Der besondere Reprint
Löcher in der Mauer
Sonderschwerpunkt des westberliner info 4/1989

11/09

trend
onlinezeitung

Im westberliner info, einem Vorläuferprojekt der TREND Onlinezeitung erschien Ende 1989 ein vom Redaktionskollektiv unter Federführung von Karl Mueller erarbeiteter Sonderschwerpunkt, der sich mit dem scheinbar überraschenden Zusammenbruch der DDR auseinandersetzte. Er basierte auf folgenden Arbeitsthesen:

Vermittelt über Diskussionen in der ArbeiterInnenversammlung kam die wi-Redaktion zu anders gelagerten Einschätzungen der jüngsten Entwicklung. Wir stellen sie in diesem Sonderschwerpunkt in Thesenform vor, in der Hoffnung mit ihnen zu einer anderen - auf die Klasse bezogenen - Sichtweise dieser Vorgänge beizutragen. Diese Thesen sind keine endgültigen Resultate, sondern der Versuch, mit den gängigen Denkschablonen zu brechen. Sie sind in der jetzigen Gestalt noch unzulänglich und überarbeitungsbedürftig. Darum wollen wir sie Arbeitsthesen nennen, wo die Argumentation mit ergänzendem Material versehen ist.

Insgesamt liegen dem Sonderschwerpunkt folgende Behauptungen zugrunde:

  • Die Massendemonstrationen und Straßenschlachten in der DDR kamen für die Teile der SED-Führung nur zu früh, die selber sowohl das politische als auch das ökonomische System der DDR aus der inneren Notwendigkeit eines gescheiterten Sozialismusmodells reformieren wollten. Dies hätte eine Löcherung der Mauer eingeschlossen.
  • Für diese SED-Reformpläne ist eine Arbeiterinnenklasse zwingende Voraussetzung, die bereit ist, sowohl auf ihre "zweite Lohntüte" (Subventionierung der Subsistenzmittel) als auch auf die "Sicherheit" des Arbeitsplatzes zu verzichten, sowie Lohneinbußen und intensiviertere Arbeitsbedingungen zu akzeptieren.
  • Die Bewegung auf der Straße, die sich der "Fluchtbewegung" geschickt als Argumentationshilfe bediente und die von den überwiegend neuen Mittelschichten der DDR ausging, erfaßt Teile der Arbeiterinnenklasse nur außerhalb der Betriebssphäre, während es in Betrieben dagegen weitgehend ruhig blieb, weil die DDR-Kolleglnnen gar keinen Reformbedarf darin sehen, der auf Verschärfung ihrer Arbeitsbedingungen hinausläuft.
  • Das Forderungspaket der DDR-Oppo-Gruppen besteht nur aus politischen Forderungen, die darauf ausgerichtet sind, eine bürgerliche Demokratie westlicher Prägung zu errichten. Da keine eigenen ökonomische Modellvorstellungen vorhanden sind, wird dieser weiße Fleck mit der Worthülse Marktwirtschaft übertünscht oder bei der SED abgeschrieben.
  • So ergibt sich, daß auf der einen Seite die SED an der Arbeiterinnenklasse nur als "Fußvolk" einer Reformpolitik ebenso interessiert ist wie auf der anderen die Basisgruppen und Parteien der neuen DDR-Mittelschichten es sind. Deswegen taucht das Proletariat bei ihnen nur dann als politischer und sozialer Bezugspunkt auf - und zwar negativ besetzt, wenn die gegenwärtige Leistungsunfähigkeit der DDR-Wirtschaft kritisiert wird.
  • Die Öffnung der Grenze war auch aus SED-Sicht zwingend geworden, kann man so die Konsumansprüche der DDR-Bürger vom eigenen Staat weg auf den Westen umlenken. Hardliner -wie Honnecker, Mittag Tisch und Co. - mußten zwangsläufig abserviert werden. Der Nachtrab der SED gegenüber den Forderungen der Volksmassen nach Öffnung der Grenze, muß im Kampf zweier Linien in der SED gesucht werden. Hier liegt die Vermutung nahe, daß die Honnecker-Fraktion gehofft hatte, auf der Basis des Status quo zu Erneuerungen der DDR-Wirtschaft zu kommen und dafür die Entmachtung Gorbatschows brauchte - und dieses Ereignisse trat trotz aller inneren Schwierigkeiten der SU nicht ein.
  • Sollten die Schubladenpläne des jetzt an die Macht gekommenen SED-Reformflügels, der sich gegen die SED-Altherrenriege durchzusetzen vermochte, demnächst zu greifen beginnen, wird sich die Lage des DDR-Proletariats rasant verschlechtern. Die sozialen Schichten, die sich über das Forum und andere Gruppierungen heute politisch ausdrücken, werden die sozialen Gewinner dieser Reformpolitik sein.
  • Für das BRD-Kapital (vor allem Großkonzerne und Banken) zeichnet sich gegenwärtig eine Phase der Hochkonjunktur ab, in der auf der einen Seite die Belegschaften gespalten und durch Aus- und Übersiedlerinnen neu zusammengesetzt werden und wo auf der anderen Seite ein immenser Bedarf an Anlagesphären für das akkumulierte Kapital besteht. An dieser Stelle beginnen die Interessen der neuen SED-Führung und DDR-Basisgruppen, sich auf die Interessen des BRD-Kapitals hinzuzubewegen. Das Konzept BRD und DDR als "Vertragsgemeinschaft" (Regierungserklärung Modrow) macht aus der DDR eine Joint-venture-Domaine und eröffnet dem BRD-Kapital ein neues "Billiglohnland". Für die SED-Reformer kämen auf diesem Wege die fehlenden Finanzierungmittel des erträumten Umbaus der DDR in eine "sozialistische Marktwirtschaft" ins Land. Gleichzeitig spekuliert die SED-Führung auf Import weiteren, nichtdeutschen Kapitals.
  • Sollte diese Entwicklung greifen, werden die Karten des EG-Projekts 92 völlig neu angemischt werden. Für die gegenwärtige BRD-Regierung ist die DDR nachwievor Inland, für die EG soll es Ausland bleiben. Dies sichert dem BRD-Kapital ein Monopol auf den DDR-Markt und bildet gleichsam eine strategisch günstige Ausgangsbasis für das Aufrollen der "Ostmärkte". Mit dem "Berliner Parteitag" hat die SPD den Schulterschluß zur Bundesregierung vollzogen.

"Löcher in der Mauer" enthält folgende Themen:

  • Rückblicke auf 1971 und davor
  • Wertgesetz und Sozialismus
  • Die 80er Jahre
  • SED-Reformkonzepte vor Löcherung der Mauer
  • SED eine Partei des demokratischen Sozialismus als Geburtshelfer des vollendeten DDR-Kapitalismus
  • DDR-Oppo-Gruppen überwiegend im Fahrwasser des SED-Reformer
  • Die gegenwärtigen DDR-Eroberungstrategien des BRD-Kapitals

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Lesehinweis:
Im Archiv des INFOPARTISAN. net gibt es zahlreiche Dokumente aus der "Wendezeit" in der Rubrik "DDR 1989"