trend spezial: Aufruhr in Frankreich

Gravierende Angriffe
auf das Streikrecht


Bernard Schmid berichtet aus Frankreich, Stand: 27.10.2010
 

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Dienstverpflichtung in streikenden Raffinerien und jetzt auch bei der Müllabfuhr in Marseille. Im Fall der Raffinerie von Grandpuits (östlich von Paris) hob ein Verwaltungsgericht die entsprechende Anordnung als widerrechtlich auf.

Am morgigen Dienstag kommt ein dritter Aktionstag – zu denen der Gewerkschaftsdachverbände vom 28. Oktober und o6. November – hinzu. Dazu sind die Studierenden durch ihre Gewerkschaft UNEF aufgerufen. Die Gesetzesvorlage zur „Reform“ ist am Freitag Abend durch den Senat angenommen worden und passierte heute den parlamentarischen Vermittlungsausschuss zwischen den beiden Parlamentskammern (Nationalversammlung und Senat). Am heutigen Montag um 13 Uhr konnten die beiden Kammern sich im Ausschuss auf eine gemeinsame Fassung des Gesetzestextes einigen. Am Mittwoch ist mit einer definitiven Annahme der „Reform“ durch das französische Parlament zu rechnen. Eine Unterzeichnung des Gesetzes durch Staatspräsident Nicolas Sarkozy ist für circa den 15. November geplant.

Unterdessen geht der „Lotse“ von Bord: Sarkozys Berater in Sachen „Sozialpolitik“, Raymond Soubie, hat bestätigt, dass er sein Amt an den Nagel hängt und in der Privatindustrie tätig wird. Raymond Soubie war der Mann gewesen, der seit 2008 – zeitweilig erfolgreich – auf eine Einbindung der „postkommunistischen“ CGT, früher einmal buchstäblich ein rotes Tuch für die französischen Konservativen, gedrungen hatte. Derzeit nimmt die politische Macht in Frankreich nicht einmal mehr auf die „moderaten“ Gewerkschaftsverbände wie die CFDT Rücksicht…!
In Lyon und Paris marschierten unterdessen am Freitag u. Samstag Neofaschisten gegen die protestierende Jugend auf…
 

Raffineriestreik und Treibstoffversorgung

Zu viele „G.s sind des Hasen Tod. Nicht „in der Nähe von Rouen“ – wie es am Freitag an dieser Stelle fälschlich hieß - liegt die Raffinerie von Grandpuits, von der die Treibstoffversorgung des Pariser Raums zum Gutteil abhing und bei der am Freitag früh die Streikposten durch die Polizei abgeräumt wurden. Bei Rouen liegen vielmehr die Raffinerien von Gravenchon und Gonfreville. (Zu viele G.s…) Grandpuits, wörtlich übrigens „großer Brunnen“ oder auch „großes Bohrloch“ – es handelt sich jedoch um eine Raffinerie und nicht eine Bohrstelle -, befindet sich östlich von Paris, im Verwaltungsbezirk Seine-et-Marne.

Seit Freitag früh um o3.30 Uhr begann dort die Räumung der Streikposten. Die Pariser Zentralregierung hatte zuvor, „im Namen der nationalen Verteidigung“ (sic), die ,réquisition‘ – also „Beschlagnahmung“ oder „Dienstverpflichtung“ – der dortigen Raffinerie angeordnet. Um circa o8.30 Uhr hatte es die Bereitschaftspolizei CRS geschafft, die Kette der Streikposten zu durchbrechen. Bei den Auseinandersetzungen wurden drei Gewerkschafter verletzt, und einige Teilnehmer/innen an den Ketten wurden mit Füßen getreten, Brillen wurden zerdeppert oder Knöchel verstaucht. Im Laufe des Tages kam es zu weiteren Reiberereien, da u.a. aus Paris Verstärkung – Streikende aus anderen Sektoren, Gewerkschafter (u.a. von SUD) – eingetroffen war.

Am Abend hob das Verwaltungsgericht in der Bezirkshauptstadt Melun, per Erlass einer „einstweiligen Verfügung“, die Anordnung zur Dienstverpflichtung auf. (Vgl. http://www.lefigaro.fr/) Daraufhin erließ der in Melun ansässige Präfekt allerdings eine neue.

Auch in anderen, vergleichbaren Fällen haben Verwaltungsgerichte in den letzten Tagen solche „Dienstverpflichtungen“ aufgehoben, doch mehrfach hatten die Präfekten schon eine – anders formulierte – neue in den Schubladen. Hingegen gab das Verwaltungsgericht im westfranzösischen Nantes den Behörden gegen vier klagende, streikwillige Lohnabhängigen der Raffinerie im nahen Donges „Recht“. Die Lohnabhängigen waren per administrativer Anordnung zum Dienst verpflichtet worden und hatten dagegen geklagt, ihre Beschwerde wurde jedoch abgewiesen. Es sei präzisiert, dass auf Zuwiderhandeln im Falle einer Dienstverpflichtung – die i.d.R. wegen „imperativer Sicherheitsgründe“ ausgesprochen wird – den Lohnabhängigen Gefängnis droht.

Bei diesen „Dienstverpflichtungen“ geht es nicht darum, das gesamte streikende Personal zur Arbeit zu karren. Vielmehr geht es (über die üblichen Sicherheitsmannschaften von 15 bis 20 Beschäftigten, die im Streikfalle über den Brandschutz wachen, hinaus) dabei darum, den Abtransport des auf dem Raffineriegelände in Tanks lagernden und bereits zu Treibstoff verarbeiteten Rohstoffs zu gewährleisten. Beispielsweise lagerten auf dem Terrain der Raffinerie von Grandpuits rund 20.000 Tonnen bereits fertigen Treibstoffs. Deren Abtransport sollte eine, jedenfalls vorübergehende, Entspannung der Treibstoffversorgung v.a. im Raum Paris garantieren. (Zum Vergleich: Derzeit importiert Frankreich 100.000 Tonnen Treibstoff täglich, gegenüber einem Drittel so viel in Normalzeiten. Allerdings ist der Import – außer in grenznahen Regionen in der Nähe von Belgien, Deutschland oder der Schweiz – kompliziert und aufwändig, da zahllose Tanklaster durch die Gegend verschickt werden müssen, und wesentlich teurer als der Einsatz in Frankreich verarbeiteten Erdöls.)

Am Wochenende verkündete der französische Umweltminister Jean-Louis Borloo im Namen der konservativ-wirtschaftsliberalen Regierung, es sei „eine Frage von ein paar Tagen“, bis bei der Treibstoffversorgung „eine Beruhigung“ und „Normalisierung“ eintrete. Ähnliches hatte er allerdings bereits schon am vergangenen Dienstag erklärt. Zum Großteil handelt es sich dabei freilich um Bluff und psychologische Kampfführung. Dadurch, und durch das Aussprechen der „Dienstverpflichtungen“ für Teile des Personals, soll die „Kampfesmoral“ der Streikenden untergraben werden. Es soll ihnen suggeriert werden, ihr Ausstand bringe ja ohnehin nichts, da durch das Anzapfen der Treibstoffdepots die Benzinversorgung über Wochen hinweg durchgehalten werden könne. Denn die Raffinerien, jedenfalls, werden so bald nicht wieder anfahren: Am Montag Vormittag war bereits in sieben (von zwölfen) eine Fortsetzung des Streiks für die nächsten Tage beschlossen worden, in den anderen fanden die Vollversammlungen der Streikenden erst noch im weiteren Verlauf des Tages statt.

An der „Treibstofffront“ ist unterdessen keineswegs jene Beruhigung eingekehrt, welche die Regierung vorzuspiegeln versucht. Am Sonntag verkündete der (Unternehmer-)Verband der französischen Erdölversorger, UFIP, am heutigen Montag sei eher noch mit einer Verschlechterung der Situation zu rechnen, nachdem am Wochenende jede vierte Tankstelle in Frankreich trocken gelegen hatte. Am späten Vormittag des heutigen Montag war auf dem Nachrichtenportal Orange.fr etwa die Rede davon, es drohe nun bereits „jede dritte Tankstelle“ trocken zu liegen. Und vom Raffineriegelände in Grandpuits – dessen Vorräte die Hauptstadtregion versorgen sollten – verlautbarte, in zwei Tagen sei der Vorrat dort zur Neige.

Offenkundig hatte die Regierung aus psychologischen Gründen darauf gesetzt, vor allem die Tankstellen entlang der Autobahnlinien aufzufüllen, da am vergangenen Wochenende die Abfahrt vieler Französinnen und Franzosen in die Herbstferien erfolgte. (Im Raum Paris und in weiteren Regionen sind die Schüler/innen nunmehr in die einwöchigen Herbstferien eingetreten.) Laut dem – für die Benzinversorgung zuständigen – Umweltministerium waren von den 336 Tankstellen am Haupt-Autobahnnetz am Samstag (nur) „fünf geschlossen, und zehn in Versorgungsschwierigkeiten“. Hauptsache, möglichst viele Leute sind erstmals im Urlaub, mag sich die Regierung dabei gedacht haben…

Die Streikenden und die Gewerkschaften – im Petrochemie-Sektor allen voran die CGT – kritisieren unterdessen auf das Heftigste den „schweren Angriff auf das Streikrecht“, den die Dienstverpflichtungen aus nicht mit Sicherheitsauflagen zusammenhängenden Gründen darstellten. „Wenn wir das durchlassen, können wir in Zukunft (in den Raffinerie) nicht einmal mehr für unsere Löhne streiken“, zitierte Ende voriger Woche die Pariser Tageszeitung ,Libération‘ einen Gewerkschafter bei TOTAL.

Unterdessen hat die Lage für die Lohnabhängigen beim Ölkonzern TOTAL – während die Gewinnerwartungen dieses größten börsennotierten Unternehmens in Frankreich wieder unverschämt wachsen (nach einem Einbruch in 2009 gegenüber 2008 haben sie sich im ersten Halbjahr d.J. wieder verdoppelt) – auf anderer Ebene zugespitzt. Denn just am Freitag, aufgrund eines Zufalls des Kalenders, bestätigte ein Verwaltungsgericht in Nanterre bei Paris (der Hauptsitz von TOTAL liegt im dort angesiedelten Banken- und Geschäftsviertel La Défense) die Entscheidung des Unternehmens, die Raffinerie in Dunkerque endgültig dicht zu machen. Im Juni dieses Jahres hatte ein Verwaltungsgericht diese Entscheidung aufgehoben, da die Anhörungsrechte der gewählten Personalvertreter (ungefähre Entsprechung zu den deutschen Betriebsräten) nicht respektiert worden seien. Doch die Anlage war nicht wieder hochgefahren worden, da dies einen langwierigen Prozess darstellt, sondern es waren nur Wartungsarbeiten an ihr durchgeführt worden. Aus Kostengründen und aufgrund hier geltender Umweltvorlagen möchte TOTAL seine Raffineriekapazitäten gerne verkleinern und aus Frankreich auslagern. Die Befürchtungen um die Zukunft ihrer Jobs dürften die Situation für die Lohnabhängigen des Sektors nun weiter zuspitzen. 

Marseille: Dienstverpflichtung 

Auch in Marseille, wo inzwischen Kreuzfahrteilnehmer/innen die gigantischen Müllberge in Booten besichtigen kommen, wurden vergangene Woche Dienstverpflichtungen ausgesprochen, um den Abfall zu beseitigen. In der südfranzösischen Hafenstadt und in weiteren Städten – etwa Toulouse – streiken auch die Lohnabhängigen der Müllabfuhr, neben jenen des Hafens, der Schulkantinen und anderer Sektoren, gegen die Renten„reform“. Inzwischen haben sich in Marseille 8.000 Tonnen Abfälle angehäuft, und eintausend Feuer wurden durch aufgebrachte Nachbarn gelegt, die durch die Feuerwehr gelöscht werden mussten.

Seit vorigem Mittwoch sind nun dienstverpflichtete Militärs im Einsatz, deren Aktivität aber ebenfalls überwiegend psychologische Wirkung haben soll. Bislang jedenfalls haben sie nur 200 Tonnen (also rund 2,5 % der Masse) an Abfälle beseitigt. Bereits zuvor waren, ebenfalls in der vergangenen Woche, städtische Angestellte dienstverpflichtet worden, um eine Schließung der Verkehrstunnels durch den Arbeitskampf zu verhindern. 

Unterdessen hat sich in Marseille die örtliche und regionale Sozialdemokratie, in der Frage des Verhaltens gegenüber dem Streik, vollständig (faktisch) gespalten. Der „sozialistische“ Regionalpräsident Michel Vauzelle unterstützt bislang die Streikenden und feuerte sie an. Dagegen verlangte etwa Jean-Noël Guérini, der ebenfalls „sozialistische“ Vorsitzende des Bezirksparlaments, an der Seite des (wirtschaftsliberalen) Marseiller Oberbürgermeisters Jean-Claude Gaudin, eine Beendigung der „Geiselnahme der zweitgrößten Stadt Frankreichs“ durch die Streikenden. Und Guérini rief die stärkste örtliche Gewerkschaft in den öffentlichen Diensten (FO, die verbalradikal, aber in örtlichen Angelegenheit auch mafiös auftritt) zur „Verantwortung“ auf. Ähnlich verhielten sich andere „sozialistische“ Regionalgrößen. Schon am 12. Oktober hatte Patrick Mennucini, der Vorsitzende der „sozialistischen“ Fraktion im Stadtrat von Marseille, die Hafenarbeiter zur Beendigung ihres – seit dem 27. September andauernden – Streiks aufgefordert. 

Neue Aktionstage am Dienstag, Donnerstag und am Sonnabend kommender Woche   

Wie wir schon am Freitag an dieser Stelle vermeldet hatten, rufen die acht Gewerkschaftsdachverbände und –zusammenschlüsse der ,Intersyndicale‘ für den kommenden Donnerstag (28. Oktober) sowie Samstag nächster Woche (o6. November) zu neuen „Aktionstagen“ mit Demonstrationen und Arbeitsniederlegungen auf. Die französische Tageszeitung ,Libération‘ zitiert am heutigen Montag CGT-Generalsekretär Bernard Thibault mit der Erwartung, dass die Beteiligung an diesem Donnerstag vielleicht „nicht Rekordwerten“ entsprechen werde, aufgrund der derzeitigen Herbstferien.

Durch den Beschluss, die beiden Aktionstage am kommenden Donnerstag – eine Woche nach dem letzten Zusammentreten der ,Intersyndicale‘ (des gemeinsamen „Gipfeltreffens“ der acht Gewerkschaftszusammenschlüsse und –dachverbände) vom 21. Oktober – sowie an einem darauffolgenden Samstag abzuhalten, hat sich eher die „moderate“ Linie bei dem Gipfel durchsetzen können. Der Aufruf folgt tatsächlich weitgehend dem Schema der, an der Spitze rechtssozialdemokratischen, CFDT. Diese hatten einen nicht allzu nahe an dem Treffen (und an den letzten „Aktionstagen“) liegenden Termin, „um die Abfahrt in die Herbstferien nicht zu behindern“; sowie einen Wochenendtermin („um Beschäftigten und ihren Familien auch ohne Streik eine Teilnahme zu ermöglichen) vorgeschlagen.

Die Union syndicale Solidaires, Zusammenschluss u.a. von linken Basisgewerkschaften (vom Typus SUD), hat aus Protest gegen diese Linie die gemeinsame Erklärung nicht unterzeichnet. Ebenso wenig wie der verbalradikal-schillernde Dachverband FO, Force Ouvrière. Beide rufen aber ebenfalls zu den kommenden Arbeitsniederlegungen und Demonstrationen an den beiden „Aktionstagen“ mit auf. Die sozialliberale Pariser Abendzeitung ,Le Monde‘, die (zunehmend) eng an den rechten/„moderaten“ Flügel der französischen Sozialdemokratie angelehnt ist, frohlockte deswegen am Freitag: „Die radikale Linie verliert unter den Gewerkschaften an Boden.“ Allerdings mahnen Gewerkschafter/innen davor, ihre Analysen notwendig für bare Münze zu nehmen, da die Zeitung – trotz der Informationsfülle im Detail, die sie bietet – strategisch „oft ihre Wünsche für die Realität hält“.

Was bei der Terminwahl auf dem Spiel steht, ist die Fähigkeit, bis zu den jeweils nächsten „Aktionstagen“ eine Streikfront – ohne größere Risse – aufrecht zu erhalten. Je länger es bis zu einem nächsten „Aktionstag“ hin dauert, desto eher steigt das Risiko, dass die Streikbeteiligung (in denjenigen Sektoren, wo Streikaufrufe stark befolgt werden; das gilt im Augenblick für die Petrochemie und die Häfen, jedoch nicht oder unzureichend für den Transportsektor) bis dahin abbröckelt. Tatsächlich wünscht sich auch die CFDT, unterstützt durch andere „moderate“ Gewerkschaften wie die „unpolitisch“ auftretende UNSA, sich vor allem „Aktionstage“ mit Demonstrationen, jedoch ohne größere Streiks im Hintergrund. Auf ihrer Seite sähe man die aktuelle Sozialprotestbewegung gerne im allmählichen „Landeanflug“, d.h. möchte ich ihr gerne ein sanftes aber sicher kommendes Ende setzen. Vor allem die UNSA drängt darauf, dass, wenn das Parlament einmal definitiv abgestimmt habe, „die Demokratie zu respektieren“ sei. Also, sprich, dass ab dann auf das Wahljahr 2012 und einen eventuellen künftigen Regierungswechsel zu warten respektive zu setzen sei. Demgegenüber zitiert ein Teil der Protestbewegung das Beispiel des CPE (Projekt zur Einschränkung des Kündigungsschutzes) aus dem Frühjahr 2006: Damals wurde der entsprechende Gesetzesartikel am 1. April desselben Jahres durch Staatspräsident Jacques Chirac unterzeichnet, aber am 10. April durch ihn zurückgezogen. Der amtierende Minister für den öffentlichen Dienst, Georges Tron, äußerte sich am Wochenende bereits, um einer solchen Hoffnung zu widersprechen: Ein solches negatives, „bedauernswertes Vorgängerbeispiel“ werde nicht Schule machen. Vielmehr sei „das Gesetz der Republik“, wenn es denn einmal definitiv verabschiedet sei, zu respektieren. Kurz, die damalige Ausnahme bestätige nur die Regel.

Um dem Risiko eines Einbrechens der Mobilisierung – wie es durch den rechteren Flügel der etablierten Gewerkschaftsverbände gewünscht wird – entgegen zu steuern, ruft die Studierendengewerkschaft UNEF nunmehr für den morgigen Dienstag (26. Oktober) die lernende oder studierende Jugend selbständig zu einem eigenen „Aktionstag“ auf. Ähnlich war es den Studierenden- und Jugendverbänden im März 2006 gelungen, durch das Anberaumen zusätzlicher Aktionstage – die die weiter ausliegenden Mobilisierungstermine der Gewerkschaftsdachverbände „überbrücken“ konnten – ein Einschlafen der damaligen Protestbewegung oder ihr (durch manche Gewerkschaften nur allzu erwünschtes) Kanalisießren in engen Bahnen zu verhindern. Abzuwarten bleibt, ob dies in vergleichbarem Ausmaß jetzt erneut gelingt. 

Neofaschisten marschieren gegen aufbegehrende Jugend 

„Der Widerstand marschiert in Lyon“, hieß es am 22. Oktober 2010 in der Stadt am Zusammenfluss von Rhône und Saone. An jenem Freitag marschierte der rechtsextreme Jugendverband Jeunesses identiaires durch die drittgrößte Stadt Frankreichs, von der Place Carnot zur Place Ampère. Rund 150 bis 200 Aktivisten kamen, glaubt man ihren Angaben, zusammen. Ihr so genannter Widerstand richtete sich aber – inmitten einer Periode von Streiks, Blockaden und Jugendprotesten – keineswegs gegen die Staatsmacht oder das Kapital.

Vielmehr forderte dieser „Widerstand“ der besonderen Sorte, die Staatsgewalt solle endlich „aufräumen“, und zwar mit „dem Gesocks“. Im Original hieß es la racaille, ein Begriff, den die extreme Rechte der 1920er und 1930er Jahre (neben anderen Bezeichnungen) regelmäßig für Einwanderer benutzte und den der damalige Innenminister Nicolas Sarkozy im Oktober 2005 auf straffällige Jugendliche in den Sozialghettos französischer Trabantenstädte münzte. Nicht nur er, inzwischen Staatspräsident geworden, benutzte ihn damals zur Benennung der subproletarischen Jugend - oft mit Migrationshintergrund – in den banlieues. Auch ein Teil von ihr bezeichnet sich übrigens selbst - provozierend und ironisch - seit längerem mitunter als caillera, unter Umkehrung der Silben, wie es im Jugendslang der banlieues sehr verbreitet ist.

Anlass des Aufmarschs der „identitätsbezogenen“ oder „identitätstreuen Jugend“ waren die Ausschreitungen, die drei Tage zuvor in der Innenstadt von Lyon stattgefunden hatten. Am Rande einer großen Sozialprotest-Demonstration von Gewerkschaften, Oberschüler-inne-n und Studierenden ka          m es dabei zu Reibereien mit der Polizei, aber auch zu Plünderungsszenen in manchen Läden sowie zum Anzünden einzelner Autos. Daran hatten sich sowohl Jugendliche aus der „weißen“ Mehrheitsgesellschaft – besonders Schülerinnen und Schüler – als auch Altersgenossen aus den am Rande von Lyon gelegenen Sozialghettos und Vorstädten mit hohem Migrantenanteil beteiligt. Teile der bürgerlichen Presse sprachen, völlig überzogen, von angeblichen „Bürgerkriegsszenen“ und einer „Stadtguerilla“ (sic). Dies war ganz im Sinne der konservativen Regierung, die den Fokus der öffentlichen Anmerkung auf solche Szenen zu lenken versuchte, um die Gesellschaft in ihrem Sinne zu polarisieren und vom Gegenstand des sozialen Konflikts – der geplanten „Reform“ des Rentensystems – abzulenken. (Fußnote[1])

Die Jeunesses Identitaires verfügen in Lyon über einen besonders aktiven örtlichen Verband, unter dem Namen „Rebyne!“ Diese Bezeichnung steht für einen Lyoner Dialekt-Ausdruck, der so viel wie „Aufruhr, Revolte“ bedeutet. Letzterer wurde historisch vor allem durch eine gleichnamige Hungerrevolte in Lyon im April 1529, La Grande Rebeyne, die sich gegen Spekulationen mit Getreidepreisen richtete, bekannt.

Anlässlich der sozialen Auseinandersetzungen im Laufe des Oktober 2010 versuchte auch er, in der Öffentlichkeit mitzumischen – aber nicht auf Seiten der Protestierende. Vielmehr versuchte er in seinem Auftreten, die öffentliche Meinung gegen die „Randalierer“ aus den Tagen zuvor zu polarisieren, in Verbindung mit einer ethnisierenden Darstellung von deren „Gewalt“: Angeblich seien ganz überwiegend Jugendliche mit Migrationshintergrund daran „schuldig“. Anlässlich ihres Aufmarschs am 22. Oktober verteilte die „identitätstreue Jugend“ Handzettel, auf denen Fotos einer hässlichen Szene zu sehen waren, die sich mutmaßlich Ende März 2006 abgespielt hatte. Damals hatten Jugendgangs aus den banlieues Schüler-innen am Rande einer Sozialprotestdemo, die sich seinerzeit gegen die Einschränkung des Kündigungsschutzes für unter 26jährige richtete, angegriffen und ausgeraubt. (Solcherlei Szenen haben sich im Jahr 2010 bislang nicht wiederholt.) Begleitet war die Fotographie – auf dem übernommenen Ausschnitt waren überwiegend Schwarze zu sehen - von der Abbildung eines Flugzeugtickets der Fluggesellschaft Air France, dem Vermerk „einfacher Flug“ und der Aufschrift: „Sie zünden Autos an, plündern Geschäfte, greifen unsere Mädchen an, beleidigen unser Land... Schenken wir ihnen die Rückkehr nach Hause!“

Im Laufe ihres Aufmarschs kamen den (laut eigenen Angaben) 150 bis 200 rechtsextremen Aktivisten jedoch rund 200 Gegendemonstranten. Die Polizei sammelte die jungen Rechtsradikalen ein, verfrachtete sie in Einsatzbusse und nahm eine Personalienfeststellung an ihnen vor. Am folgenden Tag schäumten die Identitaires in einem Kommuniqué (vom 23.10.10): „Und das Gesocks kann unterdessen seine Missetaten fortsetzen!“

Auch in Paris demonstrierten am vergangenen Samstag rund 250 bis 300 Anhänger des außerparlamentarischen, rechtsradikalen Bloc identitaire – laut dessen eigenen Behauptungen angeblich „rund 500“ – gegen ,la racaille‘. Unter dem Motto „Die andere Jugend“ demonstrierten die Rechtsradikalen vor allem gegen den migrantischen Teil der rebellierenden Schichten der Jugend. Im Anschluss veröffentlichte die rechtsradikale Organisation eine in pseudo-rebellischem Tonfall gehaltene Presse-Aussendung. In ihrem Kommuniqué hieß es, diese ((rechten) Jugendlichen sorgten sich um kämpferische Werte und um die Identität ihres Volkes, „nicht um ihre Renten, die sie im Jahr 2040 oder 2050 ohnehin nicht erhalten dürften“ – sinngemäß: weil es dann keine mehr gebe (sic).


Fußnote:

[1]           Anmerkung : Lyon war, neben der Pariser Vorstadt Nanterre, eines der Zentren solcher Zusammenstöße: 200 Festnahmen von insgesamt 1.423 landesweit zwischen dem 12. und dem 19. Oktober (einige Tage später waren es bereits über 2.200) wurden dort verzeichnet. Auch hatten bei Redaktionsschluss dieses Artikels am 23. Oktober bereits mindestens ein Dutzend Prozesse gegen jugendliche „Randalierer“ im Blitzverfahren, das bei „Flagrantidelikten“ zur Anwendung kommen kann, stattgefunden. Die Aufgegriffenen, die dabei verurteilt wurden, hatten sich jedoch selten wirklich gravierende Straftaten zuschulden kommen lassen; vielmehr handelte es sich mehrheitlich um Oberschüler, die im Tränengasnebel Wurfgeschosse in Richtung Polizei befördert hatten.

Editorische Anmerkungen

Wir erhielten den Artikel vom Autor für diese Ausgabe.