Die aktuelle Lage, die Linkspartei und die radikale Linke

von Michael Prütz

11/09

trend
onlinezeitung

„An der Spitze der Partei wird Lafontaine das betreiben, was viele bis heute für verrückt halten: Die Vereinigung der deutschen Linken, die Vereinigung von Linkspartei und SPD.“ - Brigitte Fehrle, Berliner Zeitung, 10/11. Oktober 2009

Als sich im Dezember 2008 die ersten Antikrisenbündnisse bildeten, war die gängige Meinung vieler Teilnehmer, auch wenn das nicht immer öffentlich ausgesprochen wurde, dass es folgende Gleichung gäbe: Finanzkrise = Wirtschaftskrise = Massenarbeitslosigkeit = wachsende Verelendung = Entwicklung von Widerstandspotenzial. Unter dieser Prämisse wurden die beiden ersten großen Demonstrationen am 28. März 2009 organisiert. Mit ca. 50.000 Teilnehmern war dies ein erster Erfolg, der zu der Vermutung Anlass gab, dass sich hier eine neue außerparlamentarische Bewegung formiert. Doch jetzt im Herbst 2009 muss man feststellen, dass die Gleichung bisher in keiner Weise aufgegangen ist. Statt wachsender Massenarbeitslosigkeit gibt es Kurzarbeit, statt Sozialabbau ein äußerst vorsichtiges Lavieren der herrschenden Parteien. Tatsache ist, dass die Krise, die ja noch wie vor existiert, bei der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung noch nicht angekommen ist. Offensichtlich haben wir die Möglichkeiten des bürgerlichen Staates zur Abwehrder Krise deutlich unterschätzt.

Für die Mehrheit der Bevölkerung spielt sich die Krise vornehmlich in den höheren Etagen der Opposition formieren wird, war die vorherrschende Meinung bei den Antikrisenprotestlern, wenn Gesellschaft, also unter den Eliten selber, ab. Zwar gibt es Ängste, aber sowohl der großen Koalition, als auch der schwarz-gelben Zukunft ist es bisher gelungen, diese Ängste zu zerstreuen.Als im Frühsommer 2009 absehbar war, dass sich keineswegs eine neue ausserparlamentarische erst die schwarz-gelbe Koalition im Amt ist, dann gehe es richtig los mit Sozialabbau und Massenarbeitslosigkeit.

Nun stehen die schwarz-gelben Koalitionsverhandlungen kurz vor dem Abschluss und von Sozialabbau und Massenarbeitslosigkeit keine Spur. Wider Erwarten setzt die schwarz-gelbe Koalition, natürlich mit Einschränkungen, die Politik ihrer Vorgänger-Regierung fort. Angela Merkel hat kürzlich auf dem Gewerkschaftstag der BCE deutlich erklärt, Aufhebung des Kündigungsschutzes und Einschränkung der Mitbestimmung fände mit ihr nicht statt. Offensichtlich will sich die schwarz-gelbe Koalition zum jetzigen Zeitpunkt nicht mit einem Großteil der Bevölkerung anlegen.

Nun tauchen die ersten Meinungen auf, dass es mit Sozialabbau und Massenarbeitslosigkeit, also dem Abwälzen der Krisenlasten auf die Bevölkerung, erst richtig nach den NRW-Wahlen 2010 losgehe. Vielleicht – vielleicht aber auch nicht. Jedenfalls ist die Bündnis-Strategie, auf eine kurzfristige Verschärfung der Widersprüche zu setzen, nicht aufgegangen. Reflektiert wird das bisher kaum.

Das Ergebnis der Bundestagswahlen hat deutlich gezeigt, dass eine überwältigende Mehrheit der Bevölkerung den Sozialstaat, oder zumindest sozialstaatliche Elemente, wünscht. Die Partei, die mit der Agenda 2010 und den Hartz-Gesetzen den Sozialstaat einseitig zugunsten des Kapitals verschieben wollte, nämlich die SPD, wurde am meisten bestraft. Eingezwängt zwischen einer sozialdemokratisierten CDU und der Linkspartei ist eine Perspektive für die Sozialdemokratie nicht sichtbar. Nätürlich gibt es eine Radikalisierung im bürgerlichen Lager, was sich im Ergebnis der FDP ausdrückt. Aber eine große Mehrheit der CDU-Wähler will den Sozialstaat erhalten, sie will die gesetzliche Krankenversicherung, die gesetzliche Rentenversicherung, das kommunale Eigentum und keine Privatisierung, z.B. der Deutschen Bahn. Angela Merkel weiß das ganz genau und operiert dementsprechend vorsichtig. Das Ergebnis der Bundestagswahl zeigt also deutlich, es gibt in diesem Land drei mehr oder weniger sozialdemokratische Parteien: die CDU, die SPD und die Linkspartei. Jede dieser Parteien, die zum jetzigen Zeitpunkt sozialstaatliche Elemente massiv angreifen würde, würde Wählerstimmen verlieren.

Für die Stammwähler der SPD waren die Agenda 2010 und die Hartz-Gesetze ein Schock, der vergleichbar, aber natürlich nicht identisch, war mit der Zustimmung der SPD zu den Kriegskrediten im August 1914. Seit 1998 hat die SPD 10 Millionen Wählerstimmen und 350.000 Mitglieder verloren. Und genauso wenig, wie sich die SPD in der Weimarer Republik von ihrer Zustimmung 1914 erholt hat, wird sich die SPD in unserer Zeit von der Agendapolitik erholen. Den Bruch wesentlicher sozialstaatlicher Normen und Regeln verzeiht die Bevölkerung der SPD nicht.

Wenn also festzustellen ist, dass die Krise noch nicht in vollem Umfang durchgeschlagen ist, heißt das nicht, dass es nicht zu sozialen Verwerfungen gekommen ist und weiter kommen kann. Die Firmen Scheffler, Arcandor und Opel sind diesbezügliche Beispiele. An diesen Beispielen wird deutlich, in welchem Zustand sich die deutsche Gewerkschaftsbewegung befindet: In einem der langsamen Zersetzung.

Während man auf Gewerkschaftstagen durchaus fortschrittliche Resolutionen verabschiedet, wird in der konkreten Politik vor Ort die direkte Kooperation mit der jeweiligen Kapitalfraktion angestrebt.

Vielen ist das Bild noch vor Augen, wie in Herzogen-Aurach bei Scheffler die Belegschaft, IG Metall und Frau Scheffler selber an den Staat appellierten, den Betrieb nicht untergehen zu lassen. Statt Kampf um die Arbeitsplätze Kapitulation vor einer scheinbar betriebswirtschaftlichen Logik, statt aufmüpfigem und kreativem Denken hilflose Appelle an Kapital und Staat. Die Kundgebungen in Herzogen-Aurach, aber auch die 'Proteste' der Arcandor-Beschäftigten bewegen sich auf dem selben Niveau wie die ersten Demonstrationen in Russland 1905, als Arbeiter, unter Mitführen von Heiligenbildern, zum Zar marschierten, mit der Aufforderung, er möge ihre Lage verbessern. Von
betrieblichem Widerstand und Mobilisierung keine Spur. Und es ist kein Zufall, dass einzig und allein eine kleine Gewerkschaft wie die GdL, die eben nicht in die Einheits- und Konsenssoße eingebunden ist, in den letzten zwei Jahren für Furore gesorgt hat. Man muss ja geradezu froh sein, dass die herrschenden Eliten im Moment nicht zu einem Frontalangriff auf die abhängig Beschäftigten und Arbeitslosen ansetzen, denn die deutschen Gewerkschaften würden wahrscheinlich zusammenfallen wie ein Kartenhaus.

Natürlich ist das mangelnde Bewusstsein der abhängig Beschäftigten und Arbeitslosen nicht nur Ergebnis eines Bankrotts eben dieser Gewerkschaften, sondern von einer sehr langen Periode sozialkompromisslerischen Handelns in Deutschland. Dies hat zur Folge, dass die unteren Klassen, die von Hartz-IV-Betroffenen und ihre Familien in absoluter politischer Passivität verharren, während die lohnabhängigen Mittelklassen ideologisch an die sozialdemokratischen Parteien gebunden sind. Natürlich gibt es Ausnahmen, sowohl im gewerkschaftlichen, als auch im betrieblichen Bereich, es gibt eine Vielzahl von Gewerkschaftsfunktionären, die sich bemühen, Widerstand zu organisieren, aber die vorherrschende Tendenz ist dies nicht.

Die Linkspartei – Reformisten ohne Reformen

Mit der Etablierung der Linkspartei in der deutschen Parteienlandschaft hat sich in Deutschland ein Stück europäische Normalität vollzogen. In fast jedem europäischen Land gibt es eine oder mehrere Parteien links der Sozialdemokratie, die zwischen 5 und 15 Prozent bei nationalen Wahlen erreichen. In Deutschland ist dies, und das muss man deutlich betonen, ein großer Fortschritt. Der Fortschritt ist deswegen so bedeutend, weil mit der wachsenden Stärke der Linkspartei Themen wieder in die Öffentlichkeit gebracht werden, die durch die neoliberale Offensive der letzten 20 Jahre als nicht mehr existent galten. Die Linkspartei drückt am heftigsten den Wunsch eines Teils der Bevölkerung aus, zu sozialstaatlichen Regelungen zurückzufinden, die es das letzte Mal in den 60er und 70er Jahren gegeben hat. Die sozialpolitische Programmatik der Linkspartei kann man in
einem Satz zusammenfassen: Die Reichen sollen Geld rüberwachsen lassen. Wenn sie das dann durch Gesetze, Regierungen und sonstige Maßnahmen tun, können sie eigentlich so weitermachen wie bisher.

Nun sind wir nicht mehr in den 60er und 70er Jahren, und das heißt, dass der Spielraum für das Rüberrücken entweder nicht vorhanden oder sehr begrenzt ist. Und das ist das Dilemma der Linkspartei. Sie glaubt, dies durch rein parlamentarische Konstellationen erreichen zu können. So erblüht die Linkspartei nach den Bundestagswahlen in der Diskussionen über diese und jene Regierungskonstellation, ohne auch nur zehn Prozent ihrer Überlegungen darauf zu verwenden, wie man einzelne richtige Gedanken, wie zum Beispiel den Mindestlohn, wirklich in der Gesellschaft verankern kann. Die fünf Millionen Wählerinnen und Wähler der Linkspartei werden darauf geeicht, darauf zu warten, was die Linkspartei in einer etwaigen Regierung mit SPD und Grünen so rausholen könnte. Weder versucht die Linkspartei, noch hat sie den Anspruch, Gegenmacht gegen den Kapitalismus in der Gesellschaft aufzubauen. Die Linkspartei ist also eine klassisch linksozialdemokratische Formation, die den Sozialstaat reanimieren und die Macht des Kapitals einschränken will. Diese sozialstaatliche Grundidee wird von 90 Prozent der Mitglieder, 90 Prozent der Mandatsträger und 90 Prozent der Wähler geteilt. Nicht mehr und nicht weniger.

Wer mehr in die Linkspartei reininterpretiert, verklärt die tatsächliche Grundstimmung der Partei. Ganz davon abgesehen funktioniert die Partei in ihren parlamentarischen Suchbewegungen auch nicht besonders kreativ. Warum setzt sie einseitig auf eine Koalition mit der SPD? Genausogut könnte man mit der sozialdemokratisierten CDU koalieren. Natürlich gibt es kulturelle Unterschiede und Befindlichkeiten, aber mit der CDU kann man wahrscheinlich genausogut sozialdemokratische Politik machen wie mit der SPD, vielleicht sogar besser. André Brie, ein sogenannter Vordenker der Linkspartei, wird diese Idee, die zugegebenermaßen etwas absurd ist, sicherlich in den nächsten fünf bis zehn Jahren propagieren, denn diese Idee folgt einer Grundüberzeugung, die André Brie mit vielen führenden Funktionären, vielleicht mit Ausnahme Lafontaines, teilt: Dass eine linke Partei in Deutschland niemals mehr als 13, 14 oder 15 Prozent der Stimmen erreichen kann. Wahrscheinlicher ist aber die Option, die Lafontaine im Hinterkopf hat: Über den Weg der Konkurrenz zur SPD diese kleinzukriegen, um dann in einer mittelfristigen Perspektive von fünf bis zehn Jahren Linke und SPD in einer gemeinsamen Partei zusammenzuführen.

Wie wenig sich die Linkspartei mit der Gesellschaft und dem Aufbau von Gegenmacht in der Gesellschaft beschäftigt, wird an einem einfachen Beispiel deutlich: Es gibt in Deutschland zurzeit ca. 25 Antikrisenbündnisse, die sich um Aufklärung und Mobilisierung bemühen. Die Linkspartei hat aber mehrere tausend Ortsgruppen. Was tun diese eigentlich? Meistens beschäftigen sie sich mit Personalfragen, Intrigen und Wahlkämpfen. Wo war denn im letzten Jahr die Informations- und Mobilisierungsoffensive der Linkspartei in der Gesellschaft und in den Betrieben? Sie hat nicht stattgefunden.

Strukturell ist die Sache jedenfalls entschieden. Die Linkspartei möchte den Kapitalismus auf sozialverträgliche Art mitgestalten und dementsprechend an jeder beliebigen Regierungskonstellation mitmischen. Auch wenn einige ehrenwerte Linke in der Partei noch rumhampeln: Regierungsbeteiligung ist das Ziel um jeden Preis. Das wäre auch noch in Ordnung, wenn in diesen Regierungsbeteiligungen ernsthafte Reformen für die Lohnabhängigen, die Erwerbslosen und die Jugendlichen herauskämen. Da aber nun mal die Spielräume so begrenzt sind, dass man eigentlich in jeder Regierung nur das Elend mitverwalten kann, ist die Linkspartei natürlich nicht in der Lage, ernsthafte Reformen durchzusetzen. Das Berliner Beispiel der rot-roten Regierung ist eben nicht die Ausnahme, sondern die Regel. In hunderten von Kommunen und Großstädten folgt die Linkspartei dem Berliner Beispiel. Privatisierung öffentlichen Eigentums, Sozialabbau, Schließung von Jugendeinrichtungen und so weiter. Man darf darauf gespannt sein, wie sich die Haltung der Linkspartei in einer etwaigen Bundesregierung darstellen würde. Vielleicht würde sie dann ja das Ausbleiben von Reformen mit dem Hinweis auf Brüssel rechtfertigen.

Soll, muss, darf auf keinen Fall!
Oder warum aus Trotzkisten nichts wird.

Es gibt in Deutschland eine Reihe von trotzkistischen Organisationen, deren Mitgliederzahlen seit 30 Jahren fast immer dieselben sind. Mal sind es ein paar mehr, mal ein paar weniger. Ein Durchbruch zu einer wirklich relevanten Organisation hat keine dieser Gruppen jemals geschafft. Trotzkisten sind in Deutschland nicht besonders beliebt. Das hängt damit zusammen, dass sie verdächtigt werden, sich immer nur größere Parteien zu suchen, eine Art Wirtskörper, in dem sie arbeiten. Trotzkisten wollen, wenn sie denn in größeren Parteien und Zusammenhängen sind, diese Organisation oder Teile davon überzeugen, dass diese etwas ganz anderes tun müssen, als was sie gerade tun. Das nennt man Entrismus. Der arme Trotzki, der in den 30er Jahren kurzfristig für die Mitarbeit der wenigen Trotzkisten in Frankreich und Spanien in den sozialistischen Parteien plädiert hatte, muss nun seit 70 Jahren für diese Taktik herhalten.

In den 50er Jahren, als die Arbeiterbewegung in Deutschland völlig von den Sozialdemokraten und Stalinisten dominiert wurde, und es objektiv keinen Spielraum für links-sozialistische Ideen gab, arbeiteten die deutschen Trotzkisten in der SPD. Sie waren so tief in die SPD verstrickt, dass sie, als der SDS 1961 aus der SPD flog, weiterhin loyale SPD-Mitglieder blieben. Die 1968er Jugendbewegung haben sie komplett verschlafen und den organisatorischen Bruch mit der SPD erst 1969 vollzogen. Deswegen dominierten in den 70er Jahren die skurrilsten maoistischen Sekten die außerparlamentarische Linke.

Grundlage dieses entristischen Gedankenguts ist die Überzeugung, dass sich
Radikalisierungsprozesse in der Gesellschaft als allererstes in den Großorganisationen
niederschlagen würden. Nun ist diese Überlegung, die also die Großorganisation zum
Ausgangspunkt macht und nicht die Radikalisierung, durch nichts verifizierbar. Alle wichtigen außerparlamentarischen Bewegungen, wie 1968 in Frankreich und Deutschland, wie 1969 in Italien, oder auch die Anti-Atom-Bewegung in Deutschland, sind außerhalb der jeweiligen Großorganisation entstanden. Hätte Rudi Dutschke 1968 auf die SPD geschielt, und nicht mit dem SDS zur unabhängigen eigenständigen Aktion aufgerufen, hätte es keine 68er Bewegung gegeben.

Zur Ehrenrettung der Trotzkisten muss man sagen, dass sich sowohl die französischen Trotzkisten, wie auch der marxistische Ökonom und Trotzkist Ernest Mandel frühzeitig von dieser Idee verabschiedet haben. Die SAV, die wichtigste und ernstzunehmendste Organisation des Trotzkismus in Deutschland hat jedoch aktuell den Schwenk zur Linkspartei vollzogen und versucht nun verzweifelt, dort Fuß zu fassen. Die will sie aber nicht, aus überaus verständlichen Gründen, und polemisiert ununterbrochen gegen die Unterwanderungstaktik der SAV-Trotzkisten. Die SAV antwortet mit dauernden Ermahnungen und Appellen an die Linkspartei und ihre Mitglieder, die Linkspartei müsse, die Linkspartei solle, und die Linkspartei dürfe auf keinen Fall...

Die Linkspartei wiederum interessiert sich nicht für das, was die Trotzkisten zu sagen haben, sondern beharrt auf dem, wofür sie konstituiert und gewählt wird, und zwar das kapitalistische System mitzuverwalten. Die SAVler sind nicht dumm und wissen genau, dass die Linkspartei in Gänze nicht zu der von ihnen herbeigesehnten neuen Arbeiterpartei werden wird. In Wahrheit glaubt die SAV, irgendwann, bei aufkommender Radikalisierung, mit einem relevanten Flügel der Linkspartei eine neue Arbeiterpartei formieren zu können. Da dies aber nicht offen ausgesprochen werden kann, haftet dem ganzen Unternehmen eine gewisse Unaufrichtigkeit an. Das merken natürlich auch links-gesinnte Mitglieder der Linkspartei und sind dementsprechend verstimmt. So ist man pausenlos in einem Kleinkrieg mit der Linkspartei verstrickt und überhaupt nicht mehr in der Lage, eigenständige Politik zu entwickeln.

Eine Zweite Grundannahme des Trotzkismus ist, man gehe mit 300 Leuten in eine bestehende Organisation hinein und komme mit 1000 wieder hinaus. Die bisherige Bilanz des trotzkistischen Entrismus ist eine völlig andere: Die englische SAV-Gruppe, die in der Labour-Party arbeitete, hatte auf ihrem Höhepunkt 8000 Mitglieder, nach ihrem Rauswurf aus der Labour-Party, diversen Fraktionskämpfen, blieben davon ca. 1300 übrig. Diese Beispiele lassen sich beliebig fortführen.

Auch hier muss man zur Ehrenrettung der SAV sagen, dass sie sich zumindest um dieses oder jenes unabhängige Wort bemüht, während sich die anderen Linksruck-Trotzkisten soweit anpassen, dass sie vom Mainstream der Linkspartei überhaupt nicht mehr unterscheidbar sind. Die ISL'ler, in Deutschland ein paar Dutzend, machen es ganz anders. Sie arbeiten größtenteils in der Linkspartei mit, ohne sich überhaupt eine Vorstellung davon zu machen, wohin das Ganze eigentlich führen soll. Wahrscheinlich fällt ihnen aufgrund der geringen Mitgliederzahl und der Reputation einiger Mitglieder einfach nichts anderes ein. Insgesamt hat der Trotzkismus in Deutschland in den letzten 30 Jahren gezeigt, dass er, von Ausnahmen abgesehen, nicht in der Lage ist, eine eigenständige und unabhängige Rolle im Klassenkampf zu spielen. Ein wirkliches Trauerspiel.

Warum die radikale Linke immer gerne hamsterradelt.

Für einen durchschnittlich interessierten Linken ist es völlig unmöglich, alle linken radikalen
Gruppen zu erfassen. Es muss in Deutschland hunderte von linksradikalen Gruppen und Grüppchen geben. Keiner dieser Gruppen ist es bisher gelungen, eine stabile Formation bundesweit aufzubauen. Allerdings muss man sagen, dass eine Reihe dieser Gruppen durchaus in der Lage ist, ein großes Milieu um sich zu scharen und gegebenenfalls wie in Heiligendamm oder am 1. Mai in Berlin zu mobilisieren. Wenn man sich mit der Organisation von Großevents beschäftigt, kann man verstehen, welch ungeheure personelle und organisatorische Leistung hinter der Organisation dieser Großereignisse steckt. Das führt regelmäßig dazu, dass nach der Organisation eines solchen Ereignisses die Gruppen immer wieder in Erschöpfungkrisen raten, die genauso lange dauern, bis das nächste Großevent auf der Tagesordnung steht. Von kontinuierlicher Wahrnehmung politischer
Verantwortung und Formulierung politischer Grundsätze ist man weit entfernt. Andere Gruppen lassen die Großevents gleich beiseite und beschäftigen sich lieber gleich mit der Organisation von Arbeitslosenfrühstücken. Da diese konkreten Sozialaktivitäten nicht eingebettet sind in ein langfristiges politisches Konzept, führen auch diese nicht zum erwünschten Erfolg.

In jeder dieser Gruppen, seien es die der Eventkultur oder die des Arbeitslosenfrühstücks, gibt es eine Vielzahl von Talenten und Kapazitäten, die aber nur periodisch zueinander finden. Nirgendwo ist es gelungen, auf Dauer das eigene Milieu zu verlassen und in die Gesellschaft vorzudringen. Wie soll man das auch schaffen mit maximal 50 Leuten? Das Hauptproblem besteht jedoch darin, dass völlig unklar ist, was eigentlich die politischen organisatorischen Gründe sind für eine getrennt aufrechterhaltene Strukur. Ist es die Geschichte der radikalen Linken, sind es Befindlichkeiten, sind es ernsthafte politische Differenzen oder ist es einfach nur der Trott, in dem sich die Gruppen seit Jahren bewegen?

Die interventionistische Linke, sozusagen ein Verbindungskomitee all dieser Gruppen scheitert immer wieder an sich selbst und ist zerrissen zwischen dem Wunsch gemeinsamer Diskussionen, Festlegung von Positionen und dem jeweils neu entstehenden Mobilisierungsevent. Einzeln betrachtet sind diese Gruppen politisch irrelevant, in der Summe aber könnten sie durchaus einen Faktor darstellen. Welche Verschwendung von Ressourcen und Personal, wenn jedes Flugblatt, das verfasst werden muss, und von mehreren Gruppen unterzeichnet werden soll, erst durch alle Gruppenstrukturen laufen muss! Politisch besteht das Problem dieser Gruppen hauptsächlich darin, wie man Positionen zwischen dem abstrakten „Der Kapitalismus ist scheiße!“ und dem aktuellen
Bewusstseinsstand der Massen beziehen kann. So wird immer weiter hamstergeradelt zwischen dem Arbeitslosenfrühstück und dem Großevent, und immer neue Generationen wachsen heran, treiben dieses Geschäft weiter, während die älteren, zermürbt von der fehlenden politischen Kontinuität, sich in Beruf und Privatleben zurückziehen.

Und nun?

Natürlich ist es unmöglich, hier ein komplettes Konzept für etwas Anderes und etwas Neues darzustellen. Dies ist nur in einem kollektiven Rahmen möglich. Ein paar Stichpunkte seien aber dennoch angefügt:

Wenn man der Arbeitshypothese folgt, dass die Linkspartei eine links-sozialdemokratische
Formation ist, deren Ziel es ist, den Kapitalismus sozial-verträglich zu gestalten, liegt die
Notwendigkeit einer politischen Organisation, die antikapitalistische Positionen formuliert, auf der Hand. Um es gleich vorweg zu nehmen, eine solche Organisation muss keinesweg heute auf jedem Feld der Politik mit der Linkspartei konkurrieren oder gar in der Linkspartei den Hauptfeind sehen.

Notwendig wäre produktive Auseinandersetzung mit der Linkspartei um politische Ziele. Es wäre völliger Quatsch, heute generell der Linkspartei das Wahlterrain streitig zu machen. Das würde in einem Desaster enden. Es kann aber durchaus sinnvoll sein, an diesem und jenem Ort, wo die Linkspartei sich unwählbar gemacht hat, eigenständig zu kandidieren.

Das sind aber nur Nebensächlichkeiten. In der Hauptsache geht es heute darum, eine Diskussion über die Notwendigkeit einer unabhängigen antikapitalistischen Organisation zu beginnen. Zu klären wäre als erstes folgendes: Gibt es eine Lücke in der Gesellschaft, die von den traditionellen sozialdemokratischen Organisationen, also auch der Linkspartei, nicht mehr besetzt wird? Ich würde diese Frage heute unbedint bejahen, weil die Entfremdung zwischen den Großorganisationen und der gesellschaftlichen Basis immer größer und nicht kleiner wird. An anderer Stelle habe ich darauf hingewiesen, dass die Linkspartei weder willens noch in der Lage ist, ihr Wählerpotenzial zu einer wirklichen gesellschaftlichen Kraft zu machen, mal ganz abgesehen von den vielen Millionen
Prekären und Entwurzelten, die sich sowieso nichts mehr von der Politik erwarten. Bevor man aber ans Organisieren geht, muss man eine Reihe von Debatten tabulos führen, zum Beispiel über die Frage der oben erwähnten Gewerkschaften. Entspricht die Einheitsgewerkschaft, wie sie heute existiert, noch der Vielfalt von Lebensstilen und Lebensentwürfen? Wo ist es sinnvoll, unabhängig von den herrschenden Gewerkschaftsstrukturen Betriebspolitik zu entwickeln?

Natürlich muss man sich, wenn man sich daran machen will, eine neue Organisation zu schaffen, über Prinzipien verständigen, zum Beispiel die Ablehnung der Mitverwaltung des kapitalistischen Systems. Zum Beispiel die Frage der Ablehnung jeglicher Regierungsbeteiligung. Zum Beispiel die Frage des Pluralismus in einer solchen Organisation. Zum Beispiel die Frage der kontinuierlichen politischen Arbeit in einem Stadtteil oder einem Betrieb. Vor allem aber ist es notwendig, programmatisch zu diskutieren, welche Punkte heutzutage wichtig sind. Dazu ist inhaltliche und
programmatische Arbeit notwendig, die gekoppelt sein muss mit organisatorischen Maßnahmen, nämlich der Vereinigung wichtiger Teile der radikalen Linken und des Trotzkismus auf einer neuen inhaltlichen Grundlage.

Wichtig ist ausserdem die Erkenntnis, dass Politik nichts abstrakt-progandistisches sein darf, sondern auf konkrete Widersprüche vor Ort antworten muss, wenn es zum Beispiel in Berlin ein Volksbegehren zur Wasserprivatisierung gibt, darf die radikale Linke nicht abseits stehen. Was natürlich keinesfalls von der Verpflichtung entbindet, immer wieder über das System hinausweisende antikapitalistische Positionen zu beziehen. Es reicht eben nicht aus, nur für Mindestlohn und gerechte Forderungen zu streiten, sondern man muss sich auch die Frage stellen, was für wen zu welchen ökologischen Kosten produziert wird.

Aber das Wichtigste ist der Grundsatz der politischen Unabhängigkeit von der Sozialdemokratie in all ihren Facetten und die Ablehnung der Mitgestaltung der kapitalistischen Misere. Die historischen Differenzen, die sich zum Beispiel in der Sicht auf die Oktoberrevolution oder andere Ereignisse ausdrücken, dürfen nicht der Maßstab einer wirklich neuen unabhängig radikalen Linken sein, denn sie führen immer wieder zu dem, was wir seit Jahren erleben. Spaltung und Niedergang.

Es geht aber heute eigentlich um etwas anderes.

Die historische Kraft der Sozialdemokratie, der traditionellen Gewerkschaften und der
stalinistischen Parteien ist erschöpft. Sie hat nicht zu dem geführt, wozu sie angetreten ist, nämlich eine sozial gerechte Gesellschaft zu konstituieren, ganz im Gegenteil! Sie hat dazu geführt, dass die traditionelle Arbeiterbewegung in Auflösung begriffen und in einem erbärmlichen Zustand ist. Es geht also heute darum, eine weitaus breitere, neue Arbeiterbewegung zu schaffen, einen politischen Raum zu besetzen und damit antikapitalistische Positionen wieder politikfähig zu machen.

Anregungen und Kritik bitte an Diese E-Mail Adresse ist gegen Spam Bots geschützt, Sie müssen Javascript aktivieren, damit Sie sie sehen können

Editorische Anmerkungen

Wir spiegelten den Artikel von
http://www.linkspartei-debatte.de/index.php?name=News&sid=1403