trend spezial: Aufruhr in Frankreich

Wie die Kämpfe in die eigene Hand nehmen?

Oktoberbeilage zu Révolution Internationale
Zeitung der IKS in Frankreich

11/10

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Vorbemerkung

Die Bewegung gegen die Rentenreform dauert nun schon sieben Monate. Der erste Aktionstag fand am 23. März statt, damals beteiligten sich 800.000 Menschen, die Atmosphäre war eher schlaff und ein wenig hoffnungslos. Aber seitdem hat der Kampf an Stärke gewonnen. Mehr und mehr Beschäftigte, Arbeitslose, Prekäre, ganze Arbeiterfamilien, Gymnasiasten und Studenten haben sich schrittweise der Bewegung angeschlossen. Gegenwärtig kommen regelmäßig mehr als drei Millionen auf der Straße zusammen!

In Wirklichkeit ist diese Reform zum Symbol der allgemeinen und brutalen Verschlechterung unserer Lebensbedingungen geworden. Die Jugendlichen stehen wie vor einer Mauer: im öffentlichen Dienst werden fast keine Leute mehr eingestellt; in der Privatindustrie gibt es kaum Stellen, und wenn dann nur zu sehr prekären, unhaltbaren Bedingungen.  Eingefrorene Löhne, Preissteigerungen, insbesondere Mieterhöhungen, drastische Kürzungen bei der Erstattung von medizinischen Leistungen und der Sozialhilfe,  Kürzungen bei Beschäftigungsgesellschaften usw… all diese unzähligen Angriffe treiben uns alle langsam aber sicher in die Armut.

In dieser Lage war es lange bei vielen die Vorstellung, nach Jahren Plackerei und Lohnsklaverei bald eine „wohlverdiente Rente“ zu bekommen,  die einen hoffen und durchhalten ließ. Es war das Licht am Ende des Tunnels. In den 1950er und 1960er Jahren konnten noch viele Beschäftigte von diesem relativen „Eldorado“ profitieren. Aber seit 20 Jahren sinken die Renten unaufhörlich.  Mittlerweile sind sie auf ein miserables Niveau gefallen; viele Rentner sind gezwungen, noch irgendwelche kleine Jobs anzunehmen.  Und jeder weiß, dass diese Reform diese dramatische Lage noch weiter zuspitzen wird. Wie viele Demonstranten rufen, ist die einzige Zukunft, die uns das Kapital bieten kann: „Métro, boulot, caveau“ („Zur Arbeit pendeln, schuften, verrecken“). 

Die Weltwirtschaftskrise treibt heute die ganze Menschheit in eine Spirale der  Verarmung. Die Lage spitzt sich immer weiter zu. Sieben Monate Kämpfe … immer wieder Aktionstage, ganze Wirtschaftsbereiche haben wiederholt gestreikt, ganze Standorte wurden von entschlossenen und kämpferischen Beschäftigten lahmgelegt, die zudem noch mit der staatlichen Repression konfrontiert wurden. „Die Jugend steckt in einer Galeere, die Alten in der Misere“.  Kein Zweifel, die Wut ist riesig und in der ganzen Arbeiterklasse zu spüren!

Und dennoch die Regierung zieht ihre Rentenreform nicht zurück. Selbst zu Millionen auf die Straße zu ziehen, reicht nicht.  Jeder spürt, dass irgendetwas dieser Bewegung fehlt. Was fehlt ist, dass die Arbeiter die Bewegung in die eigenen Hände nehmen.  Wenn wir nur wie Schafe den gewerkschaftlichen Anordnung folgen, werden wir wie 2003 und 2007 eine Niederlage einstecken.  Das Misstrauen gegenüber den Gewerkschaften wird unter den Arbeitern immer größer. Aber bislang hat nur eine Minderheit gewagt, diesen Schritt zu vollziehen, hat es gewagt, sich selbst in unabhängigen Vollversammlungen zu organisieren, die nicht von den Gewerkschaften kontrolliert werden. So weit wir wissen, gibt es heute ein gutes Dutzend branchenübergreifende Vollversammlungen dieser Art in Frankreich.  Zum Beispiel kommen regelmäßig Eisenbahner, Lehrer, Arbeitslose und prekär Beschäftigte in der Bahnhofshalle des Pariser Ostbahnhofs zusammen. Straßenversammlungen werden regelmäßig in Toulouse vor den Arbeitsbörsen abgehalten und am Ende von Demonstrationen. Aber sie werden bislang nur von Minderheiten getragen.

Die Arbeiterklasse muss ihr Selbstvertrauen in ihre Fähigkeit zu kämpfen und sich kollektiv als Klasse zu organisieren, entwickeln. Wie? Wie können die Arbeiter ihre Kämpfe in die eigene Hand nehmen?  Wir versuchen darauf in den nachfolgenden Artikeln einzugehen, weil diese Frage wesentlich und ausschlaggebend ist für den weiteren Verlauf der Kämpfe.    

IKS 22.10.2010 

Raffinerien blockieren – ein zweischneidiges Schwert

20% der Tankstellen ohne Benzin. Endlos lange Schlagen. Überall Schlagzeilen in den Medien wegen der wirtschaftlichen Lähmung des Landes. Kämpferische und entschlossene Arbeiter. Und ein Präsident der Republik, der mit der Faust auf den Tisch schlägt, die „Diebe“ mit den schlimmsten Repressalien bedroht. Diese Szenen sind überall in den Medien zu sehen und werden weltweit verbreitet.

Die Beschäftigten, die vor den Raffinerien ausharren, tun dies im Namen der Arbeitersolidarität. Wenn sie den Mut haben, sich der wütenden Polizeirepression und den Strafen ihrer Arbeitgeber auszusetzen (z.B. Grandpuits, in der Pariser Region, der gedroht hat, den Standort dicht zu machen und alle zu entlassen), tun sie dies, weil sie sich dessen bewusst, sind, dass sie für eine gerechte Sache kämpfen, die weit über ihr sie hinausgeht: Die Rentenreform, die uns alle betrifft,  und die miserablen Renten, die sich daraus ergeben. Sie kämpfen für die Interessen der gesamten Klasse.

Die Lähmung des Verkehrs, welche durch die Blockade entstanden ist, offenbart auch, dass die Arbeiterklasse die Kraft ist, von der alle Räder in dieser Welt abhängen. Die Arbeiter produzieren alle Reichtümer. Die Kapitalisten sind letzten Endes nur Parasiten, die auf unsere Kosten leben und sich die Erzeugnisse unserer Arbeit aneignen. Es reicht aus, dass ein strategischer Bereich wie die Raffinerien nicht mehr normal funktioniert, und schon gerät die ganze Wirtschaft aus den Fugen.

Aber diese Waffe ist ein zweischneidiges Schwert.

Wer leidet am meisten unter den Blockaden?

Die Blockade der Raffinerien verfolgt das erklärte Ziel der Lähmung der Wirtschaft, um Druck auf das Kapital auszuüben. Es stimmt, dass den Kapitalisten nichts wichtiger ist als der Profit. Aber wer wird am meisten durch die Benzinknappheit getroffen? Wer ist wirtschaftlich am härtesten getroffen? Das Kapital oder die Arbeiter? Konkret sind die größten Betriebe des Landes (Carrefour, L’Oréal, BNP Paribas, Société Générale, Danone usw.) nicht in Gefahr. Sie sitzen relativ fest im Sattel und können auf die Unterstützung des Staates bauen (auch auf finanzielle Hilfe). Aber die Arbeiter leiden tag- täglich unter den Schwierigkeiten, Benzin zu tanken und zur Arbeit zu fahren. Sie leiden unter den Strafen der Arbeitgeber oder den Sanktionen durch ihre Vorgesetzten, weil man zu spät zur Arbeit kommt. Und die Beschäftigten, die seit Wochen immer wieder gestreikt haben, müssen sich jetzt den Gürtel enger schnallen wegen der dadurch entstandenen Lohnverluste.

Die Wirtschaft lahmzulegen, um Druck auf das Kapital auszuüben“, ist übrigens ein Mythos, der aus dem 19. Jahrhundert stammt. Vor mehr als einem Jahrhundert konnten die Beschäftigten ihre Betriebe lahmlegen und somit ihre Arbeitgeber zum Nachgeben zwingen. Einerseits ermöglichten die Solidaritätskassen, den Arbeitern „durchzuhalten“, andererseits musste der bestreikte Unternehmer mit ansehen, wie seine Konkurrenten die Lage auszunutzen und ihm Kunden webschnappten. Es gab ernste Gefahren, bankrott zu gehen, und oft konnten die Arbeiter einen Sieg davontragen. Heute sind die Verhältnisse aber ganz anders. Es mag zwar noch Solidaritätskassen geben; so gibt es welche für die „Blockierer“ der Raffinerien. Aber die Arbeitgeber fallen sich in einem Arbeitskampf nicht mehr gegenseitig in den Rücken; im Gegenteil sie unterstützen sich gegenseitig. Sie verfügen gar über schwarze Kassen, um mit solch einer Lage umzugehen. Somit treten die Beschäftigten der Raffinerien nicht nur „ihrem“ Arbeitgeber gegenüber, sondern dem Kapital insgesamt, und vor allem der geballten Staatsmacht. Das Kräfteverhältnis auf rein ökonomischer Ebene besteht nicht mehr zugunsten der Streikenden. Aber das ist nicht die einzige Falle.  

Die Gefahr der Isolierung und „unpopulär“ zu werden

Streiks, über deren jeweilige Fortsetzung immer von neuem entschieden wird, sind heute noch nicht sehr verbreitet. Nur in einigen Bereichen wird zurzeit ununterbrochen gekämpft: im Verkehrswesen (vor allem bei der SNCF), den Häfen und der Müllabfuhr in Marseille und den Raffinerien. Weil sie isoliert sind, laufen diese Beschäftigen Gefahr, sich zu erschöpfen, im Falle einer Niederlage entmutigt und gewaltsam bestraft zu werden. Deshalb sind ja auch so viele Arbeiter zu den blockierten Raffinerien gekommen, um vor Ort ihre Solidarität durch ihre Anwesenheit zu bekunden.

Aber es gibt ein noch größeres Risiko, nämlich dass diese Bewegung „unpopulär“ wird. Im Augenblick unterstützt noch der größte Teil der Arbeiterklasse und der Bevölkerung insgesamt diesen Kampf gegen die Rentenreform. Seit dem ersten Aktionstag am 23. März haben sich immer mehr Lohnabhängige der Bewegung angeschlossen (selbst kleine Händler, Freiberufler, Handwerker und Bauern). Ihre Stärke besteht gerade darin, dass immer mehr Bereiche sich dem Kampf anschließen. Den Beschäftigten des öffentlichen Dienstes haben sich Schritt für Schritt die der Privatindustrie, ganze Arbeiterfamilien (insbesondere während der Samstagsdemos), prekär Beschäftigte, Arbeitslose, dann Gymnasiasten und Studenten angeschlossen… Der Kampf gegen die Rentenreform ist für alle eine Kampf gegen die Verschlechterung unserer Lebensbedingungen und gegen die Verarmung geworden.

Aber weil die Blockade des Verkehrswesens schlussendlich in erster Linie diejenigen trifft, die sich am Kampf beteiligen, besteht die Gefahr der Spaltung und dass diese Dynamik gebrochen und ein Hindernis wird für die notwendige massive Ausdehnung der Kämpfe. Bislang unterstützen viele Arbeiter diese Blockadeaktionen, aber im Laufe der Zeit kann sich das Blatt wenden.

Übrigens würde die vollständige Lähmung des Transportwesens ein Zusammenkommen bei den Demonstrationen unmöglich machen. Eine große Erleichterung für das Zusammenkommen wäre es vielmehr, wenn man kostenlos mit der Bahn reisen könnte,  wäre das keine wirksamere Vorgehensweise zur Stärkung der Bewegung?

Ein politisches Kräfteverhältnis aufbauen

Soll das damit heißen, wir würden sagen, Blockaden und Besetzungen wären keine nützlichen Kampfmittel? Natürlich nicht! Es geht nur darum, dass diese Aktionen nicht als vorrangiges Ziel haben können, ökonomisch zu punkten, sondern sie müssen ein politisches Kräfteverhältnis aufzubauen.

Jegliches Handeln sollte bestimmt sein durch das Bemühen, den Kampf auszudehnen. Unsere Stärke ist unsere massive Einheit und unsere Solidarität im Kampf.

Zum Beispiel fingen die Streiks an den Unis während der Bewegung gegen den CPE im Frühjahr 2006 durch Blockaden an. Mit Hilfe der Blockaden gelang es den bewusstesten und kämpferischsten Studenten, eine große Zahl von Kommilitonen/Innen für die Vollversammlungen zu mobilisieren, wo ein beträchtlicher Teil der Studenten, die nicht die Bedeutung der Angriffe der Regierung oder die Notwendigkeit eines Abwehrkampfes dagegen verstanden hatte, von der Debatte und den darin vorgebrachten Argumenten überzeugt wurde.

Die Blockade und die Besetzung eines Industriestandortes, einer schulischen Einrichtung oder einer Verwaltung kann auch dieses massive Zusammenkommen in Vollversammlungen, diese Debatten ermöglichen, wo die am meisten Zögernden überzeugt werden und sich dem Kampf anschließen. Einzig diese Dynamik der Ausdehnung jagt den Herrschenden wirklich Angst ein. Und schlussendlich, welche Rolle auch immer eine Fabrikbesetzung oder eine Blockade zu einem bestimmten Zeitpunkt in einem Streik spielen mag, auf den Straßen können die Beschäftigten, Rentner, Arbeitslosen, Arbeiterfamilien usw. am leichtesten massiv zusammenkommen. 

IKS, 22.10.2010  

Die Gewerkschaftsbündnisse führen uns in die Niederlage

Wir sind zu Millionen auf die Straße gezogen und haben an den vergangenen Aktionstagen gestreikt. Die Regierung gibt immer noch nicht nach. Nur eine Massenbewegung wird sie dazu zwingen. Diese Idee kommt immer mehr in Diskussionen um einen unbegrenzten, jeweils erneuerbaren Generalstreik und der Blockierung der Wirtschaft auf. (…) Die Gestalt, die diese Bewegung annehmen wird, hängt von uns ab. (…) Wir müssen über die Aktionsformen, Forderungen usw. selbst entscheiden. Niemand anders darf uns dies abnehmen.

Wenn wir die Chérèque (CFDT), Thibault (CGT) & Co. An unserer Stelle entscheiden lassen, stehen nur neue Niederlagen bevor. Chérèque ist für die Regelung, dass 42 Beitragsjahre gezahlt werden müssen [was dem Vorhaben der Regierung entspricht]. Thibault verlangt nicht die Rücknahme des Gesetzentwurfes. Wir haben auch nicht vergessen, dass er 2009 mit Sarkozy Champagner trank, während Tausende von uns entlassen wurden und wir alleine, isoliert voneinander kämpfen mussten. Wir haben auch kein Vertrauen mehr in die angeblich „Radikalen“. Die Radikalität Mailly (FO/Gewerkschaft) besteht darin, der PS-Vorsitzenden Aubry die Hand zu schütteln, während die PS selbst für die 42-Beitragsjahre stimmt. (…)

Wenn sie heute die Idee eines erneuerbaren Streiks propagieren, dann wollen sie vor allem vermeiden, dass sie von der Bewegung überrollt werden. Deren Kontrolle über unsere Kämpfe gilt für sie als Faustpfand, um zum Verhandlungstisch zugelassen zu werden. Warum? In einem Brief von sieben Gewerkschaftsorganisationen der CFTC an Sud-Solidaires, schrieben diese: „Um den Standpunkt der Gewerkschaftsorganisationen bekannt zu machen mit dem Ziel, eine Gesamtheit von gerechten und wirksamen Maßnahmen zur Aufrechterhaltung des bisherigen Rentensystems sicherzustellen“. Soll man wirklich glauben, dass es eine gemeinsame Basis mit den Leuten geben kann, die seit 1993 unsere Lebens- und Arbeitsbedingungen systematisch untergraben haben?

Die einzige wirkliche Einheit, die diese Regierung und die herrschende Klasse zurückdrängen kann, besteht in dem Zusammenschluss der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes und der Privatindustrie, von Beschäftigten und Arbeitslosen, Rentnern und Jugendlichen, legal und illegal Beschäftigten, Gewerkschaftsmitgliedern und Nicht-Gewerkschaftsmitgliedern, an der Basis in den Betrieben in den gemeinsamen Vollversammlungen und indem wir den Kampf in die eigene Hand nehmen.“

Dies ist ein Auszug aus einem Flugblatt, das bei den Demonstrationen in Paris massenhaft verbreitet und unterzeichnet wurde von „Arbeitern und prekär Beschäftigten der branchenübergreifenden Vollversammlung des Ostbahnhofs“.

Zahlreiche andere Texte mit der gleichen Stoßrichtung und einem ähnlichen Ton sind von anderen branchenübergreifenden Zusammenschlüssen, Kampfkomitees, Diskussionsgruppen oder kleinen politischen Organisationen  verfasst worden, die ihr wachsendes Misstrauen gegenüber dem Gewerkschaftsbündnis geäußert haben und dieses beschuldigen, uns absichtlich in die Niederlage zu führen. Alle ermuntern die Arbeiter, den Kampf in die eigenen Hände zu nehmen.

Hinter dem Gewerkschaftsbündnis – Infragestellung des gewerkschaftlichen Kampfes

Die Sabotage der Kämpfe durch das Gewerkschaftsbündnis 2003, 2007 und heute 2010 wirft die breitere Frage des wahren Wesens der Gewerkschaften auf. Stehen sie heute immer noch auf Seiten der Arbeiterklasse? Ein kurzer Rückblick auf die letzten Jahrzehnte belegt, dass sie ins Lager der Herrschenden übergewechselt sind.

Seit mehr als 100 Jahren waren die großen Kämpfe jeweils wilde, spontane und massive Streiks. Und all diese Kämpfe stützten sich bei ihrer Organisierung nicht auf die Gewerkschaften sondern auf Vollversammlungen, in denen alle Arbeiter über den Kampf und die Probleme diskutieren, mit gewählten und abwählbaren Komitees, die für die Zentralisierung des Kampfes sorgen. Die großen Streiks im Mai 1968 in Frankreich wurden gegen den Widerstand der Gewerkschaften ausgelöst. Während der Streiks des „Heißen Herbst“ 1969 in Italien verjagten die Arbeiter die Gewerkschaftsvertreter aus den Streikversammlungen. 1973 griffen die streikenden Hafenarbeiter von Antwerpen das Gewerkschaftsbüro an. In den 1970er Jahren setzen die Arbeiter den Gewerkschaften in England hart zu, genau wie in Longwy, Denain, Dünkirchen in Frankreich während der Streiks 1979. Im August 1980 lehnten die Arbeiter in Polen die Gewerkschaften ab (die zum Räderwerk des Staates gehörten); sie organisierten den Massenstreik auf der Grundlage von Vollversammlungen und gewählten und abwählbaren Streikkomitees (MKS). Die Arbeiter konnten sich per Mikrofon in die Verhandlungen einschalten, so dass alle diese verfolgen, das Wort ergreifen und die Delegierten kontrollieren konnten. Man muss sich vor allem daran erinnern, wie dieser Kampf zu Ende ging: Durch die Illusion über die Möglichkeit einer neuen, freien, unabhängigen und kämpferischen  Gewerkschaft, der die Arbeiterklasse vertrauen und der man die Leitung der Kämpfe übertragen könnte. Das Ergebnis ließ nicht lange auf sich warten. Die neue Gewerkschaft, Solidarnosc, stellte die Mikrofone ab, um geheime Verhandlungen mit dem polnischen Staat zu führen, und um in Abstimmung mit diesem die Zerstreuung und Spaltung der Arbeiter zu organisieren. Es folgte die gewaltsame Niederlage der Arbeiter.

Den Gewerkschaften zu folgen, heißt immer auf eine Niederlage zuzusteuern. Um einen massiven Kampf zu entfalten, der von der Arbeitersolidarität getragen wird, muss man den Kampf in die eigenen Hände nehmen.

»Die Emanzipation der Arbeiter [muss] das Werk der Arbeiterklasse selbst sein«

 Wie sich im Kampf organisieren?

Eine Kampfbewegung lebt und entfaltet sich wie ein Mäander. Fliegende Streikposten, Blockaden, Besetzungen, Flugblattverteilungen, spontane Demonstrationen usw. all das sind mögliche Aktionsformen. Und die Arbeiterklasse wird sicherlich noch andere in zukünftigen Kämpfen erfinden.

Aber im Mittelpunkt jeden Kampfes steht notwendigerweise die Vollversammlung. In den Vollversammlungen können wir diskutieren, debattieren, kollektiv entscheiden. Die Vollversammlungen sind DER Ort offener Diskussionen und eventueller gemeinsamer Entscheidungen im Kampf. Deshalb werden sie auch immer zur Zielscheibe aller Sabotageversuche.

Die Vollversammlungen - Die Lunge der Arbeiterkämpfe

Solange nicht gekämpft wird, gibt es meist nur harmlose gewerkschaftlich organisierte Vollversammlungen.   In allen Betrieben gibt es gewerkschaftlich organisierte „Aktionen“, bei denen meist Gewerkschaftsfunktionäre unter sich zusammenkommen und die meisten Leute der Basis, Gewerkschaftsmitglieder und solche, die keiner Gewerkschaft angehören, eine reine Beobachterrolle übernehmen, und die man nur von Zeit zu Zeit um ein Votum bittet. Zu allen diesen Treffen erscheinen meist nur wenige Leute. Die meisten Arbeiter wissen, dass sie völlig irrelevant sind.

Aber wenn – wie jetzt - Kämpfe ausbrechen, passen die Gewerkschaften sich an und spielen verschiedene Karten: 

-          Solange sie können, unternehmen sie alles, damit so wenige Leute wie möglich sich an den Treffen beteiligen. Entweder halten sie gar keine ab, oder nur heimlich, mit möglichst wenig Werbung für sie.

-          Manchmal ist die Wut unter den Arbeitern zu groß. Um spontane Diskussionen auf Treffen zu verhindern, die nicht unter ihrer Kontrolle stehen, halten sie dann eine Reihe von Versammlungen ab. Aber diese Versammlungen sind nach Branchen, Standorten, Geschäftsbereichen usw. organisiert. Die Gewerkschaften säen somit die Spaltung, zerstreuen unsere Kräfte nach altbekannter Salamitaktik, anstatt sie zu bündeln und zu vereinigen. Im Augenblick hält man bei den Eisenbahnen der SNCF gewerkschaftliche Versammlungen ab für Lokführer, für Schaffner, Verwaltungsangestellte usw. In einigen Krankenhäusern in der Region Toulouse wird das völlig lächerlich: man hält Versammlungen auf jeder Station ab!

-          Um auf jeden Fall die Kontrolle dieser Vollversammlungen zu bewahren, sind die Gewerkschaften zu allen Tricks bereit. Im Pariser Ostbahnhof war für den 14. Oktober eine Vollversammlung am Morgen anberaumt worden. Die Eisenbahner sollten gemeinsam über die Fortführung des Streiks entscheiden. Aber schließlich haben die Gewerkschaftsfunktionäre es vorgezogen, die Fortführung des Streiks selbst am Vorabend, am 13. Oktober, zu entscheiden. Es gab also keinen Grund mehr, auf der  Vollversammlung am Donnerstag überhaupt zu erscheinen, weil alles ohnehin schon im Voraus entschieden war. Und in der Tat erschien fast niemand an dem Tag. So wurde das kollektive Leben der kämpfenden Arbeiterkasse abgewürgt. Eine gewerkschaftliche Sabotage wie aus dem Bilderbuch!

In ihrem Artikel „Was ist eine Vollversammlung“ beschreibt die CNT-AIT des Departement Gers sehr genau andere „Bedrohungen“, die über einer Vollversammlung schweben können:

-          Monopolisierung der Debatte. Die Vollversammlung ist nicht demokratisch. Die klassische Rolle ist die des Gewerkschaftsdelegierten, welcher die Rolle des Moderators beansprucht, sich an Debatten beteiligt, dabei aber systematisch seine Meinung aufzwingt (…)

-          Undemokratisches Verhalten der Vollversammlung: Abstimmungen werden nicht respektiert. Die Tagesordnungen werden nicht eingehalten; man stellt mehrfach eine schon getroffene Entscheidung zur Abstimmung, bis die Abstimmenden erschöpft sind. Oft werden die Treffen am Ende einer Versammlung manipuliert, um sie schadlos zu machen.

-          Neutralisierung einer Vollversammlung. Egal wie fruchtbar eine Vollversammlung war, sie werden nicht fortgesetzt. Oft werden  Vollversammlungen für Streikende abgehalten, damit diese Luft ablassen können.“ Aber richtige Vollversammlungen müssen genau das Gegenteil sein. Sie müssen von vornerein alle Branchen- oder Berufsspaltungen überwinden. Sie müssen nicht nur allen Belegschaften offenstehen, egal welcher Branche sie angehören, und vor allem den Beschäftigten anderer Betriebe, den prekär Beschäftigten, den Rentnern, Arbeitslosen, Studenten, Gymnasiasten …., all denjenigen, die sich an der Ausdehnung der Bewegung  beteiligen und die Frage klären wollen: „Wie kämpfen“?  

-          Wie die anarcho-syndikalistische Organisation des Departement Gers schreibt: „Die Vollversammlung ist demokratisch; sie garantiert das Rederecht, mit gleicher Redezeit und keiner Themenzensur. Dieses Rederecht wird durch ein Mandat garantiert, durch den Moderator. (…)

-          Die Vollversammlungen treffen Entscheidungen, die Abstimmung finden durch Handheben statt (…)

-          Die Vollversammlung ist von unbeschränkter Dauer, es wird ein Bericht erstattet, der von einem dafür eigens bei Beginn der Versammlung Benannten angefertigt wird, der zur Aufgabe hat, die Debatten und Entscheidungen der Vollversammlung zu protokollieren und zu verbreiten. Auf der Vollversammlung wird das Datum und der Ort der nächsten VV geplant.“

-          Diese letzten Punkte sind wesentlich. Eine VV ist kein Ort zum einfachen Luftablassen der Wut der Beschäftigten. Sie ist viel mehr als das. Man kann sich hier zu Wort melden; und sie ist oft der einzige Ort, wo die Arbeiter  wirklich das Wort ergreifen können. Aber in einer Vollversammlung wird auch die Einheit der Arbeiterklasse geschmiedet.

-          Unsere Klasse kann in solchen VV kollektiv Entscheidungen treffen. Deshalb ist es wichtig, dass eine VV durch die Verabschiedung von Texten und gegebenenfalls Aktionen konkretisiert wird.

-          Hier kann die Ausdehnung eines Kampfes beschlossen und organisiert werden, indem massive Delegationen zu anderen Arbeitern geschickt werden (Fabriken, Verwaltungen, Krankenhäuser…), die geographisch am nächsten liegen, und wo die Belegschaften am kämpferischsten sind, und sie dazu aufzurufen, sich ihrem Kampf anzuschließen.

-          In den VV können sich die Beschäftigten verschiedener Standorte und Branchen absprechen. Die VV müssen untereinander durch Komitees koordiniert werden, die auch aus gewählten Delegierten zusammengesetzt sind, und ständig ihnen gegenüber Rechenschaft ablegen und immer abwählbar sein müssen.

Die gegenwärtige Bewegung gegen die Rentenreform hat das Ausmaß der Wut der Arbeiter deutlich werden lassen, die Macht ihrer Entschlossenheit und ihrer Fähigkeit, sich massiv zu mobilisieren. Aber unserer Klasse ist es bislang noch nicht gelungen, sich gemeinsam im Kampf in souveränen und autonomen Vollversammlungen zu organisieren. Das ist die Hauptschwäche dieses Kampfes. Diese Stufe muss die Arbeiterklasse notwendigerweise hinter sich lassen, wenn sie ihre Kämpfe in die Hand nehmen und geeint und solidarisch dem Kapital entgegentreten will. 

IKS, 22.10.2010 

Staatliche Provokationen, Einschüchterungen und Repression

In Lyon zog am 21. Oktober ein Demonstrationszug zum Bellecour-Platz. Der Zug traf auf einige Dutzend Jugendliche, die mit der Polizei zusammenprallten und alles zerschlugen, was ihnen vor die Füße kam. Sofort verhinderte eine polizeiliche Absperrung sie daran weiterzuziehen und drängte sie aufgrund einer „Anweisung von Oben“ ruppig zurück.

Die Herrschenden wollen vor allem nicht, dass die Demonstranten mit den „Randalierern“ diskutieren und sie davon überzeugen, ihre Wut anders zum Ausdruck zu bringen, indem sie sich nämlich dem Kampf gegen die Rentenreform anschließen. Sie wünschen genau das Gegenteil: dass die Demonstrationen entarten und in einer blinden Gewalt enden.

Um ihr Ziel zu erreichen, haben sie voll zugeschlagen. Die Bullen hatten Order, auf alles zu prügeln, was sich bewegte und weniger als 20 Jahre alt war. Überall in Frankreich wurden die Gymnasiasten provoziert und geschlagen. Das Ziel dieses Vorgehens ist klar: den Jugendlichen, ihren Eltern und der ganzen Arbeiterklasse Angst einjagen und zu versuchen, die Bewegung unpopulär zu machen, indem dieser Kampf fälschlicherweise mit Zerstörung und Gewalt identifiziert wird.

Aus unserer Sicht haben diese Ereignisse erneut den wahren Charakter der Herrschenden und der Arbeiterklasse zutage treten lassen.

Auf der einen Seite eine Klasse, die Hass und Spaltung schürt; mit ihrem gewaltsamen Vorgehen, dem Einsatz von Flash-balls, Schlagstöcken und Tränengas die Jugendlichen terrorisieren und ihnen Angst  einjagen will.

Ihr gegenüber steht die Arbeiterklasse, die sich für Solidarität einsetzt.  Jugendliche kämpfen dafür, dass ihre Eltern und Großeltern nicht in Armut leben, und die ältere Generation, die sich weigert, die Galeere hinzunehmen, in die die junge Generation gesteckt werden soll.

Nieder mit dem staatlichen Terror, Es lebe der Klassenkampf.  

IKS 22.10.2010   

Kurze Chronologie der Ereignisse des Kampfes gegen die Rentenreform

Wir veröffentlichen nachfolgend eine kurze Chronologie der verschiedenen Ereignisse und Etappen der Bewegung des Kampfes gegen die Rentenreform, die sich seit Monaten in Frankreich entfaltet hat.

Wir werden diese Aufstellung weiter ergänzen, sobald weitere Schritte erfolgen.

Diese Bewegung ist schon reich an Lehren für die Weltarbeiterklasse. Gegenüber der Lügenpropaganda der Staaten, der französischen Medien und der internationalen Presse müssen unbedingt Zeugenaussagen und verschiedene Informationen über den Kampf so breit wie möglich in allen Ländern verbreitet werden. Wir fordern also alle unsere LeserInnen dazu auf, die nachfolgende Chronologie der Ereignisse (die  notwendigerweise unvollständig und auf bestimmte Teile beschränkt ist) zu ergänzen. Ihr könnt dazu unser Diskussionsforum benutzen (und wir werden uns bemühen, so weit unsere Kräfte es erlauben, diese Texte in die Hauptsprachen zu übersetzen).

23. März 2010

Ein gewerkschaftlicher Zusammenschluss (dem fast alle französischen Gewerkschaften angehören, von den Gewerkschaften, die am offensten mit der Regierung „kollaborieren“, bis zu den „radikalsten“) ruft zu einem ersten Aktionstag auf.

800.000 Demonstranten versammeln sich auf den Straßen. Die Atmosphäre zeigt eher Zurückhaltung, es herrscht Resignation vor. Die Rentenreform war seit mehreren Monaten, ja Jahren von der Regierung vorbereitet worden. Die Politiker, die Medien, die „Experten“ aller Couleur behaupten ununterbrochen, dass diese Reform unabdingbar und unumgänglich sei, ja der Fortbestand der Zahlungsfähigkeit der Rentenkassen und des Staatshaushalts stünde auf dem Spiel. Übrigens forderten die Gewerkschaften nicht „Rücknahme des Angriffs auf die Renten“. Sie riefen dazu auf, für „mehr Verhandlungen zwischen Staaten und Gewerkschaften“ zu kämpfen und für eine „gerechtere, menschlichere“ Reform.

Kurzum, alle – Staat, Arbeitgeber, Gewerkschaften – behaupteten, dieses Opfer sei eine „nützliche Notwendigkeit“. Die Unzufriedenheit über den starken Druck dieser Propaganda war zwar groß, aber die Kampfbereitschaft war noch nicht so angewachsen.

26. Mai 2010

Das gleiche Schauspiel ging wieder los. Der gewerkschaftliche Zusammenschluss ruft zu einem zweiten Aktionstag nach dem gleichen Szenario auf mit den gleichen Forderungen. Die Teilnehmerzahl  liegt leicht höher (ca. eine Million Teilnehmer), aber die Stimmung ist immer noch eher durch Hoffnungslosigkeit geprägt.

24. Juni 2010

Die Gewerkschaften hoffen darauf, der Bewegung den Gnadenstoß zu versetzen. Ein dritter Aktionstag ist geplant. In Anbetracht der ziemlich gedrückten Stimmung der ersten beiden Aktionstage sollte dieser Aktionstag vor der Sommerpause eine Art „Begräbnistag“ werden. Die Maschine ist gut geölt: Ein Aktionstag mit gleicher Beteiligung hieße, dass die „Sache abgeschlossen“, über die Bühne gebracht sei. In Anbetracht der zwei bevorstehenden Monate Sommerpause soll jeder Funken Hoffnung auf eine Verstärkung des Kampfes ausgelöscht werden. Die Gewerkschaften hatten sich schon in ihren Reden darauf eingestimmt: „Wir haben alles versucht, aber die Kampfbereitschaft der  Beschäftigten war nicht stark genug“. Die Entmutigung war vorhersehbar!

Diese Technik war früher schon mehrfach, oft erfolgreich, ausprobiert worden. Aber der Schuss ging daneben. Am 24. Juni ziehen zwei Millionen Beschäftigte, Arbeitslose und prekär Beschäftigte auf die Straße.

Neben der großen Teilnehmerzahl schlägt auch die Stimmung um: Wut und Empörung nehmen deutlich zu. Seit der Zuspitzung der Wirtschaftskrise 2008 verschärfen sich Verarmung und Ungerechtigkeit. Die Rentenreform wird zum Symbol der brutalen Verschlechterung der Lebensbedingungen.

Juli-August 2010  

Der Aktionstag des 24. Juni hat der Moral der Arbeiterklasse wieder Auftrieb verliehen. Die Idee, dass ein druckvoller Kampf möglich ist, gewinnt an Boden. Die Gewerkschaften verspüren natürlich auch, dass der Wind sich dreht. Sie wissen, die Frage „Wie kämpfen“ weicht nicht aus den Köpfen. Sie beschließen, sofort das Terrain zu besetzen und ideologisch vorzurücken. Sie wollen verhindern, dass die Arbeiter selbständig, außerhalb der gewerkschaftlichen Kontrolle denken und handeln. Sie kündigen deshalb sofort am Tag nach dem 24. Juni einen neuen Aktionstag für die Zeit nach der Sommerpause an (7. September).

Um sicherzustellen, dass „das selbständige Denken“ eingedämmt wird, heuern sie gar Flugzeuge an, die mit Spruchbändern mit Aufrufen zu den Kundgebungen am 7. September über die Badestrände fliegen.

Aber ein anderes Ereignis, das unter „Sonstiges“ gehandelt werden könnte, lässt im Sommer die Wut weiter ansteigen – „die Woerth-Affäre“ (es geht um politische Begünstigung unter gegenwärtig an der Macht befindlichen Politikern und eine der reichsten Erbinnen des französischen Kapitals, Frau Bettencourt, Chefin von L’Oréal, mit der Beschuldigung von Steuerhinterziehungen und illegalen Absprachen aller Art). Nun ist Eric Woerth niemand anders als der für die Rentenreform verantwortliche Minister. Die empfundene Ungerechtigkeit ist groß: Die Arbeiterklasse soll  den Gürtel enger schnallen, während die Reichen und Mächtigen „ihre Geschäfte untereinander machen“.

7. September 2010

Von Anfang an konnte man für diesen Aktionstag eine große Beteiligung erwarten. Dabei wurde ein Aktionstag zum ersten Mal so früh nach dem Ende der Sommerferien angesetzt. Schon vor dem 7. September und in Anbetracht der hochkochenden Wut der Arbeiter verkünden die Gewerkschaften eine neue Demonstration für einen Samstag, damit „jeder teilnehmen“ könne.

Am 7. September strömen 2.7 Millionen Demonstranten zusammen. Die Sommerpause hat nichts bewirkt; es scheint, ein heißer Herbst stehe bevor, der die Dynamik der Entwicklung vor dem Sommer fortsetzen werde. Aufrufe zu weiteren Streiks machen die Runde.

In Anbetracht des Ausmaßes der Wut und der massiven Mobilisierung reagiert der gewerkschaftliche Zusammenschluss sofort.  Im Handumdrehen wird die Samstags-Demonstration abgesagt, die Möglichkeit von erneuten Streiks wird verworfen. Ein neuer Aktionstag wird für 15 Tage später (23. September) verkündet. Die Dynamik soll gebrochen, Zeit geschunden werden. Dieses „verantwortungsbewusste Handeln“ des gewerkschaftlichen Zusammenschlusses wird dann später von den höchsten Instanzen des französischen Staates gelobt werden.

23. September 2010

Drei Millionen Demonstranten auf der Straße! Die Bewegung steigt also weiter an. Zum ersten Mal zögern die Demonstrationszüge nach dem Ende der Kundgebungen, sich aufzulösen. Genauer gesagt bleiben in zahlreichen Städten nach den Kundgebungen einige Dutzend Leute hier, einige Hundert Leute da zusammen. Es zirkulieren zum ersten Mal Flugblätter aus branchenübergreifenden Bereichen, die dazu aufrufen, dass die Arbeiter den Kampf in die eigenen Hände nehmen. 2). In einigen Städten organisiert die CNT-AIT “Volksversammlungen”, damit sich jeder “frei zu Wort” melden kann (die IKS schloss sich später dieser ausgezeichneten Initiative an). Von da an wurden erfolgreich diese Versammlungen auf der Straße abgehalten; es gelang mehreren Dutzenden Leuten, insbesondere in Toulouse, jede Woche zusammenzukommen (3.)

Dieser Wille zur Selbstorganisierung, der hier durch die Minderheiten zum Vorschein kommt, zeugt davon, dass in der ganzen Klasse die Gewerkschaftsstrategie infragegestellt wird, ohne daraus natürlich schon all die Konsequenzen zu ziehen.

2. Oktober 2010

Die erste Demonstration, die an einem Samstag stattfand. Die Zahl der Teilnehmer bleibt im Wesentlichen unverändert. Aber zu den drei Millionen Teilnehmern gehören dieses Mal auch neben den üblichen Teilnehmern Familien und Beschäftigte der Privatindustrie, die üblicherweise nicht in den Streik treten können.

Mehrere Versuche, Straßenversammlungen nach Kundgebungsende abzuhalten, scheitern:

-          In Paris wird von der branchenübergreifenden Gruppe Turbin (der Name rührt von ihrer E-mail turbin@riseup.net her) ein Flugblatt mit dem Aufruf verteilt, an einem Zeitungsstand nach Ende der Kundgebung bei dem Spruchband „Die beste Rente ist der Angriff“, „Nehmen wir unsere Kämpfe in die eigenen Hände“ zusammenzukommen. Ein Beleg, dass dieser Aufruf tatsächlich verbreitet wurde: am vorgeschlagenen Treffpunkt warten Dutzende… Polizisten (mit Kamera!). Weil es keinen geeigneten Ort für eine Versammlung gab, konnte diese nicht abgehalten werden. Der Zug der branchenübergreifenden Gruppe beschließt daraufhin, weiter zu demonstrieren. Ca. 50 Teilnehmer ziehen los, innerhalb einer Stunde versammeln sich ca. 300 Leute.

-          In Tours ruft das Komitee „Für die Ausdehnung der Kämpfe“ per Flugblatt dazu auf, „die Straße für uns zu gewinnen“.

-          In Lyon sprechen sich einige Dutzend Demonstranten dafür aus, nicht sofort auseinanderzugehen, sondern zusammenzubleiben, um in einer Straßenversammlung zu diskutieren und gemeinsam zu überlegen, wie sie die Bewegung fortsetzen und entfalten können. Die Lautsprecher der CGT (die größte französische Gewerkschaft) ersticken schließlich diese Initiative; deren dröhnender Lärm macht jede wirkliche Debatte unmöglich.

Diese gescheiterten Versuche zeigen einerseits die Anstrengungen unserer Klasse, die Kämpfe in die eigenen Hände zu nehmen, andererseits aber auch die Schwierigkeiten der jetzigen Zeit (insbesondere das mangelnde Selbstvertrauen, das noch eine Fessel für die Ausgebeuteten ist).

In Toulouse dagegen finden die Volksversammlungen weiterhin statt. Die Initiative nimmt immer größere Ausmaße an, da die CNT-AIT und die IKS am Ende der Demonstration ein Spruchband aufstellen, auf dem steht: „Beschäftigte, Arbeitslose, Studenten, Rentner, nehmen wir den Kampf in die eigenen Hände“. Vor Ort wird eine Versammlung auf der Straße abgehalten, mehrere Dutzend Leute beteiligen sich daran.

12. Oktober 2010

An diesem neuen Aktionstag kommen ca. 3.5 Millionen Teilnehmer zusammen, ein neuer Rekord!

Wichtiger noch, die Stimmung ist ziemlich aufgewühlt. Es werden immer mehr branchenübergreifende Vollversammlungen abgehalten; es entstanden mehrere Dutzend in ganz Frankreich. Es beteiligen sich jeweils zwischen 100-200 Leuten. Die Politik der zusammengeschlossenen Gewerkschaften wird immer offener kritisiert. In zahlreichen Flugblättern der branchenübergreifenden Zusammenschlüsse wird gar ausdrücklich gesagt, dass diese absichtlich in die Niederlage führen (4). Als Zeichen dieser Dynamik wird in Toulouse neben den von der CNT-AIT (und in einem geringeren Maße von der IKS) organisierten Volksversammlungen ein Aufruf zur Abhaltung einer Straßenversammlung jeden Tag vor den Gewerkschaftshäusern um 18.00 h verfasst (bis heute, 20. Oktober, trifft man sich weiterhin täglich), und weitere Aufrufe per Flugblatt werden verfasst.

Ein neuer Streik wurde schließlich von den meisten Gewerkschaften beschlossen. Nach diesem ganzen Marathon (die Bewegung hat vor sieben Monaten angefangen!) und zahlreichen Streiktagen, an denen sich die Arbeiter an früheren Aktionstagen wiederholt beteiligten, kommt dieser verlängerbare Streik sehr spät. Die Arbeiter haben schon große Lohnverluste hinnehmen müssen. Darauf setzen jedenfalls die Gewerkschaften. Aber auch an dieser Bewegung beteiligen sich viele.

Bei den Eisenbahnern und den Lehrern der Pariser Region wurden viele Vollversammlungen abgehalten, die von den Gewerkschaften organisiert wurden. Das Ausmaß der Spaltung und Sabotage erscheinen hier schon fast lächerlich. Bei den französischen Eisenbahnen SNCF werden die gewerkschaftlichen Vollversammlungen je nach Beschäftigungsbereich organisiert (Lokführer auf der einen, Schaffner auf der anderen Seite, und das Verwaltungspersonal wiederum für sich in seiner Ecke); in einigen Krankenhäusern organisiert jede Station ihre eigene Vollversammlung. Sie sind absolut nicht souverän. Zum Beispiel am Pariser Ostbahnhof steht die Entscheidung über die Verlängerung des Streiks für Donnerstag, den 14. Oktober morgens an; die Gewerkschaftsfunktionäre stimmen schon am Mittwoch unter sich darüber ab. Diese Strategie zeigt zwei Folgen:

-          Die Vollversammlung verliert ihren Zweck; die Beschäftigten gehen nicht mehr hin, da ohnehin schon alles beschlossen ist;

-          Sie ermöglichen den Medien, die Abstimmung über die Verlängerung des Streiks als die Angelegenheit  einer winzigen Minderheit darzustellen; so möchte man die Bewegung unpopulär machen.

Und hier spielen die Gewerkschaften ihren größten Trumpf aus: Lähmung des öffentlichen Verkehrs (vom 12. Oktober an fallen viele Züge aus, die Blockade der Raffinerien gefährdet die Benzinversorgung), um so Spannungen innerhalb der Arbeiterklasse zu schüren und diejenigen, die arbeiten wollen (und müssen), gegen die Streikenden aufzuwiegeln.

16. Oktober 2010

Die zweite Demonstration an einem Samstag. Erneut ziehen ca. drei Millionen Menschen auf die Straße.

Ein neues Element tritt in Erscheinung: die Jugend. Gymnasiasten, die einige Tage zuvor in den Kampf eingetreten sind, nehmen an den Protestzügen teil.

Am darauffolgenden Monat werden ca. 1000 Schulen blockiert und es kommt zu vielen Demonstrationen der Gymnasiasten. Die UNL, die größte Gewerkschaft der Gymnasiasten (nicht der Studenten), die diese Bewegung mit angeleiert hat, gesteht ein, von dem Ausmaß der Bewegung überrollt zu sein.

Der Staat schlachtet das Auftreten einiger weniger jugendlicher Randalierer unter den Gymnasiasten aus, um einige “Blockierer” und junge Demonstranten äußerst gewaltsam zu unterdrücken (ein siebzehnjähriger Jugendlicher verliert infolge eines Flash-Ball-Schusses in Montreuil in einem Pariser Vorort fast ein Auge). Die Ordnungskräfte fachen die Wut weiter an mit ihren polizeilichen Provokationen. Das Ziel ist klar: die Bewegung soll entarten, in blinder Gewalt versinken und in sinnlosen Zusammenstößen mit den Bullen verenden. Damit will der Staat den Kampf unpopulär machen, die Jugendlichen, ihre Eltern und die ganze Arbeiterklasse  einschüchtern.

18. Oktober 2010

Die Studenten, die im Mittelpunkt der siegreichen Bewegung gegen den CPE 2006 standen, scheinen sich jetzt auch der Bewegung anzuschließen. In einigen Universitäten wird deren Blockade beschlossen (insbesondere in Paris, Toulouse, Rennes), aber bislang beteiligen sich nur ganz wenige Studenten daran.

19. Oktober 2010

Die Drohung der Blockade der Raffinerien, die seit dem 12. Oktober in der Luft lag, wird umgesetzt. Ohne irgendeine Entscheidung in Vollversammlungen zu berücksichtigen, folgen die Truppen der CGT den Anweisungen ihrer Gewerkschaft und legen die Raffinerien lahm. Sehr schnell geht vielen Tankstellen (nach Schätzungen zwischen 1000-2000) das Benzin aus.

Die Mobilisierungen nehmen auch bei der SNCF zu; mehr und mehr Züge fallen aus.

Trotz dieser Lähmung des Transportwesens wird die Bewegung nicht unpopulär. Selbst jene Medien, die üblicherweise Passanten auf der Straße interviewen, von denen dann oft viele ihren ganzen Hass äußern, weil in irgendeinem Bahnhof Züge ausfallen, müssen dieses Mal zugeben, dass dieselben „Reisenden“ mit der Bewegung solidarisch sind, dass sie Geduld und Nachsicht zeigen und die Streikenden voll unterstützen, denn „sie kämpfen für unser gemeinsames Interesse“. Einige Gewerkschaftsvollversammlungen und einige branchenübergreifende Gruppierungen beschließen gar die Unterstützung der Blockierer der Raffinerien, vor denen es oft zu sehr brutalen Übergriffen seitens der Polizei bei der „Räumung der Raffinerien“, der „Wiederherstellung der Ordnung“ und dem Vorgehen „gegen Diebe“ kommt (so der Präsident der Republik, Nicolas Sarkozy).

Trotz des Benzinmangels, trotz der ausgefallenen Züge, trotz der Einschüchterungen und der Repression strömen am 19. Oktober dreieinhalb Millionen Menschen auf der Straße zusammen. Dies spiegelt das Ausmaß der Wut der Arbeiter wider!

Gegenüber dem Ausmaß dieser neuen Mobilisierung greift der Staat noch mehr zum Polizeiknüppel und den Flash-Balls. Insbesondere in Lyon wartet ein massives Polizeiaufgebot auf den eintreffenden Demonstrationszug. Die Polizisten schüren bewusst den Hass unter den Jugendlichen. Eine Handvoll von ihnen lässt sich provozieren. Die Repression endet damit in einer Kette von Gewalt; die Bullen schlagen auf alles ein, was sich bewegt: auf Jugendliche, die irgendwie wie Randalierer aussehen (d.h. es reicht eine Kappe zu tragen) oder ganz einfach nur jung aussehen, aber auch auf Ältere. Der Staat hat sicherlich gespürt, dass er dieses Mal zu weiter gegangen ist, denn einige Minister rufen „zu Ruhe und Besonnenheit“ auf (in Wirklichkeit sind diese Aufrufe an ihre eigenen Truppen gerichtet). Die Demonstration in Paris fand anschließend „ohne Zusammenstöße“ statt, wie die Presse unterstrich.

Zusammenfassend gesagt; die Bewegung entfaltet sich nunmehr seit sieben Monaten. Die Wut ist sehr groß. Die Forderungen gegen die Rentenreform neigen dazu, in den Hintergrund zu treten. Die Medien gestehen ein, dass die Bewegung sich „politisiert“ habe.  Die ganze Verarmung, die prekären Arbeitsbedingungen, die Ausbeutung usw. werden offen verworfen. Die Solidarität zwischen den verschiedenen Branchen hat auch zugenommen. Aber bislang ist es der Arbeiterklasse nicht gelungen, ihre Kämpfe wirklich in die eigene Hand zu nehmen. Sie wünscht das immer mehr; einige Minderheiten nehmen hier und da immer mehr Anläufe in diese Richtung. Das Misstrauen gegenüber den zusammengeschlossenen Gewerkschaften wächst; aber noch gelingt es den Arbeitern nicht, sich mittels autonomer und souveräner Vollversammlungen und somit außerhalb der Gewerkschaften zu organisieren. Aber solche Vollversammlungen waren das Herz der Bewegung gegen den CPE 2006; damals hatten diese der Bewegung ihre Stärke verliehen. Der Arbeiterklasse scheint es noch an Selbstvertrauen zu mangeln. Die weitere Entwicklung der Kämpfe wird uns zeigen, ob es ihr gelingen wird, diese Schwierigkeiten zu überwinden. Wenn es dieses Mal nicht gelingt, dann eben das nächste Mal. Die gegenwärtigen Kämpfe verheißen viel für die zukünftigen Kämpfe!

Fortsetzung folgt…   IKS

Anmerkungen

1) All diese Teilnehmerzahlen sind Angaben des gewerkschaftlichen Zusammenschlusses. Manchmal weichen die Angaben, welche die Gewerkschaften und die Polizei machen, im Verhältnis 1:10 voneinander ab. Die Medien sprechen schon von einem „Krieg der Zahlen“. Diese Zahlenspiele erwecken den Eindruck, es gebe einen radikalen Gegensatz zwischen den Gewerkschaften und dem Staat (obwohl sie nur ein anderes Instrument im gleichen Orchester und mit der gleichen Partitur spielen); die Wirklichkeit soll vernebelt werden. Niemand kennt die wirkliche Teilnehmerzahl der Demonstrationen. Wir haben immer die Angaben der Gewerkschaften herangezogen, die sicherlich der Wirklichkeit eher nahekommen, denn dadurch kann man Tendenzen erkennen und sehen, ob die Teilnehmerzahl weiter steigt oder rückläufig ist.

2) Beispiele dieser Flugblätter findet ihr auf unserem Forum unter: "Prenons nos luttes en main" (http://fr.internationalism.org/forum/312/tibo/4365/prenons-nos-luttes-main).

3)  Siehe zum Beispiel einen der Aufrufe zu diesen Volksversammlungen: “In diesem Herbst ragen die massiven Demonstrationen heraus, die durch die Rentenreform hervorgerufen werden. Hunderttausende beteiligen sich an diesen von den Gewerkschaften organisierten Kundgebungen. Wie viele kehren frustriert nach Hause zurück? Frühere Erfahrungen haben zu genüge gezeigt, dass diese wiederholten Aktionstage  nichts anderes als hilflose Sparziergänge sind. Wenn wir nicht reagieren, wenn wir nicht das Wort ergreifen, um gemeinsam zu entscheiden, wie wir unseren Kampf entfalten können, werden wir besiegt werden, und andere Niederlagen werden folgen. Deshalb fordern wir euch auf zusammenzukommen um zu debattieren, die Atomisierung zu durchbrechen. Was könnte passieren, wenn diejenigen,  die ohne Stimme oder isoliert sind, zusammenkommen und ihre Stimme erheben? Muss man immer noch auf den „richtigen Augenblick“ warten oder auf eine Erlaubnis dazu? Wir schlagen vor, kommt am Montag, den 11. Oktober um 13.00 h vor der Arche zusammen, um zu diskutieren, um jetzt gemeinsam vorzugehen, damit wir eine gemeinsame Antwort geben können. Überwinden wir die Zerstreuung. Nutzen wir diesen Moment aus, um einen wirklichen Ort der brüderlichen Debatte, die allen offen steht, zu schaffen.“

4) Lest insbesondere das Flugblatt “Aufruf an alle Beschäftigten”, unterzeichnet mit “Beschäftigte und prekär Beschäftigte der branchenübergreifenden Vollversammlung des Ostbahnhofs” (nachzulesen in unserem Forum: http://fr.internationalism.org/forum/312/tibo/4365/prenons-nos-luttes-main). In diesem Flugblatt wird zum Beispiel betont: „Wenn wir die Chérèque (CFDT), Thibault (CGT) & Co. An unserer Stelle entscheiden lassen, bereiten wir nur neue Niederlagen vor.“ Und „Die Form, die die Bewegung annehmen wird, liegt in unseren Händen. Wir müssen diese selbst schaffen – an unserem Arbeitsplatz, mit Streikkomitees, in unseren Wohnvierteln mittels souveräner Vollversammlungen. Sie müssen die arbeitende Bevölkerung im größtmöglichen Umfang zusammenbringen, die auf nationaler Ebene koordiniert mit gewählten und jederzeit abwählbaren Delegierten  vorgeht. Wir selbst müssen Aktionen, Forderungen beschließen. Niemand anders kann das an unserer Stelle machen.“

Editorische Anmerkungen
Wir erhielten die Artikelsammlung von der deutschen Sektion der IKS für diese Ausgabe.