Drei von zwölf Raffinerien haben ihren Streik - vordergründig -
eingestellt. Am gestrigen „Aktionstag“ der Studierenden, zu dem
die Studentengewerkschaft UNEF aufrief, blieb die
Teilnehmer/innen/zahl eher gering, auch wenn einige Hochschulen
- wie die Sorbonne und Nanterre - entweder administrativ
geschlossen worden oder blockiert waren. Am wichtigsten aber
ist, dass der Apparat der CFDT, des zweitstärksten
Gewerkschaftsdachverbands in Frankreich, inzwischen erneut in
eine Strategie des (Pseudo-)„Kompromisses“ und der Verhandlungen
eingebunden ist.
Der Fortgang der Mobilisierung und des sozialen Ringens um die
Renten„reform“ könnte vor einem Wendepunkt stehen. Entscheidend
dürfte der Verlauf des morgigen „Aktionstags“ der Gewerkschaften
sein: Je nachdem, wie die Teilnahme an ihm ausfällt, könnte es
zu einem weiteren Abbröckeln der Mobilisierung (und der in
einigen Sektoren noch bestehenden Streikfront) oder aber zu
einer Fortführung des Kampfs in leicht veränderten Formen
kommen.
Frankreich : Streik vor Wende ?
Besichtigen Sie Marseille, seinen Hafen, seine nahe gelegenen
Raffinerien – und seine Müllberge! So sah es bis gestern aus:
Die zweitgrößte Stadt Frankreichs hat inzwischen eine neue
Attraktion. Am vergangenen Wochenende besichtigten rund 2 .000
Teilnehmer/innen an Kreuzfahrten, vom Marseiller Hafen aus, in
Booten die nahe gelegenen Müllhaufen. Die kleinen Boote mussten
sie benutzen, weil der Hafen bestreikt wird. Derzeit warten dort
80 Tankschiffe, deren Ladung nicht gelöscht wurde, auf ihre
Abfertigung. Unter ihnen auch Öltanker, denn die Erdölterminals
in den Häfen der nahen Kleinstädte Fos-sur-Mer und Lavéra werden
ebenso wie das Hafenbecken von Marseille schon seit Ende
September bestreikt. Es geht unter anderem gegen die Renten„reform“,
aber auch gegen eine geplante Überstellung der Hafenbediensteten
an Privatfirmen.
Die südfranzösische Hafenstadt war bis jetzt das Zentrum des
sozialen Konflikts, der derzeit ganz Frankreich erschüttert.
Stärker als anderswo hat die Protestbewegung dort eine
zahlreiche Berufsgruppen erfassende Dynamik angenommen:
Streikende Lehrer, Eisenbahnerinnen, Müllabfuhrbedienstete und
Raffineriearbeiter besuchen und unterstützen einander.
Doch am Montag Abend setzte ein Teil der Müllabfuhr in der ,Cité
Phocéenne’, wie man Marseille - auf seine Gründungsgeschichte
während der griechisch-phönizischen Periode vor 2.600 Jahren
zurückgehend, Phocea war eine griechische Stadt in der heutigen
Türkei - auch nennt, ihren seit über zwei Wochen andauernden
Streik aus. „Aus Hygiene- und gesundheitlichen Gründen“, wie es
hieß. Das Hygiene-Argument ist zwar durchaus einleuchtend: Die
Stadt versank unter 8.000 Tonnen Abfällen, und rund eintausend
Feuer waren durch genervte Nachbarn gelegt worden. Allerdings
steckt hinter dem „Aussetzen“ des Arbeitskampfs auch eine
Entscheidung der Gewerkschaft FO (Force Ouvrière), die unter den
städtischen Angestellten in Marseille die stärkste
Einzelgewerkschaft stellt. FO ist in Marseille an z.T.
ausgesprochen fragwürdigen Einstellungspraktiken beteiligt, eng
mit Teilen der (auf Bezirksebene regierenden, im zentralen
Rathaus dagegen oppositionellen) örtlichen Sozialdemokratie
verwoben und verfilzt, und tritt zwar verbalradikal auf - ist
aber gleichzeitig eine wirkliche „zivile Mafia“. Wachsende Teile
der örtlichen Sozialdemokratie, als lokale Regierungspartei,
waren jedoch in den letzten Wochen zunehmend scharf gegen den
Streik eingetreten(1). Ferner wollte die
Gewerkschaft aber auch Dienstverpflichtungen des Präfekten, die
für den gestrigen Dienstag drohten - sofern sie „aus Gründen
öffentlichen Interesses“ ausgesprochen und gerichtlich bestätigt
werden, droht bei Zuwiderhandeln Gefängnis -, zuvorkommen. Der
Hafen von Marseille bleibt unterdessen auch am heutigen Mittwoch
Mittag nach wie vor blockiert.
Unterdessen bleiben Müllentsorgungsdienste in insgesamt zwanzig
französischen Verwaltungsbezirken im Ausstand gegen die Renten„reform“.
Bestreikt werden u.a. die Müllabfuhr in Toulouse, im
südwestfranzösischen Lunel, in Belfort nahe der Schweizer
Grenze. In Paris wird die große Müllverbrennungsanlage im Vorort
Ivry-sur-Seine durch streikende Beschäftigte - solche der
städtischen Müllabfuhr, nicht des Werks selbst - blockiert, die
Verstärkung durch linke AktivistInnen und
Streikunterstützer/innen aus unterschiedlichen Sektoren
erhielten und erhalten. Bislang kam es in der Hauptstadt
allerdings noch nicht zum Abfall-Notstand, da die örtlichen
Behörden es noch schaffen, auf anderen Anlagen auszuweichen.
Streik in drei Raffinerien (vorläufig??) eingestellt
Psychologische Konfliktführung ist ein wichtiges Element in der
Krisenverwaltung der französischen Regierung, Bluffen ist in
ihren Augen erlaubt. Als Antwort auf die massiven
Arbeitsniederlegungen, Streiks und Demonstrationen, die seit
Wochen gegen ihre Pläne zur « Reform » des Rentensystems
andauern, setzt sie vor allem auf eine Botschaft : « Normalität
» kehre wieder ein. Am Sonntag fasste die Nachrichtenagentur
Reuters es so zusammen, die Regierung setze auf eine «
Entmutigung » der sozialen Opposition.
Zur Kampfführung der französischen Regierung gehört mutmaßlich
auch, dass sie die Treibstoffpreise - angesichts der anhaltenden
Benzinknappheit, die noch immer ein Fünftel bis ein Viertel der
französischen Trankstellen trocken liegen lässt - nach oben
„entgleiten“ lässt. An vielen Tankstellen sausten die Preise
aufgrund der Knappheit nach oben. Zwar versichert die Regierung
nach außen hin das Gegenteil, und Wirtschaftsministerin
Christine Lagarde drohte schon mal Tankstellenbetreibern, die
ungebührlich spekulierten, mit Sanktionen. Doch hinter den
Kulissen profitiert die Regierung vom Ärger, den der Anstieg der
Treibstoffpreise bei vielen Verbraucher/inne/n hervorruft.
Parallel dazu saugt die Regierung sicherlich auch aus den
„eisernen strategischen Reserven“ an Treibstoff, die für Kriegs-
und internationale Krisenzeiten vorgesehen sind, auch wenn sie
ebenfalls das Gegenteil versichert - um die Auswirkungen des
Raffineriestreiks aufzufangen.
Am Dienstag früh stellten Regierung und Kapital zugleich
entsprechend stark die Meldung in den Vordergrund, drei von
zwölf in Frankreich gelegenen Raffinerien hätten ihren Streik
eingestellt. In Wirklichkeit sieht die Situation komplexer aus.
Zwar entschieden die Streikenden in den Raffinerien von
Fos-sur-Mer in Südfrankreich, Gravenchon bei Rouen sowie
Reichstetten bei Strasbourg tatsächlich, ihren Ausstand
auszusetzen. Aber dies im vollen Wissen, dass ihre Anlagen
deswegen nicht wieder anfahren werden : Alle drei werden über
Ölterminals und -pipelines versorgt, die aufgrund des Streiks in
den Ölhäfen von Fos-sur-Mer und Le Havre selbst total trocken
liegen.
Um vermelden zu können, der Streik bröckele ab, hatte die
jeweilige Direktion überraschend hohe Angebote gemacht : Esso
bezahlt für seine beiden Raffinerien sämtliche Streiktage - über
zwei Wochen -, und die Schweizer Firma Petroplus verpflichtet
sich, auf die geplante Schließung der Anlage in Reichstett zu
verzichten. In den übrigen Raffinerien werden erst nach dem
gewerkschaftlichen Aktionstag vom Donnerstag, am Abend danach,
Vollversammlungen über eine Fortsetzung des Streiks oder
Wiederaufnahme der Arbeit entscheiden.
Ein Nebeneinander von Sektoren mit starker und mit schwacher
Streikdynamik
Der soziale Protest wird derzeit von einzelnen Sektoren mit
starker Streikbeteiligung getragen, wie Raffinerien und
Petrochemie, weitere Bereiche, wie der Transportsektor, weisen
eine schwächere Streikdynamik auf, in anderen Branchen gibt es
keine nennenswerten Streiks. Generell unterstützen die
Lohnabhängigen zwar mehrheitlich den Protest, der letzten
Umfragen zufolge nach wie vor über 60 Prozent der
Gesamtbevölkerung hinter sich weiß. Aber viele gehen lieber
einzeln oder in kleinen Gruppen demonstrieren, hinter einem
Transparent ihrer Gewerkschaft oder auch ohne Bezug auf ihren
Arbeitsplatz, als den Verlust von mehreren Tagen Lohn
hintereinander durch zeitlich unbefristete Streiks zu riskieren.
Die wachsende Prekarisierung, die sinkenden Reallöhne und
gewerkschaftliche Niederlagen sind nicht überall spurlos
vorbeigegangen. Dennoch beginnen sich nun in manchen Sektoren,
Beschäftigte zu organisieren, um zu versuchen, dem Risiko eines
längerfristigen Lohnverlusts im Streikfall vorzubeugen oder
entgegenzuwirken.
In der Metallindustrie – wo derzeit vielfach zwei Stunden zu
Schichtbeginn oder -ende gestreikt wird - oder bei der
Müllabfuhr in Marseille, die bis am Montag streikte, sowie im
Transportsektor wurde etwa beschlossen, dass Beschäftigte sich
abwechseln und im Rotationsverfahren streiken oder dass
Nichtstreikende Geld in eine gemeinsame Kasse einzahlen, aus der
die streikenden Kollegen alimentiert werden. Denn eines der
Grundprobleme vieler Streiks in Frankreich ist das Fehlen von
Lohnersatz. Die Gewerkschaften zahlen grundsätzlich kein
Streikgeld, üben aber auch keinerlei Kontrolle darüber aus, wann
Lohnabhängige streiken oder die Arbeit wiederaufnehmen. Die
Gewerkschaft kann ihnen zwar folgen und einen Arbeitskampf
unterstützen, auf keinen Fall jedoch über Ausbruch und Dauer der
Aktionen entscheiden. Historisch ist das ein großer Vorzug. Aber
heute macht sich der materielle Verlust stärker als in der
Vergangenheit bemerkbar. Früher bezahlten oft kommunistische
Rathäuser den Streikenden eine Unterstützung. Zu Zeiten, in
denen die Gewerkschaften noch stärker waren, wurde nach einem
erfolgreichen Streik noch ein »Nachstreik« durchgeführt, um die
Arbeitgeber zur Zahlung eines Teils der Streiktage zu zwingen.
All dies ist in den vergangenen Jahren schwieriger geworden.
Die „Linksfront“, ein wahlpolitisch motivierter Zusammenschluss
aus der Französischen kommunistischen Partei und der Linkspartei
unter Jean-Luc Mélenchon (einer Abspaltung von der
Sozialdemokratie), organisierte am Wochenende eine
Solidaritäts-Spendensammlung an einigen Orten in Paris. Allein
vor dem Centre Pompidou in Paris sammelte sie innerhalb einer
Stunde 6.000 Euro. Solcherlei Solidaritätssammlungen sind
inzwischen zum Massenphänomen geworden und werden etwa im
Internet, durch die CGT vor dem TOTAL-Hochhaus im Pariser
Geschäftsviertel La Défense und anderswo organisiert.
CFDT verhandlungsbereit. Mal wieder am Knüpfen faulen
„Kompromisses“ ?
Die
wichtigste Wendung der Situation widerspiegelt sich jedoch in
der Haltung der CFDT-Spitze. Am Montag Abend um 20 Uhr trat ihr
Generalsekretär François Chérèque in den Abendnachrichten des
französischen Fernsehens auf, zusammen u.a. mit der Chefin des
zentralen Arbeitgeberverbands (MEDEF), Laurence Parisot. Dabei
erklärte er, das Wichtigste liege nun darin, „über die
Beschäftigung von Jugendlichen und Senioren zu verhandeln“, um
den Problemen Abhilfe zu verschaffen, die durch die Rentenreform
aufgeworfen würden - etwa der geringen Beschäftigungsquote von
Beschäftigten über 55/60. Laurence Parisot antwortete sofort:
„Ich bin einverstanden.“ Die Wochenzeitung ,Le Canard enchaîné’
(vom heutigen Mittwoch) zufolge handelte es sich um ein
abgekartetes Spiel, das vom Sozialtechniker der bürgerlichen
Rechten - respektive ihres moderaten Flügels - eingefädelt
worden sei: Raymond Soubie, seit 1969 Berater der gaullistischen
Rechten in Sachen Arbeits- & Sozialpolitik, seit 2007
Mitarbeiter Nicolas Sarkozys.
Soubie wird zwar Ende November dieses Jahres in der
Privatindustrie arbeiten gehen und schien politisch
marginalisiert, zugunsten von Sarkozy
nationalistisch-rassistischem Berater Patrick Buisson (früher
Chefredakteur der rechtsextremen Wochenzeitung ,Minute’) und
seines wirtschaftsliberalen Beraterkollegen Alain Minc. Sowohl
Buisson als auch Minc träumten davon, den Gewerkschaften eine
länger anhaltende, empfindliche Niederlage - à la Margaret
Thatcher 1985 gegen Arthur Scargill und die britischen
Bergarbeiter - beizubringen. Ihnen zufolge gilt es, überhaupt
keine Rücksichten auf gewerkschaftliche „Befunde“ mehr zu
nehmen, jedenfalls nicht in wichtigen Belangen, sondern
aufzutrumpfen. Dies ist nicht die Linie von Raymond Soubie, der
mit seinen eher (vordergründig) „sozialpartnerschaftlichen“
Positionen in den letzten Wochen auf dem absteigenden Ast zu
sitzen schien.
Doch er ist - auch einem Artikel der Pariser Abendzeitung ,Le
Monde’ vom Dienstag Abend (26. Oktober) zufolge - inzwischen
zurück hinter den Kulissen, um die Beendigung der derzeitigen
Krise bzw. des Sozialkonflikts zu managen. Raymond Soubie selbst
hat die Renten„reform“ an wichtigen Stellen inspiriert, und er
hat in den letzten Tagen hörbar verkündet, er wünsche ein
Inkrafttreten des neuen Gesetzes „rund um den 15. November“. Er
stimmt also der Regierungslinie in Sachen Renten,reform’
inhaltlich durchaus voll zu. Und er rechtfertigte sogar die
Tatsache, dass auch er selbst in jüngster Zeit für ein Übergehen
der Positionen der wichtigsten Gewerkschaftsverbände - und sogar
der CFDT - in der Rentenfrage war: „Ich wusste, dass die
Dachverbände niemals einer Reform zustimmen können, die das
Dogma von den 60 Jahren (als Mindest-Eintrittsalter in die
Rente) aufgibt.“ An diesem Punkt war er also sogar selbst für
das Überrollen der Gewerkschaften, weil die Regierungspläne ihm
zufolge sonst nicht durchgekommen wären. Nur tritt Raymond
Soubie nicht dafür ein, einen offenen „Sieg“ über die
Gewerkschaften im Stile Margaret Thatchers zu markieren und zu
triumphieren, sondern die Gewerkschaftsdachverbände nun
hinterher - wenn das Wesentliche der „Reform“ einmal besiegelt
ist - wieder sorgsam einzubinden.
Einen Ansprechpartner dürfte er, zu allererst, beim Dachverband
François Chérquèes finden. In den drei Raffinerien, die die
Arbeit (pro forma, auch wenn die Anlagen weiterhin stillstehen)
„wieder aufgenommen“ haben, ist die CFDT in der Mehrheit -
während in den sechs TOTAL-Raffinerien dagegen die CGT
Mehrheitsgewerkschaft ist. Zwar ist auch die oberste Spitze der
CGT (deren Generalsekretär der Szene im Fernsehstudio am Montag
Abend schweigend beiwohnte, ohne den Mund aufzumachen) auf einer
ähnlichen Linie wie die rechts von ihr angesiedelte CFDT-Spitze.
Dennoch hat sie bislang ihrer Basis die Zügel locker gelassen.
Und diese ist zum Gutteil auf weit radikaleren Positionen als
ihre Führung. Übrigens (in anderen Proportionen) auch jene der
CFDT: Dem ,Canard enchaîné’ zufolge wollte sie die Beteiligung
ihres Verbands am Sozialprotest schon vor Wochenfrist
einstellen, aber anlässlich einer Funktionärstagung der CFDT am
20./21. Oktober hätten die Anwesenden quasi einstimmig für eine
Fortsetzung des Kampfs gegen die Renten,reform“ (und der
Teilnahme der CFDT an ihm) plädiert.
Entscheidend wird nun, vorläufig, das Ausmaß der Beteiligung am
morgigen „Aktionstag“ der Gewerkschaften werden.
Fußnote:
1)
http://www.liberation.fr/economie/01012298280-a-marseille-des-elus-socialistes-jettent-la-greve-aux-ordures
Editorische Anmerkungen
Wir erhielten den Artikel vom Autor für
diese Ausgabe.
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