dazu.“

Ausgerechnet in einem „Interview“, in dem es um seine Bemühungen um die Organisierung einer politischen Avantgarde geht, unterscheidet Prütz nicht zwischen einem „Leben“, in dem man (reichlich optimistisch) meint, aus Fehlern „immer“ lernen zu können, und einer politischen Avantgarde. Wozu sollte sie schon gut sein, wenn nicht dafür,  diese Fehler  – die eben nicht nur Lernen, sondern auch Enttäuschung, Demoralisierung und  Resignation veranlassen –  nach Möglichkeit zu vermeiden oder deren Wahrscheinlichkeit zu verringern? Anders der politische Betätigungsdrang. Er will überall mitmischen („Von Vietnam bis Agenda 2010“) und s i c h betätigen. Seine Maxime sind: „On s’engage, et alors on voit“ und. „Schauen wir mal, dann sehen wir schon!“

Die Sätze „Aber so ist das Leben. Man lernt immer dazu“ sind Unfug. Schuldvorwürfe gegen andere bilden ein weit verbreitetes Beispiel für die Verarbeitung der Erfahrung, dass das Angestrebte sich nicht eingestellt hat. Auch Fortsetzungsverhalten ist ein zu oft anzutreffendes Phänomen, als dass „Lernen“ als Regelfall in der Erfahrungsverarbeitung gelten kann. Marx analysiert in seinen Schriften zum ‚Kapital’ die vielfältigen Mystifikationen, die Lernen im emanzipatorischen Sinne gerade verstellen.  

Dass Warenfetisch, Geldfetisch, Kapitalfetisch, Mystifikationen des Profits und der Oberfläche der drei Einkommensquellen (Kapital, Arbeit, Boden) ein Gefüge von „objektiven Gedankenformen“ (MEW 23, 90) bilden, das vielerlei Klagen, Beanstandungen und Kritik absorbiert – das ist für viele Linke kein Thema. Dem vorherrschenden Alltagsbewusstsein im Kapitalismus „erscheinen diese Verhältnisse um so selbstverständlicher, je mehr der innere Zusammenhang an ihnen verborgen ist“ (MEW 25, 825). Marx konstatiert es als „natürlich, dass die wirklichen Produktionsagenten in diesen entfremdeten und irrationellen Formen … völlig zu Hause fühlen, denn es sind eben die Gestaltungen des Scheins, in welchem sie sich bewegen und womit sie täglich zu tun haben“ (MEW 25, 885). „Es ist also nicht der Mensch, der sich selbst über die Realität täuscht, es ist die Realität, die ihn dadurch täuscht, dass sie unvermeidlich in einer Form erscheint, die sich dem spontanen Bewusstsein der in der Geschäftswelt lebenden Menschen auf verdrehte Weise zeigt und verbirgt“ (Godelier 1977).[3]

Nicht erst kapitalistische, sondern bereits moderne Gesellschaftsstrukturen überfordern den Alltagsverstand. Dietrich Dörner zeigt in „Die Logik des Misslingens“, wie Versuchspersonen bei Planspielen in komplexen Situationen gerade aus Misserfolgen nicht lernen, sondern lediglich hilflos zwischen Variationen i n n e r h a l b ihrer jeweiligen unterkomplexen Strategie wechseln.  Die in den ‚realsozialistischen’ Staaten betriebene Planung warf die Frage auf, wie sich der eigene Verstand hinreichend komplex strukturieren lässt, dass Entscheidungsituationen adäquat aufgefasst werden können. „Die Welt ist komplex. Es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass sie gleichsam aus freien Stücken den Planern mitteilte, wann ein bestimmter Entscheidungstyp inadäquat wird. Die Annahme, dass (im Doppelsinne:) entscheidende Fehler in Komplexität als solche erfahren werden, kann selbst unterkomplex werden, da sie die Effektivität des Rückkoppelungsmechanismus zu überschätzen droht... Kurz: eine adäquate Definition der Problemsituation ist selbst problematisch, ‚die roten Lichter’ –  wie Franz Janossy, ein langjähriger Mitarbeiter des ungarischen Planbüros dies einmal ausdrückte –  ‚leuchten nicht von selbst auf’“ (Masuch 1981).

Man kann nicht wie Prütz beides haben wollen: Einerseits sich anspruchsvoll anschicken, eine A v a n t g a r d e organisation gründen zu wollen, die anderen voraus ist, andererseits sich auf ein genügsames Bewusstsein herausreden, das sich scheinbar bescheiden sagt: „H i n t e r h e r ist man i m m e r schlauer“. Nur scheinbar bescheiden ist dieser Spießerspruch insofern, als er sich gegen Kritik immunisiert und ein Wissen ausschließt, das seinen Horizont infragestellt, und es als elitär denunziert. Dieses Ressentiment gegen Erkenntnisarbeit ist dann auch prompt in der Debatte vorgebracht worden. Es ist für jenen politikanten Betätigungsdrang charakteristisch, der ob seiner eigenen Betriebsamkeit mit sich zufrieden ist. 

Prütz stilisiert die Existenz einer politischen Betriebsnudel, die bei allem dabei war, als Lernprozess, bei dem „immer“ etwas Positives herauskommt. Um die Erwartungen zu dämpfen spielt er leutselig auf die Devise „Irren ist menschlich“ an. Wenn Prütz davon spricht, 50% seiner i h m als politisch geltenden Betriebsamkeit seien falsch gewesen, dann versteht e r das nicht als Selbstkritik. Vielmehr offenbart sich auch hier wieder, dass er nicht so recht weiß, was er daherredet. Wenn 50% der Prützschen Geschäftigkeit bereits von ihm als falsch bezeichnet werden, dann heißt das doch günstigenfalls: Die andere Hälfte seiner trubeligen Rödelei war nicht falsch. Das Ergebnis von 40 Jahren „Mitgemacht“haben lautet dann bestenfalls: Null. Das Falsche und das Nichtfalsche heben sich auf.  Wenn man immer noch ziemlich milde, aber schon etwas realistischer annimmt, dass 50% falsch, 30% ohne jedes Ergebnis und 20% nicht falsch sind, fällt die Bilanz von 40 Jahren Aktivismus negativ aus.  

Selbstgenügsam und selbstzufrieden wie sie sind, tun Prütz und Co so, als seien Form und Inhalt unterschieden und bilden sich etwas auf die lockere Machart ihrer Texte ein. Tatsächlich entspricht – wie an den zitierten vier Prützsätzen exemplarisch gezeigt –  die Form (oder das lose Gerede) dem beliebigen, weil undurchdachten Denken, das ihr Inhalt ist. 

Der bei vielen aktivistischen Linken verbreiteten Aversion gegen Erkenntnisarbeit entspricht ein Vorgehen, das sich dem unterkomplexen bzw. mystifizierten Alltagsverstand anpasst. Auf s e i n e m Terrain möchte man mit scheinbaren (Gegen-)Evidenzen („W i r zahlen nicht für E u r e Krise!“) punkten. Solch begriffsloser Aktivismus ignoriert: Begreifen ist „paradox und der alltäglichen Beobachtung widersprechend. Es ist ebenso paradox, dass die Erde um die Sonne kreist und dass Wasser aus zwei äußerst leicht entflammenden Gasen besteht. Wissenschaftliche Wahrheit ist immer paradox vom Standpunkt der alltäglichen Erfahrung, die nur den täuschenden Schein der Dinge wahrnimmt“ (MEW 16, 129). Die dem Alltagsverstand vertrauende Linke, die  ihren Gegensatz gegen die gesellschaftlichen Zustände einerseits behauptet, andererseits nicht aushält und sich den Alltagsverstand scheinbar eingemeindet, ereignet sich eine folgenschwere Verkehrung. Diese Linken meinen den mystifizierten Alltagsverstand für sich benutzen zu können, er infiziert derweil unerkannt die inhaltliche Substanz dieser Linken. Ihnen ist der Gegensatz zwischen dem mystifizierten Alltagsverstand und der Erkenntnisarbeit kein Thema. Ungestellt bleibt die Frage, was die Bruchstellen der Logik des mystifzierten Alltagsverstands sind. Um diese Frage zu bearbeiten, müsste man sich erstmal klarmachen, dass das mystifizierte Alltagsbewusstsein einen inneren Zusammenhang aufweist. „Die Kategorien bilden ein Netzwerk; einzeln ist ihnen nicht beizukommen. Sie gleichen darin der Anlage einer Stadt. Sie schreiben Wege vor, blockieren hier eine Richtung, kanalisieren dort eine andere: ihr Ensemble stellt ein Geflecht von Artikulationsmöglichkeiten dar.“ Das sich selbst als souverän vorstellende Subjekt bewegt sich i n diesen Netzen, „wir dis-kurrieren darin, laufen hin und her in diesem Netz“ (Haug 1993).

Wolfgang Schaumberg, jahrzehntelang für die „Gruppe Oppositionelle Gewerkschafter“ im Betriebsrat bei Opel Bochum, zeigt in seinem Text „Bekenntnishafte Leerformeln“ (in: Express 2/2005), wie nutz- und erkenntnislos die Agitation und Propaganda vieler linker Gruppen vor den Betriebstoren ausfällt. „Mit solch schnell hingeschriebenen Sätzen … machen wir uns eher lächerlich.“ (vgl. http://www.labournet.de/branchen/auto/gm-opel/bochum/streik04ws.html). Ich zeige andernorts, wie das bei vielen Linken beliebte Hantieren mit scheinbaren Evidenzen wie „ungerecht“ und „undemokratisch“ an der inneren Logik von Gerechtigkeit und Demokratie im Kapitalismus aufläuft und ihr nicht gewachsen ist (vgl.: „Das Elend der Gerechtigkeit“ in Streifzüge (Wien) 2005, H. 34; „Demokratie als Form“ in Streifzüge 2007/08, H. 41, 42). In vieler linker Agitation und Propaganda findet sich wenig argumentative Auseinandersetzung mit dem  – bei allem vorhandenen Gemurre über Opfer und Zumutungen – dominanten Bewusstsein von der sachlichen Unausweichlichkeit und vergleichsweise hohen Effizienz des Kapitalismus.

4) Das Prützsche Diskussionskränzchen begibt sich auf Suche nach Gleichgesinnten. In ihrer Welt der Taktiken und Strategien befangen (man zerstreitet sich eben auch beim großen Vorbild NPA über mögliche Taktiken und Strategien für mögliche Bündnisse und Zusammenarbeitskonstellationen) begreifen sie nicht, dass es natürlich auch den anderen, die sich an ihren verstiegenen Planspielchen (z. B.: Wie schaffen wir die „Einheitsfront von oben“?) interessiert zeigen, nicht um notwendige Klärungen und wirkliche Basisarbeit geht, sondern um Gelegenheiten für eigene Propaganda und um die Aussicht auf eine „Umgruppierung“ innerhalb der gegebenen, überschaubaren „Masse“ der Politikanten.  

All die Treffen, die unsere Politstrategen unter ihresgleichen anstrengen, bilden keine neue Substanz (in der Basisarbeit und in der Erkenntnisarbeit), sondern verlieren sich in einem Nullsummenspiel der Verteilungskämpfe unter den verschiedenen Fraktiönchen. Meist endet diese unproduktive Distributionskonkurrenz im Hader der betrogenen Betrüger, die sich gegenseitig vorwerfen, es nicht ernst gemeint, also nicht selbst an das wahrhaftig geglaubt zu haben, was sie taktisch als Köder auswarfen, an dem der Fisch anbeißen sollte. Realsatire pur sind die wichtigmeierischen Kommuniqués, die von der vermeintlichen Annäherung zwischen Prützens Kränzchen und einer anderen Miniorganisation in einer Weise künden, als ob es sich um politische Schwergewichte handele. 

Andere Unterstützer seines Kränzchens sind bislang nicht ganz so markant in ihren Beiträgen zur Realsatire wie Prütz, bemühen sich aber redlich. Ein Horst Hilse tut sich neben seinen psychologisierenden Ressentiments gegen die (aus den Grenzen des Alltagsverstandes) notwendige Erkenntnisarbeit vor allem durch Forderungen nach linkem „Saalschutz“ hervor („Sozialistische Zeitung“ 9/2011). Und Detlef Georgia Schulze legt einen genau ausgearbeiteten Fahrplan zur Gründung der Organisation inklusive exakt quotierter Kommission (Alter, sexuelle Orientierung u. a.) vor. Bemerkenswert ist auch Schulzes Wunsch, es wäre doch schön, wenn es heute eine Organisation gäbe, die genauso stark ist wie GIM oder KB in den 1970ern oder am besten GIM und KB zusammen. Wenn es das damals gab, warum sollte das nicht auch heute möglich sein, so Schulzes Einfall. Das sagten sich auch schon die MLer Anfang der 1970er Jahre in Bezug auf die KPD der Weimarer Republik. Auf so etwas muss man erstmal kommen. Solche konjunktivischen Erwägungen („Wenn doch der Mond nur aus Käse wäre, wie reizvoll könnte es ein, ihn sich aufs Brot zu schmieren“) tragen zur Klärung der Situation ungefähr genau so viel bei wie die Sehnsüchte einer Kinderseele nach dem Weihnachtsmann. Prütz und Schulze verhalten sich zu Politik wie das Kind, das die Hände hinter dem Rücken verschränkt und mit gewichtiger Miene den Kopf in Denkerpose wirft. Das Kind s p i e l t Denken, unsere Vertriebenen spielen Politik. Aber warum auch nicht: Für eine erfüllte Kindheit ist es nie zu spät. 

Die im Umfeld der Titanic-Redaktion beheimatete „Partei“ („Partei für Arbeit, Rechtsstaat, Tierschutz, Elitenförderung und basisdemokratische Initiativen“) brachte zuletzt im Berliner Wahlkampf 2011  bewusst und mit viel Witz manches Negative an den etablierten Parteien auf den Punkt („Überwindung der Inhalte“). Prütz&Co. unternehmen unfreiwillig und witzlos die pädagogisch-kathartisch vielleicht sinnvolle, aber gewiss undankbare Aufgabe, manche Absurditäten der „radikalen“ Linken zur Reinform zu steigern und als Possenspiel aufzuführen. 

Dass Schwadroneure, Illusionisten und Betriebsnudeln auch in linke Organisationen hineindrängen, ist eine sattsam bekannte Erfahrung. Neu ist, dass sie gleich den K e r n einer zu gründenden Organisation bilden wollen. E i n e Satirepartei, die zudem weiß und kann, was sie will, reicht völlig.    

PS: Die Rede von „Links r a d i k a l e n“ ist unaufmerksam gegenüber dem Unterschied zwischen radikal und extrem:

„Es ist in der Tat meine Meinung, dass das Böse niemals ‚radikal’ ist, dass es nur extrem ist …  Es kann die ganze Welt überwuchern und verwüsten, eben weil es sich wie ein Pilz auf der Oberfläche ausbreitet. Es ist ‚resistent gegen den Gedanken’ … , weil der Gedanke danach strebt, Tiefe zu erreichen, an die Wurzel zu gehen“ (Hannah Arendt in einem Brief an Gershom Scholem).

Ich spreche insofern nicht von „Links e x t r e m e n“, als dieser Ausdruck durch seine verfassungsschützerische Verwendung festgelegt zu sein scheint.

Anmerkungen

[1] Martin Suchanek: Wohin treibt die NPA? In: http://www.linkezeitung.de  Pierre Mabut, Alex Lantier: Frankreich – Neue Antikapitalistische Partei denkt über Regierungsbeteiligung nach. In wsws (world socialist web site) 5.8.2010 

[2] Artikel von mir zum Thema „nachkapitalistische Gesellschaftsstrukturen“:

- Partizipatorische Planung und Sozialisierung des Marktes. Aktuelle Modelle in der angelsächsischen Diskussion. In: Widerspruch (Zürich), Bd. 40, 2001. Andere Varianten in: Marxistische Blätter 3/2001, Volksstimme Nr.  45/2000 (Wien), Berliner Debatte Initial Nr.3/ 2001

- Kibbuz und nachkapitalistische Sozialstrukturen. In: Streifzüge Nr. 35, November 2005, Wien; Sozialistische Hefte, Nr. 9, Köln, 2005, Graswurzelrevolution, Nr. 305, 34. Jg., Münster 2006; Contraste Nr. 257, 23. Jg., Heidelberg

- Die Überwindung des Weltmarkts. In: Bruchlinien Nr. 17, 5. Jg., Wien 2006

- Die Befreiung der Arbeit. In: Utopie kreativ Bd. 7/8 2006

 - Die Einhegung des ‚Egoismus’. Die Überwindung von Handlungskontexten und Konflikten, welche eine Vorteilsnahme zulasten anderer nahe legen. Verschiedene Varianten in: Perspektiven des demokratischen Sozialismus. 25. Jg., 2008, H. 2 und  Berliner Debatte Initial 20.Jg. 2009, H. 1 

[3] Die „Ausdrücke ‚Erscheinung’ und ‚Oberfläche’ selbst stellen ein Problem dar. Erscheinungen können etwas konnotieren, das ‚falsch’ ist, Oberflächenformen scheinen nicht so tief zu gehen wie ‚Tiefenstrukturen’. Diese sprachlichen Konnotationen haben den unglücklichen Effekt, dass sie uns die verschiedenen Momente in der Form mehr/weniger real, mehr/weniger wichtig anordnen lassen. Aber von einem anderen Standpunkt aus ist das, was an der Oberfläche ist, was fortwährend erscheint, gerade dasjenige, was wir immer sehen, dem wir täglich begegnen, was wir ganz selbstverständlich als die offensichtliche und manifeste Form des Prozesses annehmen“ (Hall 1984).

Editorische Hinweise

Den Artikel erhielten wir für diese Ausgabe vom Autor.