Das Philosophische Wörterbuch  BAND 2

hrg. von Georg Klaus & Manfred Buhr

11/10

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Kritizismus [griech] - von Kant eingeführte Bezeichnung für seine Erkenntnistheorie
im Hinblick auf das von ihm geübte Verfahren der Prüfung der Bedingungen und der Voraussetzungen, des Umfangs und der Grenzen der Erkenntnis, das seiner Meinung nach der Ausarbeitung jedes philosophischen Systems, jeder Weltanschauung voranzugehen hat. kant gebraucht die Bezeichnung «Kritizismus» vor allem zur Abgrenzung seiner Erkenntnistheorie gegenüber dem Dogmatismus (Rationalismus) und dem Skeptizismus (Empirismus).

Das von Kant entwickelte Verfahren des Kritizismus richtet sich vor allem gegen die Unterschätzung der sinnlichen Stufe des Erkenntnisprozesses beim Zustandekommen von Erkenntnis, gegen das rationalistische Vorurteil, ohne sinnliche Grundlage, aus bloßen Begriffen (Kategorien) zu Erkenntnis kommen zu wollen, schließlich gegen die Behauptung, die sog. metaphysischen Grundprobleme (Gott, Seele, Unsterblichkeit) seien Gegenstände philosophischen Erkennens.

Die Grundregel des Konischen Kritizismus lautet: «Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben, und ohne Verstand keiner gedacht werden. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe blind. Daher ist es ebenso notwendig, seine Begriffe sinnlich zu machen (d. i. ihnen den Gegenstand in der Anschauung beizufügen), als, seine Anschauungen sich verständlich zu machen (d. i. sie unter Begriffe zu bringen) ... Der Verstand vermag nichts anzuschauen, und die Sinne nichts zu denken» (B 76).

In der Geschichte der Erkenntnistheorie bedeutet der Kritizismus einen Knotenpunkt und einen Fortschritt, jedoch ist er keine endgültige Lösung des Erkenntnisproblems. Die positiven Momente des Kritizismus sind in der Erkenntnistheorie des dialektischen Materialismus aufgehoben, seine Schwächen kritisiert und überwunden.

Der Neukantianismus deutete den Konischen Kritizismus extrem subjektiv-idealistisch dergestalt um, «daß der Mensch alles schlechthin nur in dem Medium des menschlichen Bewußtseins erkennt, daß mithin auch alle Philosophie, wie überhaupt alle Wissenschaft, sich immer nur in der Sphäre menschlicher Gedanken und menschlicher Vorstellungen bewegen kann und diese Sphäre niemals und unter keinen Umständen zu überschreiten vermag» (Liebmann, Epigonen 35).

Kritizismus nannte sich auch die von Riehl begründete, wenig wirksame Strömung innerhalb des Neukantianismus, die den Subjektivismus des übrigen Neukantianismus ablehnte, die Ding-an-sich-Lehre als wesentlichen Bestandteil der kantschen Philosophie betrachtete, Philosophie als Weltanschauung zurückwies und lediglich Erkenntnistheorie im Sinne von Erkenntniskritik als einzig legitime philosophische Disziplin gelten lassen wollte.

Editorische Anmerkung

Der Text wurde entnommen aus:

Buhr, Manfred, Klaus, Georg
Philosophisches Wörterbuch Band 2, Berlin 1970, S. 629f
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