Das Philosophische Wörterbuch  BAND 2

hrg. von Georg Klaus & Manfred Buhr

11/09

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Scholastik
Name für die von den
Ideologen der katholischen Kirche im europäischen Mittelalter entwickelte und ausgestaltete objektiv-idealistische theologisch-philosophlsche Lehre.
Die Scholastik war die einflußreichste theologisch-philosophische Lehre und zugleich die herrschende Ideologie der europäischen Feudalgesellschaft. Ihre Wirkung erstreckte sich über einen Zeitraum von rund 700 Jahren, von etwa 800 bis 1400.

Die Herausbildung der Scholastik erfolgte auf der Grundlage der gesellschaftlichen Verhältnisse des europäischen Feudalismus. «Das Mittelalter hatte sich ganz aus dem Rohen entwickelt. Über die alte Zivilisation, die alte Philosophie, Politik und Jurisprudenz hatte es reinen Tisch gemacht, um in allem wieder von vorn anzufangen.

Das einzige, das es aus der alten Welt übernommen hatte, war das Christentum und eine Anzahl halbzerstörter, ihrer ganzen Zivilisation entkleideter Städte. Die Folge davon war, daß, wie auf allen ursprünglichen Entwicklungsstufen, die Pfaffen das Monopol der intellektuellen Bildung erhielten und damit die Bildung selbst einen wesentlich theologischen Charakter bekam. Unter den Händen der Pfaffen blieben Politik und Jurisprudenz, wie alle übrigen Wissenschaften, bloße Zweige der Theologie und wurden nach denselben Prinzipien behandelt, die in dieser Geltung hatten... Diese Oberherrlichkeit der Theologie auf dem ganzen Gebiet der intellektuellen Tätigkeit war zugleich die notwendige Folge von der Stellung der Kirche als der allgemeinsten Zusammenfassung und Sanktion der bestehenden Feudalherrschaft» (marx/ engels 7,343). In diesem allgemeinen gesellschaftlichen und ideologischen Rahmen entwickelte die Scholastik ihre Lehren.

Im Einklang mit der «Oberherrlichkeit der Theologie auf dem ganzen Gebiet der intellektuellen Tätigkeit» als Folge «der Stellung der Kirche als der allgemeinsten Zusammenfassung und Sanktion der bestehenden Feudalherrschaft» sah die Scholastik ihre Aufgabe darin, das kirchliche Dogmensystem, das sie im wesentlichen von der Patri-stik übernahm, vernunftmäßig zu begründen, d.h., es mit der philosophischen Überlieferung (der griechischen, vor allem der Aristotelischen Philosophie, soweit sie damals bekannt war) in Einklang zu bringen (zu versöhnen) und gegen Auffassungen «heidnischen) (gegnerischer) Autoren zu verteidigen. Sie wollte nachweisen, daß die kirchlichen Dogmen (der christliche Glaube) vernünftig (rational erfaßbar) sind und das Vernünftige (die überlieferte Philosophie) mit den kirchlichen Dogmen übereinstimmt. Die Scholastik wollte «durch Anwendung der Vernunft, der Philosophie auf die Offenbarungswahrheiten möglichste Einsicht in den Glaubensinhalt gewinnen, um so die übernatürliche Wahrheit dem denkenden Menschengeiste näherzubringen, eine systematische, organisch zusammenfassende Gesamtdarstellung der Heilswahrheit zu ermöglichen und die gegen den Offenbarungsinhalt vom Vernunftstandpunkte aus erhobenen Einwände lösen zu können» (grabmann, Geschichte, Einl.). Im Zuge des Versuchs, diese zentrale Aufgabe zu lösen, entwickelte die Scholastik spezielle Methoden des Lehrbetriebs, der Untersuchung und der ' Darstellung, die unter dem Namen scholastische Methode in die Geschichte der Philosophie eingegangen sind. Die bürgerliche Philosophiegeschichtsschreibung hat die zentrale Aufgabe der Scholastik, den dogmatisch fixierten christlichen Glauben mit philosophischen Argumenten zu stützen und rational einsichtig zu machen, meist verkannt und die scholastische Methode als eigentliche Bestimmung der Scholastik ausgegeben.

Für die Scholastik charakteristisch war ihre völlige Abhängigkeit von der Theologie. Sie war und wollte sein: Magd der Theologie (philosophia ancilla theologiae, zuerst von petrus damiani gebraucht) - auch als philosophische Lehre. In diesem Unterordnungsverhältnis bestimmt die Theologie die Themata der (theologisch-) philosophischen Bemühungen, ihre Richtung und Grenzen. Was «Wahn» ist (besser: zu sein hat), ergibt sich aus den kirchlichen Dogmen. Die Philosophie hat auf ihre Art und mit ihren Mitteln die «Wahrheit» der Dogmen noch einmal zu bestätigen und gegen Angriffe «heidnischer» Lehren abzuschirmen. Daraus folgen als weitere Kennzeichen der Scholastik: ihre Unterschätzung und Mißachtung der empirischen Forschung, ihr Verweilen in bloßen begrifflichen Operationen, ihre Spekulation über allgemeinste und abstrakteste Begriffe, ihr Hang zu umfassender, zugleich aber einseitiger Systematisierung, ihre Unduldsamkeit und ihr militanter Charakter.

Die Scholastik ist keine einheitliche, in sich geschlossene Schule. Sie kennt die verschiedensten Gruppierungen und Schulrichtungen. Ihre Geschichte ist ausgefüllt von Kämpfen und Auseinandersetzungen zwischen diesen Gruppierungen und Schulrichtungen: Universalienstreit, Nominalismus, Realismus. Die Entwicklung der Scholastik vollzog sich im wesentlichen in drei Etappen (Einteilung zuerst von baeumker) : die Frühscholastik (etwa 800 bis 1200), die Hochscholastik (etwa 1150-1300), die Spätscholastik (etwa 1300-1400). Die Frühscholastik (Herausbildung der Scholastik) ist gekennzeichnet durch die explizite Formulierung des Universalienproblems und die beginnenden Auseinandersetzungen darüber (Universalienstreit), das Bekanntwerden der logischen Schriften des aristoteles und die Ausbildung der scholastischen Methode. Hauptvertreter der Frühscholastik sind: johannes scotus oder eriugena, anselm von canterbury, wilhelm von cham-peaux, abaelard, petrus lombardus. Die Hochscholastik (Blütezeit der Scholastik) ist gekennzeichnet durch das Bekanntwerden der übrigen Schriften des aristoteles, das Bemühen um Synthese von kirchlichem Dogmensystem und Aristotelischer Philosophie mit Hilfe der scholastischen Methode, die Auseinandersetzungen mit der jüdischen und der zum Materialismus tendierenden arabischen Philosophie, die vorübergehende «Lösung» des Universalienstreites. Hauptvertreter der Hochscholastik sind: alexander von hales, bonaventura, albertus magnus (albert von bollstädt), thomas von aquin (Thomismus).

Die Spätscholastik ist gekennzeichnet durch das erneute Hervorbrechen des Universalienstreites, das Auftreten ockhams und die Bekämpfung seiner Lehre (-> Nominalismus), die weitgehende Entartung der scholastischen Methode zu abstrakter Begriffsspielerei. Die Etappe der Spätscholastik ist identisch mit dem Niedergang der Scholastik, der einhergeht mit der Auflösung der Feudalgesellschaft.

Mit Beginn der bürgerlichen Neuzeit wird die Scholastik immer mehr aus dem geistigen Leben der Völker verdrängt. Zwar führt sie, von der offiziellen katholischen Kirche gefördert und unterstützt, auch in den folgenden Jahrhunderten ihr Dasein, bleibt mit ihrer Wirkung jedoch auf die Klöster und Ordenseinrichtungen, die immer mehr zu Stätten ideologischer Reaktion herabsinken, beschränkt. Im Zuge der Gegenreformation erfährt die Scholastik im 16. und 17. Jahrhundert in Italien und Spanien (SUAREZ) eine gewisse Belebung vorübergehender Art. Erst in der Periode des Übergangs des Kapitalismus in das Stadium des Imperialismus gelingt es der katholischen Kirche, die Scholastik verstärkt neuzubeleben und mit ihr in Gestalt der Neuscholastik ideologischen Einfluß zu gewinnen. Infolge der der Scholastik eigenen formalistischen Spekulation ohne jeden erfahrungsmäßigen Inhalt erhielt der Begriff «Scholastik» eine abwertende Bedeutung zur Umschreibung aller inhaltslosen Spekulation und begrifflichen Spitzfindigkeit.

Editorische Anmerkungen

Der Text wurde entnommen aus:

Buhr, Manfred, Klaus, Georg
Philosophisches Wörterbuch Band 2, Berlin 1970, S.974f

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