Crossover-Welle in Postmodernien
Auch der Reformismus erfindet sich immer wieder neu

von Michael Prütz und Michael Schilwa

11/10

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onlinezeitung

Vorbemerkung 

Die Programmdebatte in und außerhalb der LINKEN ist in vollem Gange.

Wenig überraschend, dass die klassische Frage, ob und wenn ja, wie und wie radikal der Kapitalismus abgeschafft, überwunden oder gezähmt werden kann und soll, im Zentrum dieser Debatte steht.

Den „alten“, traditionellen Arbeiterbewegungsreformismus wissen Antikapitalisten einzuschätzen – wir haben so unsere Erfahrungen gemacht.

Was den „neuen“, postmodernen Reformismus angeht:

Nebelkerzen und Konfusion allerorten.

Anknüpfend an Ideen der Sozialforumsbewegung („Turtles and Truckers United“) und der Rede von der „Mosaiklinken“ (Urban) kommen Strategien jenseits von „Reform und Revolution“ (1) wieder schwer in Mode.

Der „Bewegungsphilosoph“ (Kipping) Thomas Seibert formuliert aktuell:  

„Hier liegt der wichtigste Grund dafür, dass sich Mosaiklinke selbst dann nicht mehr exklusiv für Reformisten oder Revolutionäre halten, wenn sie praktisch die eine oder die andere Option vorziehen. Auf den Punkt gebracht wird das in der (nicht nur) von Negri eingeforderten strategischen Verbindung einer „regierenden“ und einer „kämpfenden“ Linken: „Dieses Problem zu artikulieren ist unumgänglich, und eine Linke, die das nicht tut, existiert nicht. Man kann nicht exklusiv das eine oder das andere sein, außer man betrügt sich selbst.“ (Negri 2009, 128)“ (1)

Wir verstehen das – ganz borniert „industrielinks“ -  als zwar eleganten, aber dennoch erzreformistischen Käse.

Die einen verwalten den Kapitalismus und exekutieren die sich daraus ergebenden „Sachzwänge“, und die anderen protestieren dagegen.

Am Ende, oder auch währenddessen bilden dann alle gemeinsam die „Mosaiklinke“.

Dagegen haben wir was.

Nachfolgend ein wenig ideologische Munition gegen einen „linken Postmodernismus“, der auch von den meisten AntikapitalistInnen immer noch ignoriert oder unterschätzt wird.

Das 'Institut solidarische Moderne'

Während in der aktuellen Krise des Kapitalismus eine reale Fabrik nach der anderen dichtmacht, sprießen andere wie Pilze aus dem Boden:  Denkfabriken.

Die „Denkfabrik“ junger MdB’s von SPD, Grünen und LINKE (u.a. Angela Marquardt,

Ex-stellvertretende PDS-Vorsitzende, jetzt SPD und Halina Wawzyniak, Vizevorsitzende die LINKE) ging – welch ein Zufall! - unmittelbar nach dem Rückzug Oscar Lafontaines aus der Bundespolitik mit einem Aufruf an die Öffentlichkeit:

Das „Leben ist bunter!  Den Dialog organisieren – Gesellschaftliche Mehrheiten jenseits von Schwarz-Gelb denken!“

Am 31.1.10 konstituierte sich in Berlin das „Institut Solidarische Moderne“ ( ISM ).

Die Frontfrauen Andrea Ypsilanti (frühere hessische SPD-Chefin) und Katja Kipping (Vizevorsitzende die LINKE) präsentierten ihr Institut als „Denkwerkstatt“ und „Crossover-Institut“.

Die Zeitschrift ‚Freitag’ konstatierte daraufhin eine „Welle von Crossover“ und der ‚Tagesspiegel’ witzelte amüsiert über „Linke Markenpiraten“.

Zu den Gründungsmitgliedern zählen prominente und mehr oder weniger „linke“ Mitglieder von SPD ( Rudolf Dressler, Franziska Drohsel, Anke Martini, Herman Scheer†), Grünen (Wolfgang Strengmann-Kuhn, Ludger Vollmer), LINKE (Michael Brie, Dieter Klein, Ulla Lötzer, Wolfgang Neskovic, Paul Schäfer, Axel Troost) und Gewerkschaften (Amelie Buntenbach, Armin Schild, Hans Jürgen Urban).

Den „Bewegungs-Touch“ besorgen Ex-Attac- und Attac-Mitglieder  wie Sven Giegold, Detlev von Larcher und Sabine Leidig oder der Aktivist der ‚Interventionistischen Linken’ Thomas Seibert.

Die nötige „Prise Marxismus“ steuern linke Wissenschaftler wie Elmar Altvater, Sonja Buckel, Klaus Dörre und Stephan Lessenich bei.

Garniert wird das Ganze von gutmenschelnden Plaudertaschen wie Friedrich Schorlemmer, Franz Alt  oder ‚Prinzen’ - Sänger Sebastian Krumbiegel.

Crossover zur Regierungsbeteiligung

Nun spricht natürlich nichts gegen „Crossover-Diskussionen“, also Debatten über (bisherige) ideologische Grenzen hinweg.

Allerdings muss der ins Auge springende politische Zweck dieser Initiative benannt werden – und das wird er auch (mehr oder weniger offen).

Während die Marquardt / Wawzyniak - Fabrik den viele Jahre ungenutzten „rechnerisch parlamentarische(n) Mehrheiten diesseits von Union und FDP“ nachtrauert  und unverblümt zur „perspektivischen“ Herstellung eben dieser parlamentarischen Mehrheiten aufruft, gibt sich die Ypsilanti / Kipping - Werkstatt zurückhaltend ambivalent.

Kipping erklärt im ‚Junge Welt’-Interview „uns geht es nicht darum, Koalitionsverträge vorzubereiten“, „Bewegungsphilosoph“ Seibert stellt dagegen in der Zeitung ‚Analyse & Kritik’ klar, dass das ISM „an der Herausbildung einer rot-rot-grünen Machtoption teil(nimmt)“  -  ein Schelm, wer bei dieser Rollenverteilung Böses denkt.

Gerade mal ein ein Jahr befinden sich die Agenda- und Kriegsparteien SPD und Grüne auf Bundesebene in der Opposition - es ist erstaunlich, wie billig der (Wieder)Eintritt in einen „linken Diskurs“ mit der „Nicht-Regierungs-Linken“ nach achtjähriger rot / grüner  und vierjähriger schwarz / roter, brutal pro-kapitalistischer / pro-imperialistischer Politik zu haben war (immerhin bekleidete mit Ludger Vollmer einer der ISM-Gründer das Amt eines Staatsministers).

Bei Hartz IV das Eingeständnis „handwerklicher Fehler“, bei Afghanistan die „Abzugsperspektive“ einer weiteren Truppenaufstockung.

Dafür hat Andrea Ypsilanti schon was den Institutsnamen angeht ordentlich punkten können:

Ihr Wahlkampfmotto in Hessen lautete „Für eine soziale Moderne“.

Bürgerlicher Krisenbegriff

Den ganzen „Gründungsaufruf  ‚Institut Solidarische Moderne’“ (2) durchzieht der Versuch, alles aus dem Weg zu räumen, was einer Regierungsbeteiligung der LINKEN entgegenstehen könnte, die ISM-Initiative ist offensichtlich auch ein Versuch, in der anstehenden Programmdebatte der LINKEN Pflöcke einzuschlagen.

Es geht schon mit der Krisenanalyse los, im Abschnitt „Was geschieht?“ heißt es:

„Wir leben in einer Welt, die immer stärker geprägt wird von den Resultaten einer von gesellschaftlicher Verantwortung entbundenen und nur noch an kurzfristigen Renditen ausgerichteten Marktwirtschaft.“ 

Sollen wir im Umkehrschluss folgern, dass ein Politikwechsel dann gelingt, wenn das Kapital in eine wie auch immer geartete „Verantwortung“ wie auch immer wieder „eingebunden“ wird?

Wenn die Kurzfristigkeit der Renditeerwartungen das Problem ist, warum folgt die Linke dann nicht Merkel, Obama und den Bankenbossen, die sich doch ernsthaft bemühen, die Entlohnung ihres Spitzenpersonals an langfristigere , „nachhaltigere“ Kriterien zu koppeln ?

Eine solche Krisen“analyse“ unterschreibt auch die CDU:

Ein schlimmer Betriebsunfall der sozialen Marktwirtschaft, verursacht durch Gier und Verantwortungslosigkeit.

Sicher kann man nicht allen Gründungsmitgliedern eine solche Sichtweise unterstellen, aber jeder Name unter diesem Aufruf trägt dazu bei, den Krisenbegriff der Herrschenden weiter zu popularisieren.

Der Text bringt es selber auf den Punkt: 

„Turbokapitalismus“ und „Postdemokratie“:  Das sind die weltweiten Konturen des real existierenden Neoliberalismus.“

Da ist er also wieder, der böse und vom bürgerlichen Feuilleton dennoch so heiß geliebte Turbo-, Casino- oder Raubtierkapitalismus – mensch fragt  sich unwillkürlich, wie die Alternative zu diesem Schreckgespenst aussehen könnte: 

Vielleicht so eine Art „Haustierkapitalismus, in dem die Kapitalisten maßvoll ihren harmlosen Geschäften nachgehen und dabei nach Kräften für das Gemeinwohl sorgen.“ (3) 

Bleibt nur zu hoffen, dass die MarxistInnen unter den ISM-Gründern sich ihrer ‚Kapital’-Studien besinnen und zu anderen, weitergehenden Fragestellungen kommen. 

Wenn Geld die Wertform der Ware ist, deutet dann nicht jede Geldkrise oder „Finanzmarktkrise“ auf eine Krise der Warenproduktion hin?

Ist die planlose Überproduktion ein Betriebsunfall oder notwendige Regel im Kapitalismus?

Warum ist Profit Triebkraft und zugleich Schranke der Produktion?

Oder ganz unakademisch: Woher kam / kommt das Geld für die Jetons im globalen „Casino“? 

Alter (reformistischer) Wein in neuen (postmodernen) Schläuchen 

Jenseits wohlfeiler Phrasen - Kostprobe: „ Indem er (der Verein ISM, Die Autoren) im Denken und Handeln zusammenführt, was gesellschaftlich zusammengehört, knüpft er einen neuen, sichtbaren Faden durch die politische Landschaft.“ - kommt der Aufruf im Kapitel „Um was geht es?“ zur Sache. 

Zum Stichwort „Soziale Ökonomie“ heißt es:  Wie lässt sich wirtschaftliche Globalisierung sozial und ökologisch einbetten (sic!)?

Wie die aktuelle Krise zeigt: Unter kapitalistischen Bedingungen gar nicht, liebe KollegInnen! 

Oder:  „Wie kann eine nachhaltige Finanzpolitik aussehen, die den Prinzipien der Generationengerechtigkeit verpflichtet ist, auch und gerade in Zeiten einer alternden Gesellschaft?“

Dass sozialdemokratische oder grüne Parlamentarier so daherschwafeln, ist nicht verwunderlich.

Aber dass jemand wie Elmar Altvater den bürgerlichen, weil vollkommen klassenunspezifischen Schlüsselbegriff „Generationengerechtigkeit“ offensichtlich mit trägt, erschließt sich den Autoren dieser Zeilen eher nicht. 

Beim Stichwort „Demokratischer Sozialstaat“ fragt der Aufruf:

„Wie kann die Weiterentwicklung des Sozialstaats von der institutionalisierten industriegesellschaftlichen Arbeits- und Leistungslogik zu einem bürgerrechtlich begründeten Arrangement gelingen, das der Realität der gewandelten Erwerbsarbeitswelt Rechnung trägt?“

Das ist nichts anderes als die „diskursivdeutsch“ verschwurbelte Forderung nach einem „Bürgergeld“ welcher Provinienz auch immer. 

Das Thema Krieg und Frieden wird das entscheidende Schlachtfeld in der kommenden Programmauseinandersetzung der LINKEN, denn ihre „Regierungsfähigkeit“ entscheidet sich nicht daran, ob sie für 8 oder 10 € Mindestlohn eintritt, sondern an der Akzeptanz oder Nicht-Akzeptanz der bundesdeutschen NATO-Staatsraison.

Erste ideologische Vorarbeiten zur Entsorgung der größten Regierungshindernisse leistete bereits Gregor Gysi, indem er nicht nur einen bedingungslosen Pro-Zionismus in der LINKEN einforderte, sondern auch gleich jeglichen Anti-Imperialismus für „von gestern“ erklärte.

Angesichts der aktuellen Programmlage der LINKEN und der Stimmung an der Parteibasis können die nächsten Schritte allerdings nur scheibchenweise erfolgen:

So forderte die parlamentarische Geschäftsführerin der LINKEN-Bundestagsfraktion Dagmar Enkelmann nach dem Kundus-Massaker in einem Interview mit der ‚Jungen Welt’ vom 8.9.09 nicht etwa den sofortigen Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan, sondern eine „Debatte über eine Exit-Strategie“.

Das passt genau in die Argumentation jener „Linken“ in SPD / Grünen, die einen „überstürzten, kopflosen Truppenabzug“ ablehnen.

Dem sensiblen Thema angemessen, beginnt der entsprechende Abschnitt im ISM-Aufruf vorsichtig-lyrisch:

„Wie kann ein menschenrechtsorientierter Kosmopolitismus unter Achtung der multikulturellen Vielfalt in der Weltzivilisation aussehen?"

Wenige Zeilen später wird’s konkreter:

„Wie können Konflikte gewaltfrei gelöst werden in einer Welt, in der sich kriegerische Gewalt zunehmend privatisiert und geltenden völkerrechtlichen Normen entzieht? “

Selbstverständlich kritisieren Linke den Einsatz z.B. von „Blackwater“ in Afghanistan, aber der zunehmende Einsatz von Söldnerarmeen etwa im Irak, in Afghanistan oder Pakistan macht aus diesen Kriegen keine „Privatkriege“ – es bleiben imperialistische Kriege imperialistischer Staaten.

Das Aussprechen dieser einfachen Wahrheit ist für manche Linke offensichtlich nur noch unter Schamkrämpfen möglich.

Thema „Europa“:

„ Wie kann eine Reform der Europäischen Union im Geiste der Solidarischen Moderne erreicht werden, wie könnte Europa als Ideenwerkstatt und Brückenkopf alternativpolitischer Gestaltungsformen und gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse wirken?“

Die Autoren (und Unterzeichner) des Aufrufs kommen also nicht nur nicht auf die Idee, die Reformfähigkeit der EU zu hinterfragen, diesem imperialistischen Staatenbund wird sogar zugetraut „Ideenwerkstatt und Brückenkopf alternativpolitischer Gestaltungsformen“ zu werden! 

Alle Jahre wieder:  Abschied vom Proletariat 

In dem siebenseitigen Gründungsaufruf begegnen uns ständig „Menschen“, natürlich auch die „Menschheit“, die „Bevölkerung“, vom Neoliberalismus „Geschädigte“ und (mit Abstand am häufigsten) der „Bürger“.

Staatlichkeit erscheint national in Form „westlicher Demokratien“ oder des “Sozialstaats“, international als „Länder“ des Nordens und des Südens oder als „supranationale Organisationen“.

„Die BürgerInnen des demokratischen Rechtsstaates (sic!) sind ZeugInnen und Geschädigte eines (…) Abbaus persönlicher Selbst- und gesellschaftlicher Mitbestimmungsrechte…“

Auf wen trifft das zu und auf wen nicht?

Anton Schlecker und die Frau an der Kasse des gerade „outgesourcten“ XXL-Marktes sind beide „BürgerInnen“ des „demokratischen Rechtsstaates“ und verfügen doch über ein höchst unterschiedliches Maß an „Selbst- und Mitbestimmungsrechten“.

Von „Klassen“ oder gar „Klassengegensätzen“ ist auf den ganzen sieben Seiten nicht ein einziges Mal die Rede.

Es grüsst der postmoderne Kaiser Wilhelm:  Ich kenne keine Klassen mehr, nur noch Weltbürger!

Das „Verschwinden“ der Arbeiterklasse jedenfalls „im Sinne von Marx (als) Negationsprinzip der bürgerlichen Gesellschaft“ (4) formuliert der Aufruf aber auch expressis verbis und durchaus programmatisch:

„Zu den konzeptionellen Schwächen der industriellen Linken (auf die wir noch zu sprechen kommen, die Autoren) gehörte und gehört ebenso die Fokussierung auf Erwerbsarbeit und eine damit einhergehende Ignoranz gegenüber anderen, gesellschaftlich gleichermaßen bedeutenden Tätigkeiten wie Reproduktionsarbeit, politisches Engagement, Bildungsarbeit und Muße.“

Der (immer wieder) endgültige Abgesang auf die Arbeiterklasse als „Totengräber des Kapitalismus“ und das Erfinden aller möglichen revolutionären „Ersatzsubjekte“ ist ja keineswegs ein neues Phänomen.

Schon Teile der 68-iger - enttäuscht von einer vermeintlich erschlafften, verbürgerlichten „Arbeiter-Aristokratie“ – projezierten ihre revolutionären Hoffnungen in eine imaginierte jugendlich-subproletarische „Neue Massenavantgarde“. 

1980 verkündete dann Andre Gorz den „Abschied vom Proletariat“ (5) und löste damit eine heftige innerlinke Debatte aus.

Dem „Arbeiterkonservatismus“ der regelmäßig Arbeitenden komme zunehmend die Rolle der Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung zu, Veränderungspotential verortet Gorz hingegen bei der neo-proletarischen „Nicht-Klasse der Nicht-Arbeiter“ (6) 

Zu Beginn des neuen Jahrtausends schickten dann Toni Negri und Michael Hardt eine ziemlich schwammige „Multitude“ ( Menge, „Vielheit“) in den postoperaistischen Kampf gegen das „Empire“ und seine alles durchdringende „Biopolitik“ (7) und lösten in der durch zwei Jahrzehnte neoliberaler Hegemonie niedergeschlagenen „globalisierungskritischen“ Linken einen regelrechten Hype aus ( Slavoj Zizek feierte das Werk als das „Kommunistische Manifest des 21. Jahrhunderts“). 

Auch aus „wertkritischer“ Sicht hat die Arbeiterklasse als revolutionäres Subjekt ausgedient und also auch der sinnlose und altmodische Klassenkampf. (8)

Fußend auf Adornos „totalitärem Tauschprinzip“ und der Generationen von Studenten faszinierenden Rede der „Kritischen Theorie“ von der „Verdinglichung“ (die vorkapitalistische Herrschaft von Menschen über Menschen wird abgelöst von der kapitalistischen Herrschaft der Dinge über Menschen) ersetzt die „Wertkritik“ den Klassenkampf durch Warenfetischismus.

Wenn alle Individuen (egal ob Produktionsmittelbesitzer oder Anbieter der Ware Arbeitskraft) als „Warensubjekte“ der „Totalität des abstrakten Werts“ unterworfen sind, dann steht am Ende der „klassenlose Marxismus“ eines „klassenjenseitigen Menschheitsstandpunktes“ (9). 

In der auch bei vielen Linken äußerst populären „Zivilgesellschaft“ ist schon im Namen die Abwesenheit von Klassen Programm.

Mit dem Begriff wird von Lichterketten über so genannte „Orangene Revolutionen“ bis zu neoliberaler Entstaatlichung („bürgergesellschaftliches“ Engagement als Kompensation von Sozialabbau) alles Mögliche legitimiert.

Der Begriff geht zurück auf Antonio Gramsci, der sich post mortem nicht mehr gegen die Instrumentalisierung durch verschiedenste „Transformationsstrategen“ wehren kann, aber eben gerade keinen Kronzeugen abgibt etwa für eine „zivilgesellschaftlich“ begründete Überwindung des Klassenbegriffs. 

Klassenanalyse statt Proletkult 

Die Kritik an diesen Strömungen Denktraditionen und das „industrielinke“ Festhalten an der „Fokussierung auf Erwerbsarbeit“ ist nicht zu verwechseln mit „Arbeitertümelei“. 

Natürlich war der „fordistische“ Kapitalismus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein anderer als der „postfordistische“ Kapitalismus des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts.

Die „Globalisierung“, das waren nicht nur gewaltige Privatisierungsschübe „nach innen „ und Weltordnungskriege „nach außen“, sondern auch und vor allem Angriffe auf die Arbeiterklasse.

„Das forcierte Ausbeutungsstreben war die Antwort auf ein ganzes Bündel von Verwertungsproblemen, mit denen maßgebliche Kapitalfraktionen seit den 1980er Jahren konfrontiert waren. Vor allem die Reduktion der Lohnquote (also dem Anteil der abhängig Beschäftigten am Sozialprodukt als indirektem Ausdruck der Ausbeutungsrate) konnte als eines der vorrangisten Ziele durchgesetzt werden:  Allein in dem relativ kurzen Zeitraum von 2000 bis 2006 gelang es dem (deutschen, die Autoren) Kapital, diese um über zehn Prozent herunterzudrücken.“ (10)

Diese (erfolgreichen) Angriffe haben Konturen, Zusammensetzung und Kampfkraft der Arbeiterklasse ohne Frage maßgeblich verändert.

In der Folge kam es zu Entwicklungen, die im prosperierenden Nachkriegskriegskapitalismus etwa des sozialdemokratischen „Modell Deutschland“ der 1970er Jahre niemand für möglich gehalten hätte:

„Überausbeutung“, also Löhne unterhalb der Existenzsicherung in Branchen wie Einzelhandel, Bau, einfache Dienstleistungen, überwunden geglaubte Phänomene wie Massenarmut und eine wachsende strukturelle Arbeitslosigkeit, sprich eine steigenden Zahl von „Überflüssigen“ mit allen disziplinierenden Folgen für Widerstandspotential und Klassenbewusstsein, die solche „Reservearmeen“ nun mal zeitigen.

So sind z.B. die durchaus auch unter (tarifär) Beschäftigten verbreiteten Vorurteile gegenüber den „faulen Hartzies“ nur die Kehrseite der eigenen Panik, sehr schnell genau dorthin abrutschen zu können; Arbeitslosigkeit als individuelles Versagen zu werten ist auch unter Arbeitern verbreitet.

Die negativen Folgen für das Klassenbewusstsein durch die veränderte Organisation der Arbeitsprozesse und die Individualisierung, ja teilweise„Atomisierung“ der Arbeit (Ersetzung „regulärer“ Arbeitsverhältnisse durch ausufernde Leiharbeit und / oder Zerschlagung in mehrere „Mini-Jobs“) sollten auch MarxistInnen nicht verdrängen.

Denn der Bewusstseinsschritt von der „Klasse an sich“ zur „Klasse für sich“ (Marx) vollzieht sich in einem Grossbetrieb, in dem die Kollegen über Jahre oder Jahrzehnte Kämpfe, Siege und Niederlagen gemeinsam erleben und verarbeiten logischerweise einfacher als in einer Einzelhandelsfiliale, wo die „Belegschaft“ aus ein oder zwei Kolleginnen besteht.

Für Hunderttausende „Freelancer“ oder in diversen „Projekten“ steckende Angehörige der „Generation Praktikum“ werden oft schon elementarste Ansätze von Klassenbewusstsein, z.B. das Erkennen gemeinsamer Interessen, zum Problem, was Konsequenzen für den Klassenkampf hat und haben muss (neue Formen der Auseinandersetzung und Organisierung wie „Flashmob“ oder „Organizing“), die „zerfasernden“ Ränder des industriellen „Klassenkerns“ müssen wir verstärkt in den Blick nehmen.

Andererseits ist durch den brutalen Klassenkampf von oben „wieder unmittelbar erfahrbar geworden, was kapitalistische Klassendominanz bedeutet:  die existenzielle Abhängigkeit von den Verwertungsstrategien der Vermögens- und Produktionsmittelbesitzer.“ (11)

Entstehung und wahlpolitische Erfolge der LINKEN oder Umfragen, in denen eine Mehrheit der Befragten den Sozialismus für eine gute Idee halten, die nur schlecht umgesetzt wurde, zeigen zumindest ein deutliches Bröckeln der neoliberal-kapitalistischen Hegemonie in den Köpfen.

Arbeits-, Dienstleistungs- oder Wissensgesellschaft ?

In dieser Frage unternimmt der ISM-Aufruf nicht einmal den Versuch, das Wesen hinter der Erscheinung herauszuarbeiten, sondern plappert schlicht die herrschende Lesart nach:

„Krise / Ende der Erwerbsarbeit“

Entscheidend (jedenfalls für MarxistInnen) ist aber nicht, was die Produzenten herstellen / anbieten (Güter oder Dienstleistungen), sondern wie, d.h. unter welchen Bedingungen deren Produktion erfolgt.

Relevant ist nicht die Benennung der Tätigkeit (Arbeiter, Angestellter, Wissensarbeiter), sondern die Frage, ob es sich um Lohnarbeit handelt oder nicht.

Aber wie steht es um die Klasse der LohnarbeiterInnen, kann angesichts der Zunahme von Dienstleistungen und „Wissensarbeit“ überhaupt noch von einer „Klasse“ gesprochen werden?

Ohne soziologische Daten kann die Diskussion nicht seriös geführt werden, wir beziehen beziehen uns hier auf das „Projekt Klassenanalyse@BRD“ (12):

„Trotz der leichtfertigen Rede vom „Ende der Arbeitsgesellschaft“ und trotz bestehender Massenarbeitslosigkeit ist die BRD eine Arbeitsgesellschaft mit 40,8 Millionen Erwerbstätigen, von denen 36,3 Millionen abhängig beschäftigt sind (im vierten Quartal 2008 laut Angaben des Statistischen Bundesamtes).“

Eine zu weite, rein „arbeitsrechtliche“ Fassung des Klassenbegriffs ist allerdings insofern problematisch als dann auch „abhängig Beschäftigte“ mitgezählt werden, die eher dem „herrschenden Block“ zuzurechnen sind (Manager, leitende Angestellte).

„Selbst wenn diese Segmente herausgerechnet werden, besteht die Lohnabhängigenklasse u.a. aus Hochofenarbeitern und Krankenschwestern, Kraftfahrern und Verwaltungsangestellten, Verkäuferinnen und Industrietechnikern, Sozialarbeitern und Briefträgern, Werbetextern und Automationstechnikern, jedoch auch Matrosen und Schauspielern.“

Reduziert mensch den Klassenbegriff nun auf seinen „industriellen“ Kern, ergibt sich ein „relatives“ Abschmelzen bei gleichzeitig überraschend konstanten „absoluten“ Zahlen:

Die Zahl der statistisch als „Arbeiter“ Registrierten (also unmittelbar im Fertigungsprozess Beschäftigten) liegt aktuell bei knapp 13 Millionen.

1895 waren es 11,3 Millionen ( = 87 % der insgesamt abhängig Beschäftigten), in den 20er Jahren stieg die Zahl auf 16 Millionen ( = 75 % ), von den späten 50er bis zum Ende der 90er lag die absolute Zahl immer über 12 Millionen, aber der relative Anteil an den abhängig Beschäftigten ging kontinuierlich zurück:  von 61 % 1961 auf 55 % 1970 (jeweils für Westdeutschland) und 39 % 1998 (für Gesamtdeutschland). 

Festzuhalten bleibt also zweierlei:

Die Zahl der abhängig Beschäftigten nimmt nicht ab, sondern zu (soviel zu den Theorien der „Zweidrittelgesellschaft“ oder der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“), innerhalb dieser Lohnabhängigenklasse stellt die „Industriearbeiterschaft“ auch in der „Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft“ immer noch den größten sozialen Block. 

Für den „Dienstleistungsbereich“ stellt sich gleich in doppelter Hinsicht das Problem der Definition und der statistischen Zuordnung:

„Es sind gerade viele „Dienstleistungen“ (deren beträchtliches Anwachsen als „Beweis“ einer schwindenden Bedeutung der Arbeiterklasse angeführt wird), die der materiellen Produktion als der dominierenden Tätigkeitsform auch im Gegenwartskapitalismus zugeordnet sind.

Denn sie dienen zu großen Teilen dazu, die Produktivität der unmittelbaren Produzenten zu erhalten und zu erhöhen.

Vieles, was heute mit der Dienstleistungskategorie belegt wird, wurde in der Vergangenheit folgerichtig noch der Produktion zugerechnet.

Als „Dienstleistungen“ werden gegenwärtig beispielsweise fast alle ausgelagerten Tätigkeiten klassifiziert, bei denen die gleiche (produktionsbezogene) Arbeit zu geringeren Löhnen (…) geleistet werden muss.“

Hinzu kommt:

„Als verarbeitende („industrielle“) Tätigkeit wird beispielsweise die Herstellung eines Computers („Hardware“) gewertet, seine Programmierung (also die Entwicklung der „Software“), die ihn letztlich in einen gebrauchsfertigen Zustand versetzt, wird statistisch als „Beschäftigung im Dienstleistungsbereich“ gezählt. Auch die Bedienung eines Automaten, der Druckerpatronen füllt, wird als industrielle Tätigkeit gezählt, die Nachfüllung der Patrone in einer Verkaufsstelle als „Dienstleistung.“

Unter Herausrechnung dieser Effekte kommt Seppmann zu dem Ergebnis, dass auch „in den entwickelten Industrieländern zwei Drittel aller Arbeitsplätze einen produktionsbezogenen Charakter besitzen!“

Heute geistert der Begriff des „Wissensarbeiters“ durch die Debatten.

Damit ist nicht der Professor an der Uni gemeint, der Terminus weist vielmehr auf die Tatsache hin, dass im Gegensatz zur „tayloristisch-fordistischen“ Fabrik, in der das „Produktionswissen“ in der Maschine steckte, die vom Arbeiter „nur“ noch bedient werden musste, in modernen Produktionsabläufen dieses „Produktionswissen“ von (qualifizierten Fach)-Arbeitern (mit)eingebracht wird.

Die Grenzen zwischen dem „Informationsgehalt“ und den materiellen Grundlagen eines Produkts, zwischen „Gütern“ und „Dienstleistungen“ verschwimmt, „etwa durch die Installation von Programmen in die Chip-Hardware direkt während ihrer Herstellung.“ 

Klassenkampf ist keine soziologische Kategorie 

Ein Allgemeinplatz:  Sich verändernde Verwertungsbedingungen verändern auch die „Arbeitswelt“ und damit das „Gesicht“ und die Zusammensetzung der Arbeiterklasse. Festzuhalten bleibt aber, dass alle mit diesen „Neuzusammensetzungen“ verbundenen (und von den Herrschenden transportierten!) Aufstiegshoffnungen von den profitgetriebenen Umgestaltungen der Lebens- und Arbeitswelten zerrieben werden. 

Der Weg des „Blaumanns“ aus der Fabrik in die „Weiße-Kragen-Jobs“ der administrativen und kaufmännischen Bereiche führte eben nicht zum sozialen Aufstieg in eine „Angestelltenklasse“, sondern endete durch die nivellierende Wirkung der EDV- und Kommunikationstechnologien im „neuen Büroproletariat“. 

Wer die Idee der Abschaffung des Kapitalismus nicht für „von gestern“ hält, sollte die Klassenlage nicht nur möglichst präzise fassen, sondern auch auf ihre Aktions- und Konfliktfähigkeit prüfen, auch und gerade jenseits der „industriellen Kerne“:

„So gehört eine Krankenschwester zwar nicht zur traditionellen Arbeiterklasse, jedoch ist sie als Mitglied der Lohnabhängigenklasse in größeren Betriebseinheiten des Gesundheitswesens ebenso in einem hohen Maß aktionsfähig, wie die Mitarbeiter der Müllabfuhr oder die Lohnabhängigen in den Nahverkehrsunternehmen.

In diesen Wirtschaftsbereichen, die seit einigen Jahren im Visier von Privatisierungsstrategien stehen, wird zwar kein Mehrwert geschaffen, jedoch dient die Arbeitskraft der dort Beschäftigten den Investoren zur Aneignung von Teilen der gesellschaftlich erzeugten Mehrwertmasse.“ (13)

Sowohl für diese Klassensektoren wie natürlich erst recht für den industriellen „Klassenkern“ gilt nach wie vor:

„Der Betrieb ist der zentrale Ort der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen: In seiner Struktur materialisiert sich die gesellschaftliche Macht des Kapitals.“ (14)

Weshalb allen postmodernen Denkwerkstätten ins Stammbuch geschrieben sei:

„Obwohl die politische Programmatik vieler „neuer sozialer Bewegungen“ auf den ersten Blick vielleicht umfassender wirkt (globale Gerechtigkeit, Friedfertigkeit, ökologische Überlebensperspektiven, Solidarität), besitzen sie dennoch keinen solch zentralen Bezugspunkt der Auseinandersetzung, durch den die Hegemonialansprüche des Kapitals automatisch in Frage gestellt würden.

Erst ein Widerstand in den zentralen gesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionsbereichen kann diesbezüglich volle Wirkungskraft entfalten.“ (15)

„Industrielle Moderne“ und „Solidarische Postmoderne“

Das Überraschende an der ISM-Initiative ist nicht der Versuch, rot / rot / grünen Regierungsoptionen programmatisch und strategisch den Weg zu bahnen, sondern der völlig unkritische Gebrauch der Denkfigur „Moderne – Postmoderne“ in Gestalt des Begriffspaares

„Industrielle Moderne“ – „Solidarische (Post)Moderne“.

Der den gesamten Gründungsaufruf durchziehende Argumentationspfad geht so:

„ Mit der „industriellen Moderne“ (Hervorhebung im Original, die Autoren) vollzog sich nicht nur die gesellschaftliche Durchsetzung der Warenökonomie, sondern auch, als Erbe der Aufklärung, der Aufstieg jener politischen Leitideen, die das Denken und Handeln der „klassischen“ Linken bestimmten: Gleichheit und Gerechtigkeit, Solidarität und Demokratie. Die soziale Frage des Industriezeitalters und der „industriellen Linken“ war die Frage nach der Verteilung des gesellschaftlich geschaffenen Mehrprodukts. Kritik am Kapitalismus entzündete sich in Form von Gerechtigkeitsforderungen vorrangig dort, wo materieller Reichtum ungleich verteilt wurde. Das soziale Handeln richtete sich auf die materielle Verwirklichung der Ideen der Aufklärung, auf solidarische Formen des Wirtschaftens und verstärkte Teilhabe der „Arbeit“ am zunehmenden gesellschaftlichen Wohlstand.“

Ob damit die Intentionen und das Handeln der „Industrielinken“, also der klassischen Arbeiterbewegung auch in ihren verschiedenen (sozialdemokratischen, stalinistischen, revolutionären) Ausprägungen hinreichend und korrekt beschrieben sind, lassen wir fürs erste außen vor und kommen zum „postmodernen“ Gegenstück:

„ Auf der Grundlage des insbesondere von der organisierten ArbeiterInnenbewegung durchgesetzten breiten materiellen Wohlstands in den Nachkriegsgesellschaften entwickelte sich in der westlichen „Postmoderne“ (Hervorhebung im Original, die Autoren) ein breites Spektrum neuer sozialer Bewegungen, namentlich die zweite Umweltbewegung, die neue Friedensbewegung und die zweite Frauenbewegung, sowie eine neue alternative Linke, für die immaterielle Bedürfnisse und neue soziale Fragen stärker in den Mittelpunkt des Interesses rückten: individuelle Entfaltungsfreiheit und Selbstbestimmungsrechte, kulturelle Vielfalt und demokratische Partizipation, Geschlechtergerechtigkeit und der Schutz der natürlichen Umwelt.“

Fassen wir zusammen:

Die „alte“ Linke war zuständig für das Materielle (Erkämpfung „breiten Wohlstands“), die „neue“ Linke kümmert sich um das Immaterielle ( Erkämpfung „individueller Entfaltungsfreiheit und Selbstbestimmung“).

Allerdings formuliert der Aufruf selbst einen „restmarxistisch-altlinken“ Einwand:

„Was über der Kritik an der industriellen Moderne und an deren politischen Trägern allerdings zum Teil verloren ging, war das Bewusstsein für die anhaltende Bedeutung der „alten“ sozialen Frage auch in der „neuen“ Welt des Dienstleistungs-, Wissens- und Informationskapitalismus.“

Die soziale Frage ?

Das klingt weniger nach Klassenkampf als nach Heiner Geisslers „Neuer Sozialer Frage“ von 1975 (damals war er noch nicht Globalisierungskritiker, sondern oberster Juso-Fresser der Republik). 

Was muss nun nach Ansicht der ISM-Gründer geschehen?

„ Unter dem Begriff der Solidarischen Moderne (Hervorhebung im Original, die Autoren) verstehen wir die dringend erforderliche Versöhnung zwischen den emanzipatorischen Ansätzen der Industrie- und der Postmoderne (…).“

„Linke Politik (…) muss für eine Moderne streiten, die beides in sich vereint und weiterentwickelt: die Verteilungssensibilität der „alten“ und die individuellen Selbstbestimmungsansprüche der „neuen“ Linken.“

Mensch kann dem Aufruf also nicht ( jedenfalls nicht in toto) unterstellen, einer postmodernen Geschichtsphilosophie das Wort zu reden, wirbt er doch für die „Versöhnung“ von Moderne und Postmoderne. 

Das „Ende der großen Erzählungen“

Deutlich darüber hinaus geht ein Artikel des Berliner LINKE-Vorsitzenden Klaus Lederer in der Ausgabe Juli 09 der ‚Blätter für deutsche und internationale Politik’:

„Links und libertär? – Warum die Linke mit individueller Freiheit hadert“ 

Der Artikel wurde von dem grünen ISM-Gründungsmitglied Wolfgang Sprengmann-Kuhn in einem online-Beitrag für die Zeitschrift ‚Prager Frühling’ vom 12.9.09 hymnisch gefeiert als Beitrag zum Kampf gegen „Zwangskollektivismus“ und „Fixierung auf Klassengegensätze“.

Lederers Ausführungen zeigen, wie weit „postmodernes Denken“ in die Linke im Allgemeinen, aber auch die LINKE im Besonderen eingedrungen ist.

Eigentlich kaum zu glauben, dass der Landeschef einer sich „Links“ nennenden Partei sich offen zu gegen-aufklärerischen, anti-emanzipatorischen und irrationalistischen philosophischen und politischen Positionen bekennt, ohne dass dies in der Partei zu nennenswerten Protesten führt. (16) 

Wir wollen uns auf eine einzige Äußerung in diesem auch ansonsten wirklich unglaublichen Artikel konzentrieren:

Lederer plädiert für eine Haltung, „die sich abgeklärt gibt“ und „mit den ‚großen Erzählungen’ nichts mehr anfangen“ kann.

„Sie hat sich im Plural der Sprachspiele, Diskurse, Interpretationen und Lebensformen zurechtgefunden.“ (17)

Das ist der typischen Duktus der „Diskursanalyse“ von Michel Foucault (zu dem sich Lederer in seinem Artikel ausdrücklich bekennt) und des „Differenz-Kultes“ (wir kommen noch dazu) der postmodernen Denker.

Bemerkenswerter ist der explizite Verweis auf „Die großen Erzählungen“.

Wir müssen davon ausgehen, dass Lederer weiß, was er schreibt – er hat am Otto-Suhr-Institut (OSI) in Berlin Politikwissenschaft studiert und geriert sich gern und oft als Schüler von Johannes Agnoli. 

Der auch außerhalb akademischer Milieus bekannt gewordene Begriff vom „Ende der großen Erzählungen“ stammt von Jean-Francois Lyotard (18) und war seit den frühen 1980er Jahren prägend für das, was heute „Postmoderne“ genannt wird. 

„Das, was unter dem Sammelbegriff „Postmoderne“ bzw. „postmodernes Denken“ firmiert, ist annäherungsweise als geistig-kulturelle Strömung (…) zu fassen, die ihr Unbehagen ausdrückt gegenüber den klassischen Leitvorstellungen der Aufklärung bzw. der neuzeitlich-abendländischen Rationalität. Entsprechend gelten Wahrheit, Vernunft, Identität, Fortschritt, Emanzipation als ideelle Orientierungsmarken  sowie die sich darauf beziehenden „großen Erzählungen“ als unrettbar gescheitert und diskreditiert.“  (19)

 Begriff, Konstruktion und Kritik der „Postmoderne“

 Ein Artikel wie dieser läßt nur einen sehr gestrafften Blick zu auf das, wozu Lederer sich bekennt und womit die ISM-Gründer zumindest hantieren:

Die Postmoderne. 

Nasse Seife 

Beim Versuch, sich dem Phänomen zu nähern, denkt mensch unwillkürlich an ein nasses Stück Seife. 

Ist die Postmoderne Nachfolgerin der und Gegenentwurf zur Moderne?

Ja und Nein oder vielleicht auch beides ! 

„Sogar die elementarste Bedeutung des Terminus - dass die Postmoderne auf die Moderne folgt - wird von seinen Vorkämpfern nicht immer festgehalten. Lyotard zufolge „kann ein Werk nur dann modern werden, wenn es erst postmodern ist. So verstanden ist der Postmodernismus nicht das Ende des Modernismus, sondern sein Entstehungszustand, und dieser Zustand ist wiederkehrend.“ (20)

„Das gilt auch für das Schlagwortpaar Moderne / Postmoderne. So macht Engelmann, einer der kundigen deutschsprachigen Werber der Konzeption, darauf aufmerksam, dass schon Lyotard nicht sagen kann, wovon sie handelt. Denn befragt, was Postmoderne sei, antwortete er: „Ich bemühe mich zwar zu verstehen, was sie ist, aber ich weiß es nicht.“ (21)

Gegenaufklärung 

Dieser Irrwitz hat durchaus Methode, denn nach Zusammenhängen, Ursachen, Wirkungen zu fragen, ist nicht nur sinnlos (die Welt ist nicht erkennbar, Lüge und Wahrheit sind ununterscheidbar), sondern auch gefährlich (Aufklärung endet in Unfreiheit, bei Lyotard sogar in Auschwitz, wie wir noch sehen werden).

Bei aller (gewollten) Beliebigkeit: Die „Dekonstruktion“ all dessen, was Vernunft, Allgemeingültigkeit, Universalität auch nur nahe kommt, ist der programmatische Kern des Postmodernismus.

„Sein kognitiver Modus ist die spektakulär vorgetragene einfache Verkehrung des Negierten in sein blankes Gegenteil: Differenz statt Universalität, Dissens statt Konsens(…).“ (22)

Die Liste lässt sich weiterführen: Vielheit statt Ganzes, Diskontinuität statt Kontinuität, Wahrnehmung statt Erkenntnis, Individualität statt Kollektivität, Besonderes statt Allgemeinem etc. 

„Die Kehrseite des postmodernen „Affekts gegen das Allgemeine“ bildet die Fetischisierung des Einzelnen und der damit korrespondierende Kult der Differenz.“ (23)

Der „Differenz-Kult“ wiederum fußt in der Ablehnung der Aufklärung:

„ Deren (der Aufklärung, die Autoren) Ganzheitsversprechungen haben in blutige Sackgassen geführt. Folglich muss die Losung lauten: „Krieg dem Ganzen, zeugen wir für das Nicht-Darstellbare, aktivieren wir die Differenzen, retten wir die Differenzen…“ (Lyotard) (24)

Ahnherr Nietzsche 

Ob Deleuzes, Lyotard oder Foucault – alle Postmodernisten verneigen sich vor Nietzsche und hieraus erklärt sich der ganze gegenaufklärerische Furor. 

„Nietzsche hat mit seinem Nihilismus den Gedanken der Überwindung prinzipiell aus den Angeln gehoben, denn wenn es keine Gründe und keine Wahrheit gibt, dann kann man auch nicht unter Berufung auf sie dergleichen wie Überwindung predigen, vielmehr muss man sich dann umgekehrt mit dem Gedanken einer Wiederkehr des Gleichen vertraut machen.“ (25)

Der anti-(spieß)bürgerliche Sex-Appeal von Nietzsche erklärt zwar die Anziehungskraft auf manche Intellektuelle, der „Anti-Bürger“ sprengt aber eben gerade nicht das bürgerliche Denken: 

„Nietzsche, der Immoralist, der Umwerter aller Werte, richtete seine Kritik gegen die bürgerliche Welt, gegen deren Selbstwiderspruch und Ideologie; aber seine Kritik ist keine objektiv-historische, sondern eine subjektiv-moralische, individuelle; die Widersprüche erscheinen als Unaufrichtigkeit, die Ideologie als Heuchelei, und zu überwinden sind sie nach Nietzsches Auffassung durch einen neuen Menschen, nicht durch eine neue Gesellschaft.“(26)

Aber die Attraktivität Nietzsches für die Postmodernisten speist sich noch aus einer anderen Quelle, denn schon bei ihm findet sich das Kernargument für den Feldzug gegen die großen Erzählungen: 

„Ausgangspunkt ist Nietzsches These, die begrifflich verallgemeinernde Ratio vergewaltige das Einzelne und Besondere. (…) Verallgemeinerung bewirke Totalisierung.“ (27)

Geistige Gleitcreme 

Nicht nur Nietzsche war „anti-bürgerlich“, auch seine Epigonen legen großen Wert auf die „subversive Geste“.

„Anything goes“ – das klingt gut, weil libertär und anti-doktrinär, und dennoch ist die postmoderne Beliebigkeit gleichbedeutend mit der Aufgabe jeder ernsthaften Gesellschaftskritik.

Der Postmodernismus „geriert sich geradezu als kritisches Gewissen einer aus den Fugen geratenen „Moderne“ (28), aber ein Blick hinter die Phrasen und die Frage nach dem cui bono ergeben schnell:

„Das postmoderne Denken (ratifiziert) den herrschenden Zustand der spätkapitalistischen Entfremdung.“ (29) 

„Inszeniert wird bei jeder passenden Gelegenheit zwar eine Geste der „Distanz“, aber bitte unbedingt unter Vermeidung der „schrecklich totalitären Dogmatik“ (Derrida) einer radikalen Kapitalismuskritik“ (30)

Lyotard wirkt wie ein Stichwortgeber für TINA (There is no alternative):

„Es gebe „zum Kapitalismus keine globale Alternative“ und „keinen Emanzipationshorizont mehr“ ( 31).

Dass er dennoch (immer noch) in linksintellektuellen Kreisen punktet, hat einerseits zu tun mit der „pariserisch-schicken Verkleidung des heimeligen alten Irrationalismus (Jean Amery, 31a), andererseits aber auch etwas mit der veränderten arbeitsweltlichen und materiellen Situation dieser Intelligenz selbst: 

„Seine ideologische Funktionalität besitzt das postmoderne Denken als Legitimationsfolie des neuen, neoliberalen Typus des käuflichen Dienstleistungsintellektuellen, für den die „traditionelle“ Orientierung an Wahrheit und Weltverbesserung im Allgemeininteresse dysfunktional geworden ist. (…) Für diese kapitalistisch-marktwirtschaftliche Penetration gerade auch des geisteswissenschaftlichen Sektors wirkt das postmoderne Denken wie eine geistige Gleitcreme.“ (32)

Oder lassen wir es Religionsstifter Lyotard auf den Punkt bringen: „Vernunft und Macht sind eins“ (33) 

Geschichtslose Geschichtszerstörung 

Der Postmodernismus versteht sich (nach dem Zusammenbruch des „Projekts der Moderne“) als Denken nach Aufklärung und Humanismus, will aber gleichwohl auch den Geschichtsbegriff generell „destruieren“: 

„Die Philosophie der Postmoderne wendet sich im zweifachen Sinn gegen Geschichte und Geschichtlichkeit: Zum einen siedelt sie die Postmoderne im Nachgeschichtlichen an, zum anderen ist sie gewillt, die geschichtliche Anschauung und Erkenntnis zu entleeren und abzusetzen, zu zerstören und aufzulösen (…) (34)

„Nachgeschichtlich“ heißt eben auch und vor allem: Ende der Geschichte. Womit wir bei Fukujama wären, der sich als lupenreiner Postmodernist erweist:

„Was Hegel oder Marx Geschichte nennen, die Entwicklungsschritte der menschlichen Gesellschaft insgesamt, von Bauernkulturen über Monarchien bis zur heutigen liberalen Demokratie, braucht nicht eine gerade Linie zu sein, aber jedenfalls ist es kein Kreis .

Es gibt eine Richtung auf ein Ziel hin, und dieses Ziel – die liberale Demokratie – ist im Wesentlichen erreicht.“ (35)

Die philosophischen Grundlagen wurden ein Jahrzehnt zuvor gelegt:

„Denn es gibt nach Lyotard ein Allgemeines: den Antagonismus, und damit meint er vor allem den ewigen Antagonismus von Kapital und Arbeit. Die Geschichte kommt mit dem Kapitalismus zu Ende!“ (36)

Entsprechend hemdsärmelig verfahren die Postmodernisten mit der Geschichte im Allgemeinen und der „Moderne“ im Besonderen, die ja in zwei Perioden unterteilt werden muss:

Die aufsteigende Periode der revolutionären, anti-feudalen und anti-klerikalen Bourgeoisie, der frühbürgerlichen Moderne von Aufklärung und Humanismus und der absteigenden Periode der spätbürgerlich-kapitalistischen Moderne. 

Die Warenökonomie des spätbürgerlichen Kapitalismus blamiert die frühbürgerlichen Ideale des revolutionären Bürgertums (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit):

„So verfällt der Modernismus seinem eigenen Gesetz, wenn er durch prätendiert antimodernistische Strömungen abgelöst wird (…).

Wie der bürgerliche Liberalismus in der Ökonomie in sein Gegenteil, die Herrschaft der Monopole umschlägt, so die Aufklärung in die instrumentelle Vernunft der Technokraten, die Gerichtetheit des Fortschritts in die Ziellosigkeit der modischen Innovationen.“ (37)

Insofern ist der Postmodernismus „eine ideologische Reaktion auf die bürgerlich-kapitalistische Selbstnegation der Moderne.“ (38)

Die Pointe des Postmodernismus besteht nun darin, die aufsteigend-frühbürgerliche Tradition negativ und die absteigend-spätbürgerliche positiv zu bewerten – das muss er auch, will er den „Hauptfeind“, das Vernunftideal der Aufklärung, bekämpfen können. 

Unfähig / unwillig Wesen und Erscheinung auseinander zu halten (schließlich sind das auch „Großerzählungen“), kommt der Postmodernismus gar nicht auf die Idee, die Ursache für die Nichteinlösung der aufklärerischen Versprechen in der realkapitalistischen Schleifung der frühbürgerlichen Ideale zu suchen: 

„Einerseits erfolgt der Übergang des aufgeklärt-antifeudalen Bürgers zum profitlogisch kalkulierenden „freien Unternehmer“ (der Bürger mausert sich zum konkurrenzfähigen Kapitalisten); andererseits wird aber die allgemeinmenschlich verkleidete „Aufstiegsideologie“ als legitimatorische Fassade - wenn auch in reduzierter und herrschaftsfunktional abgeschwächter Form - aufrechterhalten.

Es entsteht somit der Schein des aus dem Geist der Aufklärung und dem Vernunftideal handelnden Kapitalisten.“ (39)

Das wiederum erklärt die Attraktivität „poststrukturalistischer“ Theoreme auch für Teile der „Bewegungslinken“. 

Freiheitsrechte und ihr sozialer Inhalt

Die Beliebtheit „postmoderner Diskurse“ nicht nur bei „Bewegungsphilosophen“, sondern z.B. auch bei der LINKE-Strömung „Forum demokratischer Sozialismus“ knüpft an am „intellektuellen Kredit“ der Postmodernisten (40), nämlich ihrem Eintreten für Minderheitenrechte und alternative, nonkonforme Lebensstile, und deren Verteidigung gegen die totalitäre Nivellierung von Besonderheit und Individualität. 

„Wir erlebten einen Widerstreit heterogener Diskursarten, Wissensarten, Lebensformen.“ (41)

Das ist fast wortgleich dem, was Lederer im eingangs vorgestellten Zitat verkündet. 

Zur unvermeidlichen Begleitmusik jeder (post)modernen Kritik an „Traditionslinken“ gehört deshalb der Verweis auf die angebliche Abwesenheit der „Freiheitsrechte“ in deren politischen Konzeptionen. 

Revolutionäre MarxistInnen folgen der stalinistischen (pardon „traditionskommunistischen“) Replik insofern, als die Kritik an der formalen Hohlheit der bürgerlichen Freiheitsrechte unter kapitalistischen Bedingungen völlig korrekt ist (jeder hat das „Recht“, einen multinationalen Konzern zu gründen, leider fehlt manchen das nötige Kleingeld / es macht einen Unterschied, ob wir unsere Meinung in einem linken Internetforum oder in der BILD-Zeitung kundtun können). 

Es ist aber grundfalsch und brandgefährlich, die Freiheitsrechte gegen soziale Rechte auszuspielen, etwa mit der Argumentation, dass wenn es ums Ganze geht (etwa bei der Verteidigung der kubanischen Revolution gegen den US-Imperialismus) schon mal auf den Luxus der „formalen“ Freiheitsrechte verzichtet werden kann. 

Dem muss prinzipiell entgegengehalten werden, dass sozialistische Demokratie (egal wie sie en detail aussehen wird) eine „Aufhebung“ der bürgerlichen Demokratie sein muss und also nicht weniger, sondern mehr auch „abstrakte“ Freiheitsrechte beinhalten wird.

Darüber hinaus muss auch politisch deutlich gemacht werden, dass z.B. durch die unbestreitbare Einschränkung von Freiheitsrechten in Kuba (dort sitzen nicht nur konterrevolutionäre Bombenleger im Knast) der Verteidigungskampf gegen den Imperialismus nicht gestärkt, sondern geschwächt wird. 

Die größten Kritiker der Elche sind meistens selber welche 

Zu den Paradoxien des postmodernen Diskurses gehört, dass die Kritik der großen Erzählungen selbst eine „große Erzählung“ ist, genau wie die Forderung / Verkündung der „Ideologiefreiheit“ selbst eine (der größten) Ideologien.

Denn was sind / woher kommen die Werte und Normen, die „Differenz“ und „Besonderheit“ konstituieren und schützen?

Freiheit und Demokratie (Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit), also doch eigentlich zu „destruierende“, totalitäre Großerzählungen! 

Aber die Kritik an den Großerzählungen blamiert sich auch an der (neoliberalen) Realität: 

Durch „die Krisenhaftigkeit im postfordistischen Kapitalismus wächst vielmehr die Suche nach der Rekonstituierung von ganzheitlichem (Lebens)Sinn. So kehren, wie Burger zutreffend festgestellt hat, „die vielen großen Erzählungen gerade wieder, und zwar in ihrer primitivsten, narrativ konstruierten Form als Erzählung der nationalen, der ethnischen, ja der rassischen Identitäten. Das ist die unangenehme Wahrheit der post-postmodernen  Pluralität.“ (42)

Eleganter Unsinn – Die „Sokal-Affäre“ 

Zu den Merkmalen des Postmodernismus gehört auch die Tendenz zu einer nicht mehr allgemein verständlichen und verbindlichen „Privatsprache“ (auf diskursivdeutsch: „Codes“): 

„ Ein Lebenslauf ließe sich zum Beispiel ebenso in Form eines Horoskops wie eines Krankenblatts des Hausarztes wie eines Schuldbekenntnisses im Beichtstuhl ausdrücken; nur müssten sich an allen drei Codes Übereinstimmungen im formalen „Arrangement“ von Konstanten aufweisen lassen.“ (43)

Die als „Entzauberung der Entzauberung“ gestartete Postmoderne zielt mit ihrem Postulat der Ununterscheidbarkeit von wahr und falsch am Ende auf die Zerstörung jeder Grundlage von wissenschaftlicher Kommunikation: 

„Wissenschaft besitzt von nun an keine höhere Wahrheitsgewähr als zum Beispiel das Kartenlegen, die Zahlenmystik oder die Schlagzeilen der Boulevardpresse (..) Ob man sein Wissen aus wissenschaftlichen Untersuchungen, Kneipengesprächen oder Horoskopen zieht, wird somit zu einer Frage des subjektiven Geschmacks bzw. der persönlichen traditionellen Vorlieben.“ (44)

Mensch kann sich diesem Phänomen schwerblütig-philosophisch, aber auch heiter-empirisch nähern.

So wie der amerikanische Physiker Alan Sokal, der 1996 einen Aufsatz mit dem Titel

„ Die Grenzen überschreiten: Auf dem Weg zu einer transformativen Hermeneutik der Quantengravitation“ bei der für ihre postmoderne Ausrichtung bekannten Zeitschrift ‚Social Text’ einreichte. 

Nachdem er dort anstands- und kommentarlos abgedruckt worden war, bekannte Sokal, dass es sich um eine Parodie handle. Er hatte planlos und sinnfrei zusammengesuchte Zitate postmoderner Denker zu einem Text montiert.

Bei Beachtung elementarer wissenschaftlicher Standards hätte der unsinnige Inhalt des Textes von der Redaktion erkannt werden müssen, so Sokal, dem damit aber immerhin der „Nachweis der eingeborenen Scharlatanerie“ (Thomas Metscher) des Postmodernismus gelungen ist. 

Maikinder

Eine Antriebskraft für viele (nicht alle) postmodernistischen Vordenker ist die Enttäuschung der teilweise voluntaristischen  68er-Revolutionshoffnungen: 

„Es waren ja fast alles enttäuschte Maikinder, die sich nach dem Scheitern der großen Bewegung 1968 zunächst linksradikalen Gruppierungen anschließen, um dann mit der Entlarvung des „totalitären“ Marx die eigene Vergangenheit zu bewältigen.“ (45) 

Prototypisch für eine solche Entwicklung steht Andre Glucksmann, der rasend schnell vom Super-Militanten bei „Gauche Proletarienne“ zum Totalitarismus-Kritiker mutierte.

„Köchin und Menschenfresser“ (46) verortete schon 1976 die Ursache des GULAG bei Marx.

Ein Jahr später zog auch er gegen „Die Meisterdenker“ (47) der Aufklärung und des Humanismus in die Schlacht. 

Auschwitz als Folge des Vernunftideals 

Am Ende übertreffen die ex-linken Totalitarismus-Forscher ihre rechten Kollegen deutlich:

„Brutal gesprochen möchte ich sagen, dass ein Wort das Ende des modernen Vernunftideals ausdrückt, das ist: Auschwitz.“ (48)

„Das Wort ist ungeheuerlich: Da werden alle Grundverbrechen des Kapitalismus aufgezählt, er selbst aber als Ursache verschwiegen und dafür die Aufklärung, der beste Beitrag des Bürgertums zur Weltkultur, als Ursache der abscheulichsten Verbrechen ausgegeben.“ (49)

Woran scheiterte die Linke?

Bei der Beantwortung dieser Frage verfährt der ISM-Aufruf nach dem Pippi Langstrumpf-Prinzip „Wir machen uns die Welt, wie sie uns gefällt“.

Trotz unserer fundamentalen Kritik an der Denkfigur verbleiben wir in der Welt von Moderne und Postmoderne, um die ISM-Argumentation nachzuvollziehen.

Also, woran scheiterte die „alte“ Arbeiterbewegungslinke?

„Die industrielle Linke stieß jedoch an ihre politischen Grenzen, als der moderne Industriekapitalismus an seine Wachstums und Ressourcengrenzen stieß.“

Wann tat er das?

„Die Grenzen des Wachstums“ des ‚Club of Rome’ erschien 1972.

Das Scheitern, ja die schrecklichen Niederlagen der Arbeiterbewegung des 20. Jahrhunderts sind weit früheren Datums:

Die Zustimmung zu den Kriegskrediten 1914 markiert den endgültigen Übergang der Sozialdemokratie und in der Folge (fast) der gesamten II. Internationale in das Lager des Imperialismus. Zwei Jahrzehnte später liquidiert Stalin die aus dieser Katastrophe entstandene Komintern und die bolschewistische Partei in der SU, um zum Komplizen Hitlers zu werden. 

Diese zweifache Deformation der Arbeiterbewegung durch Sozialdemokratie und Stalinismus markiert das Scheitern der „Industrie-Linken“ lange bevor die ökologische Frage die geschichtliche Bühne betritt. 

Und dieses Scheitern der alten Linken ist gleichzeitig der Ausgangspunkt der neuen Linken, die sich politisch konstituierte als revolutionäre, anti-kapitalistische, anti-bürokratische und anti-imperialistische Alternative zur sozialdemokratischen wie stalinistischen Variante des Reformismus.

Was aus diesem Aufbruch wurde, ist eine andere Geschichte.

Unbestreitbar ist auch, dass nicht nur die alte Linke, sondern auch die marxistische neue Linke teilweise zu spät und teilweise zu taktisch auf „neue“ Fragestellungen / Bewegungen  (Patriarchat / Frauenbewegung, Endlichkeit der natürlichen Ressourcen / Ökologiebewegung) reagierte. 

Die ISM-Analysten verdrängen aber erstens die revolutionär-antikapitalistischen Wurzeln z.B. der „zweiten“ Frauenbewegung, die den Marxismus eben nicht überwinden, sondern feministisch weiterentwickeln wollte (50) und zweitens die anhaltende Bedeutung der „alten“ Fehler:

Rifondazione Communista ist nicht an mangelnder ökologischer oder feministischer Sensibilität gescheitert, sondern an schnödem Millerandismus! 

Fazit 

Das Neue an der neuen Denkwerkstatt ist nicht die „Versöhnung“ von Moderne und Postmoderne, sondern die „Versöhnung“ des klassischen Reformismus mit dem neuen Reformismus einer poststrukturalistisch vernebelten, kleinbürgerlichen „Bewegungslinken“, die jetzt auch mal „Realpolitik“ machen will. 

Allerdings scheint die Rechnung womöglich ohne den Wirt gemacht, denn es ist ja keineswegs sicher, dass die Bourgeoisie noch mal Verwendung findet für eine vollkommen „entleerte“ Sozialdemokratie.

Macht aber nichts – eine neo-nietzscheanische „Linke“ dürfte keine politischen Hemmungen und keine intellektuellen Schwierigkeiten haben, auch Schwarz-Grün (selbstverständlich diskursiv) zu „denken“. 

Auch in der LINKEN sind sowohl der traditionelle (vertreten etwa durch Klaus Ernst) als auch der „postmoderne“ Reformismus (repräsentiert etwa durch Katja Kipping) vertreten.

Beiden mit revolutionären und antikapitalistischen Alternativen entgegen zu treten, wird nicht einfach, ist aber notwendig. 

Für diese Auseinandersetzungen wappnen wir uns am Besten durch das kritische und hartnäckig-„industrielinke“ Festhalten am „Großerzähler“ Marx. 

Fußnoten:

 

(1)   Thomas Seibert, „Spontanität, Kalkül und Autonomie. Strategie und Organisationsfragen der Mosaiklinken“
(2)   Unter:  www.solidarische-moderne.de
(3)   Horst Schulz,  „Die Linksverteidiger des Kapitals in der Wirtschaftskrise“,  in:  „Proletarische Briefe“ vom 3.3.09
(4)   siehe Anm. (12)
(5)   Andre Gorz,  „Abschied vom Proletariat – Jenseits des Sozialismus“,  EVA  Frankfurt/M. 1980
(6)   In gewisser Weise ist Gorz auch der „Urvater“ des „Bedingungslosen Grundeinkommens“, er forderte als erste die Abkoppelung des Rechts auf Einkommen vom recht auf Arbeit.
(7)   Negri / Hardt,  „Empire – Die neue Weltordnung“,  Campus  Frankfurt/M. 2002
Negri gehört zu den prägenden Figuren des so genannten „Operaismus“, schon in den 1970-igern als Generalsekretär von  „Potere Operaio“ verkündete  er das „Ende des Werts“ und die neue Ära des „gesellschaftlichen Arbeiters“. Zur Kritik an Negri: Sascha Stanicic,  „Empire oder Imperialismus?“,  auf:  
www.sozialismus.info
(8)   Für die klassische „Neue deutsche Wertkritik“ stehen v.a. Robert Kurz und die (inzwischen gespaltene) KRISIS-Gruppe. Zur aktuellen Auseinandersetzung um die „Monetäre Wertlehre“: Michael Heinrich,  „Wie das Marxsche ‚Kapital’ lesen?“,  Schmetterling-Verlag 2009 Wolfram Klein,  „Kritik der Heinrich’schen Marx-Darstellung“,  als SAV-Broschüre oder auf: 
www.sozialismus.info
(9)   Anselm Jappe,  zitiert nach:  Hanloser/Reitter,  „Der bewegte Marx – Eine einführende Kritik des Zirkulationsmarxismus“,  Unrast-Verlag 2008
(10)   siehe Anmerkung (12)
(11)   siehe Anmerkung (12)
(12)   E. Lieberam und W. Seppmann leiten im Rahmen der Marx-Engels-Stiftung in Wuppertal das „Projekt Klassenanalyse@BRD“. Der Text „Auf der Suche nach dem Subjekt der Veränderung“ von Werner Seppmann erschien zuerst als zweiteilige Doppel-Mittelseite der JW, hier zitiert nach
www.kominform.at , alle in diesem Kapitel folgenden Zitate, Zahlen und Belege ebenda.
(13) bis (15):  Seppmann, a.aO.
(16)   Eine rühmliche Ausnahme ist Marianna Schauzu mit ihrer lesenswerten Kritik „Antisozialistische Agenda“ in der JW vom 6.10.09.
(17)   zitiert nach Schauzu a.a.O.
(18)   in:  J.-F. Lyotard,  „Das postmoderne Wissen“, Paris 1979
(19)   Hartmut Krauss,  „Das umstrittene Subjekt der ‚Postmoderne’ „   in:  „Gescheiterte Moderne? Zur Ideologiekritik des Postmodernismus“, Herausgeber:  Hermann Kopp / werner Seppmann,  Neue Impulse Verlag 2002
(20)   Andras Gedö,  „Die Philosophie der Postmoderne im Schatten von Marx“, in:  Kopp/Seppmann, a.a.O.
(21)   Robert Steigerwald,  „Postmoderne ist neue Melodie zu altem Text“, in:  Kopp/Seppmann, a.a.O.
(22) und (23)   Krauss, a.a.O.
(24)   Steigerwald, a.a.O.
(25)   Wolfgang Welsch, zitiert nach „Vorwort der Herausgeber“ in:  Kopp/Seppmann, a.a.O.
(26)   H.H. Holz,  „Irationalismus – Moderne – Postmoderne“, in:  Kopp/Seppmann, a.a.O.
(27)   Steigerwald, a.a.O.
(28)   Hrsg., a.a.O.
(29)   Krauss, a.a.O.
(30)   W. Seppmann,  „Gescheiterte Moderne?  Das „Postmoderne Denken“ als Krisenideologie“, in:  Kopp/Seppmann, a.a.O.
(31)   Hrsg., a.a.O.
(32)   Krauss, a.a.O.
(33)    zit. Nach Seppmann, a.a.O.
(34)   Gedö, a.a.O.
(35)   Francis Fukujama, in:  ‚Der Spiegel’ Nr. 15/1992, zit. nach Holz, a.a.O.
(36)   Steigerwald, a.a.O.
(37)   Holz, a.a.O.
(38) und (39)   Krauss, a.a.O.
(40)   Seppmann, a.a.O.
(41)   Lyotard,  „Der Widerstreit“, zit. nach Steigerwald, a.a.O.
(42)   Rudolf Burger,  „Das Denken der Postmoderne – Würdigung einer Philosophie für Damen und Herren“, in:  ‚Leviathan’, zit. nach Krauss, a.a.O.
(
43)   Holz, a.a.O.
(44)   Michael Schmidt-Salomon,  „Erkenntnis aus Engagement – Grundlegung zu einer Theorie der Neo-Moderne“, zit. nach Krauss, a.a.O.
(45)   Oscar Negt,  „Rückruf aus der Postmoderne – Rorty und die Linke“, zit. nach Krauss, a.a.O.
Ähnlich argumentierend.  Alex Callinicos,  „Against Postmodernism – A Marxist Critique“
(46)   Andre Glucksmann,  “Köchin und Menschenfresser – Über die Beziehung zwischen Staat, Marxismus und Konzentrationslagern“, 1976

(47)   A. Glucksmann,  „Die Meisterdenker“,  DVA, Stuttgart 1987
(48)   Lyotard zit. nach Steigerwald, a.a.O.
(49)   Steigerwald, a.a.O.
(50)   vgl. Gisela Notz,  „Wohin flogen die Tomaten? – Entstehungsgeschichte(n), Risiken und Nebenwirkungen der Neuen Frauenbewegung“, in:  Sozialistische hefte 16, April 2008, in:  SoZ  „um 1968 herum“

Editorische Anmerkungen

Wir erhielten den Artikel  von den Autoren zur Veröffentlichung in dieser Ausgabe.