Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Ein Kommentar zu den Hintergründen des (vorläufigen) Streik-Ausgangs in Frankreich

11/10

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Keine Niederlage à la Thatcher 1985, aber trotzdem eine Niederlage. Die Gewerkschaftsapparate als solche sind freilich nicht geschwächt, sondern provisorisch konsolidiert oder sogar gestärkt. Doch was gut ist für die Gewerkschaftsapparate, ist deswegen noch nicht unbedingt gut für die Lohnabhängigen…

Es war einmal, in der gegenwärtigen Zeit, ein nicht allzu fernes Land. Dort gab es einen Präsidenten – eigentlich hätte er gerne Kaiser werden wollen, aber der Titel war gerade nicht im Angebot. Der Präsident hatte drei Berater, die ihm darüber Aufschluss geben sollten, wie er mit den bösen Gewerkschaften und anderen finsteren Kräften zu verfahren habe. Der erste der drei Berater war ein sozialer Konsenstechniker. Der zweite war ein beinharter Wirtschaftsliberaler. Der dritte war ein waschechter Rechtsradikaler, unter anderem fürs Rassistische und die „nationale Identität“ zuständig. Die drei verschrieben dem Staatschef je einen unterschiedlichen Zaubertrank. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann wirken unsere Quacksalber auch heute noch.

Alle genannten Figuren gibt es wirklich. Der Staatschef heißt Nicolas Sarkozy. Und die drei Berater, der Reihenfolge ihres Auftritts nach: Raymond Soubie, Alain Minc und Patrick Bouisson. Und doch benötigt die Geschichte eine kleine Abwandlung. Denn in den letzten Wochen - also während der heftigen Konflikt um die so genannte Rentenreform - schien Soubie zeitweilig auf Tauchstation gegangen und politisch marginalisiert worden zu sein. Der Mann bleibt bereits auf eine längere Karriere als Sozialtechniker der bürgerlichen Rechten in Frankreich zurück: Seit 1969 war er für gaullistische Regierungen tätig. Seit 2007 berät er Nicolas Sarkozy; und im darauf folgenden Jahr vermochte er es, durch das neue Gesetz zur gewerkschaftlichen Abschlussfähigkeit (Tariffähigkeit) vom 20. August 2008 – das die stärksten Dachverbände CGT und CFDT stärkt und zu Lasten der kleinen, rechteren oder gelben Gewerkschaften aufwertet – auch die „postkommunistische“ CGT erfolgreich einzubinden. (Vgl. auch http://www.cheminots.net und http://www.challenges.fr/ oder auch http://www.lejdd.fr/  , wo die Rede davon ist, er unterhalte - zumindest noch zu Anfang des Jahres 2010 - „beste Beziehungen zu Bernard Thibault“, dem Generalsekretär der CGT.) Diese bildete bis dahin für einen Teil der französischen Konservativen ein rotes Tuch, doch nun schien ihre Integration zu gelingen.

Aber in jüngster Zeit verlor die „Linie Soubie“ zum Teil massiv an Boden. Ende November nun wird er von seinem Amt als Präsidentenberater Abschied nehmen und, im Alter von über 70, in die Privatwirtschaft gehen. Dies wurde im Prinzip schon im Juli dieses Jahres bekannt (vgl. http://www.20minutes.fr), und wurde nunmehr jüngst bekräftigt. (Vgl. http://www.leparisien.fr/  : „Der letzte Kampf des Raymond Soubie“… Siehe auch die Titelseite von ,Le Monde’ vom 27. Oktober 10: http://www.lemonde.fr  ) Es scheint sich also zu bestätigen, dass er mehr oder weniger abgesägt worden ist. Und dennoch trägt der Ausgang des Kräftemessens der sozialen Kräfte um die „Rentenreform“, das vorläufig entschieden zu sein scheint, maßgeblich seine Handschrift. CGT-Generalsekretär Bernard Thibault sprach selbst öffentlich „Kontakte“ zu Raymond Soubie an, die es freilich „nicht erlaubt (hätten)“, an den Inhalten der Reform etwas zu ändern. Und zwar sowohl Anfang September 10, vor der massiven Streikwelle (vgl. http://www.lepoint.fr/  oder http://tempsreel.nouvelobs.com/ ) - als auch, erneut, Ende Oktober 10 (vgl. http://www.liberation.fr/  oder http://www.filpac.cgt.fr/ ; die Rede ist hier bei Thibault von einem „oberflächlichen Kontakt“ zu Soubie).

Allerdings wollte Raymond Soubie im Zusammenhang mit der Renten,reform’ auch zu keinem Zeitpunkt an deren Grundinhalten rütteln. Zumal er selbst eine nicht unwesentliche Rolle beim Ausformulieren der „Reform“ gespielt hatte (vgl. http://da-esterel.over-blog.fr/ ), auch wenn er sie um sein taktisches und „diplomatisches“ Geschick beim Einbinden der Gewerkschaft(sführung)en ergänzte. Im Übrigen war er es, der darauf gedrungen hatte, die „Reform“ im Herbst 2010 im Parlament zu verabschieden, und nicht - wie die Vorgänger„reform“ (Gesetz vom 24. Juli 2003) oder das Herumbasteln am Kündigungsschutz in Kleinbetrieben (Verordnung vom 02. August 2005) - im Hochsommer und in der französischen Urlaubsperiode „durchzuziehen“. Letztere Option war jene, für die der bis Anfang 2010 amtierende Sozial- & Arbeitsminister Xavier Darcos plädiert hatte. Doch Raymond Soubie verknüpfte mit dem Hinausschieben der offiziellen Verabschiedung auf den Herbst zunächst noch die Hoffnung, dadurch erscheine die Regierung als „um den Dialog mit den Gewerkschaften bemüht“, „statt das Hau-Ruck-Verfahren zu wählen“. Dann machte ihm jedoch das Hochkochen der Korruptionsaffäre um Arbeitsminister Eric Woerth im Laufe des Sommers 2010 einen teilweisen Strich durch die Rechnung, da er den politischen Preis für die „Reform“ in die Höhe trieb: Ein Minister, der (u.a. im Falle der Multimilliardäre Liliane Bettencourt und Guy Wildenstein) Steuerhinterziehung in mehrfacher Milliardenhöhe politisch gedeckt hatte, schien nun nicht mehr wirklich der richtige Mann, um auf „leere Kassen“ zur Begründung der „Notwendigkeit einer Reform“ zu pochen. Im Nachhinein erhoben nun Teile der regierenden Rechten seine „zu zögerliche und abwartende Politik“ Raymond Soubie zum Vorwurf. (Vgl. ,Le Monde’ vom 21. Oktober 10, Seite 12; vgl. http://www.lemonde.fr/ )

Ein vorläufiges Fazit

Das gesellschaftliche Ringen um die rückwärts gerichtete „Reform“ scheint vorläufig entschieden: Das Gesetz wurde am 27. Oktober 10 nun durch beide Parlamentskammern in letzter Lesung angenommen und harrt nur noch auf seine Unterschrift durch den Präsidenten; und die Streiks in Raffinerien & Häfen gingen am 29. und 30. Oktober 10 zu Ende. Die Streikenden haben sich in der zentralen Frage, jener der grundsätzlichen Anhebung der Lebensarbeitszeit – die von einigen Ausnahmeregelungen für kinderreiche Mütter (zunächst angekündigt: „der Jahrgänge vor 1960“, übrig geblieben: „geboren zwischen Juli 1951 bis Dezember 1955“ ) und körperbehinderte Lohnarbeiter begleitet ist – gegenüber einer extrem entschlossenen Regierung nicht durchsetzen können. Und dennoch stand aus deren Sicht noch wesentlich mehr auf dem Spiel, wobei sich aber ihr anvisierter Strategiewechsel nicht bewährt hat.

Alain Minc wünschte Sarkozy in einer ähnlichen Statur zu sehen wie die britische Premierministerin Margarat Thatcher 1985, nachdem sie – infolge ihres Siegs über die englischen Bergarbeiter unter Arthur Scargill und ihren fast einjährigen Streik – den Gewerkschaften eine noch lange Jahre nachhallende, deftige Niederlage beibringen konnte. Ihm pflichtete Patrick Buisson bei. Er war in den achtziger Jahren u.a. Autor eines - verherrlichenden - Buches über die rechte Terrororganisation während der Jahre des Algerienkriegs OAS (erschienen 1984 unter dem gleichnamigen Titel, ‚OAS’) und, 1986/87, Chefredakteur der „traditionsreichen“ rechtsextremen Wochenzeitung ,Minute’, die seit der Schlussphase des Algerienkriegs (1961) erscheint. Er stand lange Zeit zwischen den Konservativen und Jean-Marie Le Pen - und berät seit 2007 Sarkozy, dem er in seinen Augen erfolgreiche „populistische“ Rezepte unterbreitet.
Beide Herren zusammen rieten Sarkozy, dass er bei der geplanten „Reform“ keinerlei Rücksicht auf die Gewerkschaften nehmen solle. Falls ein Teil von deren Basis sich radikalisiere, wie andere Konservative fürchteten, und es zu militanten Protesten komme, dann sei dies gut und nicht schlecht: Weil Minc & Buisson ihr politisches Lager für stark genug hielten, dies einfach durchzustehen, treibe es nur ängstliche Bürger aus der politischen Mitte in die Arme der Rechtsregierung.

Angesichts der Stärke der Proteste und einer sozialen Wut, die noch breiter gestreut ist als von regierungsnahen Analytikern erwartet, ging diese Rechnung so nicht auf. Die Lage hätte vergangene Woche kippen können, denn hätte der Streik in Raffinerien und Häfen noch ein paar Tage länger gedauert, wäre es zu einer ernsthaften Treibstoffknappheit und -krise gekommen: Ab dem Dienstag, 26. Oktober 10 war (laut ,Le Monde’, im Nachhinein) die zeitweilige Schließung erster Unternehmen, in der westfranzösischen Lebensmittelindustrie, infolge der Kraftstoffverknappung angekündigt worden. Verlieren Einzelkapitalisten erst einmal richtig Geld, dann beginnt irgendwann auch ein Teil der Bourgeoisie gehörigen Druck auf die Regierung zu entfalten, auf dass sie nachgibt oder einen „Kompromiss“ findet.
So weit kam es nicht. Denn auch die stärksten Gewerkschaftsdachverbände, CGT und CFDT, suchten die wirkliche Kraftprobe letztlich nicht. Dazu trägt sicherlich bei, dass ihre Apparate in beiden Fällen eine „Lösung“ der aktuellen sozialen Probleme auf Dauer von einer Regierungsübernahme der Sozialdemokratie erhoffen. Doch diese hat wichtige Grundfragen ihrer strategischen Ausrichtung – zwischen links oder sozial klingendem Diskurs- und grundlegender Akzeptanz der neuen „Zwänge“ des Kapitalismus in seiner heutigen Gestalt – noch nicht entschieden und ist noch zur Regierungsübernahme „bereit“. Deshalb wollen die Protagonisten der betreffenden Apparate nunmehr doch das Wahljahr 2012 abwarten, statt eine ernsthafte politische Krise und einen eventuellen Rücktritt der Regierung zu riskieren.

Aber dies ist noch nicht alles. Denn als sich der Konflikt in der zweiten Oktoberhälfte zuspitzte, wurde Raymond Soubie hinter den Kulissen zurückgerufen. Nur er konnte es noch richten – es gelte, hatte die Regierungsspitze entschieden, die Gewerkschaftsführungen doch noch notgedrungen einzubinden. Vor allem die, in ihrem Kernbereich rechtssozialdemokratische, Spitze der CFDT ließ sich nicht lange bitten. Ihr wurde ein – durch Soubie mit eingefädeltes – Angebot zur Verhandlung mit dem Arbeitgeberverband MEDEF unterbreitet, das CFDT-Generalsekretär François Chérèque sich (anlässlich eines Fernsehauftritts zusammen mit MEDEF-Chefin Laurence Parisot am 25. Oktober) anzunehmen beeilte. Auch die, einst „kommunistische“ und an der Spitze längst sozialdemokratisierte, CGT zierte sich jedoch nicht wirklich.

Beide Apparate setzen nun darauf, in den Betrieben und Branchen zu verhandeln, um die Auswirkungen der „Rentenreform“ abzumildern, deren Inkrafttreten sie damit aber de facto azekeptieren. Die CFDT setzt darauf, mit den Kapitalverbänden über die Beschäftigung „von Jugend und Senioren“ zu verhandeln, da Gewerkschaften befürchten, vor allem die Beschäftigten an den beiden Altersrändern würden durch die „Reform“ benachteiligt: Die Älteren finden – als „unproduktiv“ verschrien – keine Jobs und verlieren aufgrund fehlender Beitragsjahre Geld an der Rente, und die Jüngeren finden wegen der Anhebung der Lebensarbeitszeit noch weniger Jobs. Das soll nun dadurch abgemildert werden, dass Betriebe weniger Sozialabgaben abdrücken, dass sie je einen Älteren einen Jüngeren bei der Jobeinführung betreuen. Weniger Sozialabgaben bedeutet allerdings zugleich eine weitere Austrocknung der sozialen Versicherungssysteme. - Die CGT ihrerseits baut darauf, in Branchen und Unternehmen Tarifverträge abzuschließen, die dort jeweils ein früheres Rentenalter als das gesetzliche erlauben. Nur wird ihr das allenfalls dort gelingen, wo das Kräfteverhältnis für sie günstig ist – in vielen anderen Betrieben dagegen nicht.

Es bleibt bei einer Niederlage für die Streikbewegung. Allerdings hat sie die Gewerkschaftsapparate nicht tendenziell ausgeschaltet, wie Thatcher dies 1985 teilweise unternahm und wie Alain Minc oder Patrick Buisson es sich vom Ausgang des Sozialkonflikts um die Renten,reform’ erhofften, sondern in ihrer Funktion als Makler der Ware Arbeitskraft bestätigt. Möge es auch einem Teil der regierenden Rechten nicht gefallen. Dieser Zustand bleibt freilich vielleicht auch nicht von Dauer.

Editorische Anmerkungen

Den Artikel erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe
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