Pro-imperialistische Politikberatung
von Frank Behrmann

11/11

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Wenn ein Direktor des Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik die aktuelle weltpolitische Lage analysiert und der deutschen Regierung Ratschläge erteilt, lohnt es sich hinzuhören, denn hier werden wissenschaftlich unterfütterte Hinweise auf die Stoßrichtung der künftigen deutschen Außenpolitik gegeben. Der tatsächliche Einfluss solcher Institute auf Politik, Wirtschaft und Medien ist naturgemäß schwer einzuschätzen – sicherlich werden von ihnen keine Entscheidungen gefällt, aber kommende Entwicklungen werden skizziert und Vorschläge an die Politik, wie darauf zu reagieren wäre, gemacht. 

Eberhard Sandschneider geht davon aus, dass sich von der jetzigen Weltordnung mit einer einzigen Weltmacht ein Wechsel hin zu einer multipolaren Welt anbahne. Eines der künftigen Zentren werden die USA sein, eines China und möglicherweise noch andere bisherige Schwellenländer und bei kluger Politik auch „Europa“ (womit die EU gemeint ist). Festhalten an alten Privilegien, bestehen auf den jetzigen Machtstrukturen und ökonomischen Vorrechten würde der EU schlecht bekommen, da der Aufstieg neuer Staaten sowieso nicht aufzuhalten sei. Stattdessen gelte es, Zug um Zug Positionen abzugeben, um selbst eine starke Stellung behalten zu können – das ist die zentrale These in Sandschneiders neuem Buch mit dem etwas effekthascherischen Titel Der erfolgreiche Abstieg Europas. 

Die aktuelle Lage

„Allmählich führt kein Weg mehr an der Erkenntnis vorbei, dass die goldenen Zeiten des Westens, insbesondere Europas vorbei sind. Selbst die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Westens steht nicht mehr außer Frage.“ (S. 32) Und: „Ob Europa in der multipolaren Welt der Zukunft tatsächlich ein wichtiger Pol sein wird, wird mittlerweile von strategischen Eliten in fast allen Teilen der Welt, einschließlich der USA, mit einem Fragezeichen versehen. Ähnlich problematisch sieht die Bilanz für die westliche Führungsmacht USA aus.“ (S. 33) 

Europa aber reagiere ganz falsch auf diese strategischen Herausforderungen: Uneinig und unentschlossen, wenig flexibel und bislang erfolgreiche Politikmuster wie ein Mantra vor sich hertragend, alte strategische Bündnisse sowie eingefahrene Gegnerschaften zu anderen politischen Systemen verabsolutierend. Dies verdeutlicht Sandschneider am Verhältnis zu den USA. Während in offiziellen Reden so getan wird, als glänze diese Freundschaft noch immer wie in Zeiten des Kalten Krieges, zeichneten sich in der Wirklichkeit zunehmende Differenzen ab. Allerdings ordnet Sandschneider diese Differenzen nicht in die weltweite ökonomische Konkurrenz ein, der sie entsprungen sind. Nach ihm wäre das geforderte effizientere  Handeln der EU nicht etwa ein Konkurrenzvorteil, sondern würde die USA beeindrucken und dadurch das beiderseitige Verhältnis wieder kitten! Das klingt so: „Solange Europa auf Amerika wartet, anstatt selbst die Initiative des Handelns in die Hand zu nehmen, bleibt es ein Akteur zweiter Klasse und muss damit leben, immer weniger ernst genommen zu werden.“ (S. 80) 

Demokratische und autoritäre Herrschaft

Aber auch China, mit dessen künftiger weltweit (mit)führender Rolle alle rechnen, wird nicht so geradlinig wie im letzten Jahrzehnt vorwärts schreiten. Sandschneider zitiert ausführlich einen Tagesthemen-Kommentar der ARD-China-Korrespondentin Christine Adelhardt von Anfang 2011: „China ist groß geworden durch kapitalistische Wirtschaft mit diktatorischer Lenkung. Das bringt konkurrenzlos billige Waren vom Fließband, aber in die Weltspitze der Innovationsprodukte kommt man damit nicht. (...) Aus dem Westen kommen die coolsten Apps, die besten Autos. Denn der Erfolg der westlichen Welt basiert auf unserem politischen System, Demokratie, Freiheit, Konfliktfähigkeit. So entsteht Kreativität und daraus die besten Ideen. Und Ideen sind es, die heute Milliarden wert sind: Google, Facebook, iPhone. Freiheit – das ist unsere Stärke. Und genau davor haben Chinas Machthaber Angst. (...) Die sozialen Konflikte im Reich der Mitte aber nehmen zu, Bürger begehren gegen korrupte Beamte auf, im Internet regt sich Widerstand und der Machtapparat ist längst kein monolithischer Block, wie uns Politkader glauben machen.“ (S. 113) 

Die bürgerliche Demokratie ist die politische Herrschaftsform des Kapitalismus. Gerade aufgrund der ständigen Konkurrenzsituation, auf nationalen wie internationalen Märkten, ist ein stetiger immenser Innovationsdruck systemimmanent. So ist die Bedeutung von freiem Meinungsaustausch, einer mehr oder weniger freien Entfaltung der Individualität, Verantwortung für das eigene Leben usw. für immer neue Innovationsschübe schwer zu überschätzen. Sandschneider generalisiert diese Überlegungen: „Denn anders als autoritäre Herrschaftsformen verfügen sie (die Demokratien, F.B.) über Mechanismen, Verfahren und Strukturen, die es dem politischen System wie auch den sozialen Teilsystemen ermöglichen, flexibler, effizienter und ressourcenschonender auf die sich beschleunigenden Umweltveränderungen zu reagieren.“ (S. 114/5) Und deshalb „bleibt trotz aller ökonomischen Erfolge keines der autokratischen Aufsteigerländer von sozialen Spannungen erheblichen Ausmaßes verschont. Autokratien fehlen die Mechanismen institutionell geregelter Konfliktlösung.“ (S. 129) 

Was aber weder Adelhardt noch Sandschneider auffällt: Schon im politischen Alltag kann Bürgerbeteiligung zu erheblichen Störungen führen. Wenn mittels Volksabstimmungen oder ausdauernden Protesten gewinnträchtige Projekte, die Wirtschaft und Politik unbedingt durchsetzen wollen, verhindert werden, kommt es daher schnell zu Äußerungen, Demokratie könne nicht heißen, dass Regierungen in ihren Entscheidungen eingeschränkt würden. Man müsse dafür Sorge tragen, dass „die parlamentarische Mitbestimmung so gestaltet ist, dass sie trotzdem auch marktkonform ist“, so Bundeskanzlerin Merkel (FAZ am Sonntag, 4.9.11). Bürgerliche Demokratie steht unter Marktvorbehalt! Die komplette Wirtschaft ist von demokratischen Strukturen weitgehend ausgenommen. Auch die Medien unterliegen den bürgerlichen Eigentumsverhältnissen, die Zugang zu ihnen in erster Linie konformen JournalistInnen gewähren, den allermeisten Menschen aber strikt verwehren. 

Die kapitalistische Warenwirtschaft selbst treibt aufgrund ihrer Verteilungsungerechtigkeit zu Einschränkungen demokratischer Rechte. Wenn sich weniger Menschen mit der hiesigen Mitbestimmung in homöopathischen Dosen abspeisen lassen und sich stattdessen der Wunsch regt, zu einer wirklichen Selbstbestimmung zu kommen, wenn mehr Menschen erkennen, dass es sich mit einer anderen Wirtschaftsorganisation bei anderen Eigentumsverhältnissen viel besser leben ließe, ist es spätestens an der Zeit, die bürgerlichen Freiheiten einzuschränken. Der bürgerliche Staat tritt dann ganz unverkleidet als Sachwalter des Kapitalismus in Erscheinung. 

Was ist zu tun,

um möglichst großen Anteil an der kommenden Weltordnung zu erhalten, fragt sich Sandschneider. Für die EU brauche es „Reformen der Entscheidungsmuster“ (S. 142), dabei „muss Handlungsfähigkeit Priorität vor der reinen Lehre haben. Den Zauderern muss sicherlich die Möglichkeit eines jederzeitigen späteren Mitwirkens eingeräumt bleiben.“ (S. 162) „Europa der zwei Geschwindigkeiten“, heißt das in heutigen „Kerneuropa“-Konzepten, ist also kein neuer Einfall. Es gelte „unser Augenmerk darauf (zu) richten, dass sich unsere eigenen Interessen durchsetzen lassen“ (S. 165). Auch kein neuer Gedanken, sollte man meinen, sondern EU-Politik seit ihrer Gründung! Und auch die Idee, sich stärker gegenüber den USA zu positionieren, ist längst Realität, wenn sie auch in den meisten Zeitungsspalten tapfer geleugnet wird. „Europa muss erwachsen werden und sich von den USA politisch und strategisch emanzipieren. (...) Großprojekte wie Airbus, Galileo und Ariane sind ein richtiger Weg, um Eigenständigkeit zu erreichen (...).“ (S. 168) Die „neuen Realitäten multipolarer Machtpolitik“ verlangten von der EU gegenüber den Newcomern auf der internationalen Bühne die „Bereitschaft, Platz zu machen“, um Konflikte zu vermeiden, „deren Kosten unkalkulierbar sind, aber immer zulasten Europas, seiner Sicherheit, aber auch seiner globalen wirtschaftlichen Interessen gehen“ (S. 170/1). 

Obgleich Sandschneider die hierzulande übliche eurozentristische Denkweise kritisiert, ist seine Absicht, zu einer international erfolgreichen Strategie der EU beizutragen. Für ihn ist die EU ein Erfolgsmodell, denn es ging „Europa und den Menschen, die in den Mitgliedstaaten der EU leben, noch nie so gut (...) wie heute“ (S. 140). Kritische Worte zu dem ständigen Sozialabbau und der wachsenden Schere zwischen Arm und Reich oder der aggressiven Außen- und Außenhandelspolitik der EU unter deutsch-französischer Führung fallen Sandschneider nicht ein. Vielmehr ist es sein Anliegen, zu einer in diesem Sinne durchsetzungsfähigen Politik der EU Anregungen zu liefern. Politikwissenschaft verschwimmt bei ihm zu zweckgebundener Politikberatung. 

Was etwas großspurig als Versuch der Umwälzung der bisherigen außenpolitischen Leitlinien daherkommt, endet als kleinlautes Aussprechen längst bekannter Tatsachen. Das ist aber schon mehr als allgemein üblich. Politikwissenschaft in Deutschland! 

 

Editorische Hinweise

Wir erhielten den Text vom Autor für diese Ausgabe.

Eberhard Sandschneider
Der erfolgreiche Abstieg Europas.
Heute Macht abgeben, um morgen zu gewinnen

Hanser Verlag, München 2011

208 Seiten
Fester Einband
Pappband
ISBN-10: 3-446-42352-4
ISBN-13: 978-3-446-42352-7
€ 19,90