Theorie will benennen, was insgeheim
das Getriebe zusammenhält... Sie möchte den Stein aufheben,
unter dem das Unwesen brütet; in seiner Erkenntnis allein ist
ihr der Sinn bewahrt. Gegen solchen Drang sträubt sich die
soziologische Tatsachenforschung. Entzauberung, wie noch Max
Weber sie wollte, ist ihr nur ein Spezialfall von Zauberei; die
Besinnung aufs verborgen Waltende, das zu verändern wäre, bloßer
Zeitverlust auf dem Wege zur Änderung des Offenbaren. Zumal was
heute allgemein mit dem Namen empirische Sozialforschung bedacht
wird, hat seit Comtes Positivismus mehr oder minder
eingestandenermaßen die Naturwissenschaften zum Vorbild. Die
beiden Tendenzen verweigern sich dem gemeinsamen Nenner.
Theoretische Gedanken über die Gesellschaft insgesamt sind nicht
bruchlos durch empirische Befunde einzulösen: sie wollen diesen
entwischen wie spirits der parapsychologischen
Versuchsanordnung. Eine jede Ansicht von der Gesellschaft als
ganzer transzendiert notwendig deren zerstreute Tatsachen. Die
Konstruktion der Totale hat zur ersten Bedingung einen Begriff
von der Sache, an dem die disparaten Daten sich organisieren.
Sie muß, aus der lebendigen, nicht selber schon nach den
gesellschaftlich installierten Kontrollmechanismen
eingerichteten Erfahrung; aus dem Gedächtnis des ehemals
Gedachten; aus der unbeirrten Konsequenz der eigenen Überlegung
jenen Begriff immer schon ans Material herantragen und in der
Fühlung mit diesem ihn wiederum abwandeln. Will Theorie aber
nicht trotzdem jenem Dogmatismus verfallen, über dessen
Entdeckung zu jubeln die zum Denkverbot fortgeschrittene Skepsis
stets auf dem Sprung steht, so darf sie dabei sich nicht
beruhigen. Sie muß die Begriffe, die sie gleichsam von außen
mitbringt, umsetzen in jene, welche die Sache von sich selber
hat, in das, was die Sache von sich aus sein möchte, und es
konfrontieren mit dem, was sie ist. Sie muß die Starrheit des
hier und heute fixierten Gegenstandes auflösen in ein
Spannungsfeld des Möglichen und des Wirklichen: jedes von beiden
ist, um nur sein zu können, aufs andere verwiesen. Mit anderen
Worten, Theorie ist unabdingbar kritisch.(1)
Darum aber sind aus ihr abgeleitete Hypothesen, Voraussagen von
regelhaft zu Erwartendem, ihr nicht voll adäquat. Das bloß zu
Erwartende ist selber ein Stück gesellschaftlichen Betriebs,
inkommensurabel dem, worauf die Kritik geht. Die wohlfeile
Genugtuung darüber, daß es wirklich so kommt, wie sie es
geargwöhnt hatte, darf die gesellschaftliche Theorie nicht
darüber hinwegtäuschen, daß sie, sobald sie als Hypothese
auftritt, ihre innere Zusammensetzung verändert. Die
Einzelfeststellung, durch die sie verifiziert wird, gehört
selbst schon wieder dem Verblendungszusammenhang an, den sie
durchschlagen möchte. (245 f.) Die empirische Sozialforschung
kommt darum nicht herum, daß alle von ihr untersuchten
Gegebenheiten, die subjektiven nicht weniger als die objektiven
Verhältnisse, durch die Gesellschaft vermittelt sind. Das
Gegebene, die Fakten, auf welche sie ihren Methoden nach als auf
ihr Letztes stößt, sind selber kein Letztes, sondern ein
Bedingtes. Sie darf daher nicht ihren Erkenntnisgrund - die
Gegebenheit der Fakten, um welche ihre Methode sich müht — mit
dem Realgrund verwechseln, einem Ansichsein der Fakten, ihrer
Unmittelbarkeit schlechthin, ihrem Fundamentalcharakter. Gegen
diese Verwechslung kann sie insofern sich wehren, als sie durch
Verfeinerung der Methoden die Unmittelbarkeit ihrer Daten selbst
aufzulösen vermag .. . Das Erkenntnisproblem ihrer
selbstkritischen Entwicklung bleibt, daß die ermittelten Fakten
nicht getreu die darunterliegenden
gesellschaftlichen Verhältnisse spiegeln, sondern zugleich den
Schleier ausmachen, durch den jene, und zwar notwendig, sich
verhüllen. Es gilt danach für die Befunde dessen, was nicht
umsonst »Meinungsforschung« heißt, die Formulierung Hegels über
die öffentliche Meinung schlechthin aus der Rechtsphilosophie:
sie verdiene, ebenso geachtet als verachtet zu werden. Geachtet,
weil auch Ideologien, das notwendige falsche Bewußtsein, ein
Stück gesellschaftlicher Wirklichkeit sind, das kennen muß, wer
diese erkennen will. Verachtet aber: ihr Wahrheitsanspruch
kritisiert. Die empirische Sozialforschung wird selbst zur
Ideologie, sobald sie die öffentliche Meinung absolut setzt.
Dazu verleitet ein unreflektiert nominalistischer
Wahrheitsbegriff, der die volonte de tous als Wahrheit
schlechthin unterschiebt, weil eine andere doch nicht zu
ermitteln sei ... Nicht ist die Meinung mit Platonischem Hochmut
zu verwerfen, sondern ihre Unwahrheit selbst aus der Wahrheit:
aus dem tragenden gesellschaftlichen Verhältnis, schließlich
dessen eigener Unwahrheit abzuleiten. Andererseits jedoch stellt
die Durchschnittsmeinung keinen Approximationswert der Wahrheit
dar, sondern den gesellschaftlich durchschnittlichen Schein. An
ihm hat teil, was der unreflektierten Sozialforschung ihr ens
realissimum dünkt, die Befragten selbst, die Subjekte. Ihre
eigene Beschaffenheit, ihr Subjektsein, hängt ab von der
Objektivität, den Mechanismen, denen sie gehorchen und die ihren
Begriff ausmachen. Der aber läßt sich bestimmen nur, indem man
in den Fakten selber der Tendenz inne wird, die über sie
hinaustreibt. Das ist die Funktion der Philosophie in der
empirischen Sozialforschung. Wird sie verfehlt oder unterdrückt,
werden also bloß die Fakten reproduziert, so ist solche
Reproduktion zugleich die Verfälschung der Fakten zur Ideologie.
(259 f.)
1) Vgl. Max Horkheimer, Traditionelle und
kritische Theorie, in: Zeitschrift für Sozialforschung, 1937,
VI, S. 245 ff.
Editorische Hinweise
Der Text wurde in Auszügen übernommen aus:
Wesen und Wirklichkeit des Menschen. Festschrift für Helmuth
Plessner. Hrsg. von Klaus Ziegler. Göttingen 1957, S. 245-260.
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