"In Gott werden sich alle Widersprüche und Spannungen dereinst aufheben"
Rezension zu Norbert Lesers Buch
über 120 Jahre Sozialdemokratie (1)

von
Roman Birke

1108

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Man weiß nicht genau womit man es eigentlich zu tun hat, wenn man die  ersten Seiten von Norbert Lesers neuem Buch zur Geschichte der Sozialdemokratie gelesen hat. Geht es hier um eine geschichtliche Darstellung der einzelnen Ereignisse, möchte er kritisch mit den Positionen der Sozialdemokratie abrechnen oder ist das Buch nur Mittel  zur Befriedigung seines zwanghaften Drangs zur Selbstdarstellung, für den mehrere Seiten des Buches geopfert werden? Die Aussagen zu unterschiedlichen Ereignissen sind mitunter genauso widersprüchlich wie Norbert Leser selbst. Nachdem er als Kritiker der Parteibürokratie seine zentrale Stellung als sozialdemokratischer Parteiideologe verloren hat, begab er sich vermehrt in akademische Bereiche, bekleidete den ersten  Politologie-Lehrstuhl in Salzburg und darauf folgend jenen der Gesellschaftsphilosophie an der Universität Wien. Nach seiner Emeritierung leitete er das Ludwig-Boltzmann-Institut für
Zeitgeschichte. Doch weder sozialdemokratische Vergangenheit noch  "akademische Weisheit" konnten ihn von seiner katholischen Überzeugung  abbringen. Im Gegenteil: Er versteht sich heute als Gelenkter Gottes und somit ist es auch kein Wunder, dass er zwischen den Abschnitten über Julius Deutsch und Bruno Pittermann den Lesern auch kurz sein Lebensmotto verrät: "Ich fahre unerlöst durch diese Fremdnis hin, Gott sagt es mir dereinst, wer ich gewesen bin", so der Wortlaut dieses Mottos. Nachdem er auch noch ausführt, dass er stolz auf seinen Beitritt zur Landsmannschaft Maximiliana ist, da er lieber "Kappe und Band ins offene Grab nachgeworfen" bekommt, "als Sichel und Hammer bzw. die drei Pfeile" muss man sich schon die ernsthafte Frage stellen, inwieweit man dieses Buch ernst nehmen soll. Doch Norbert Leser und sein Buch bekommen eine alles andere als gerechtfertigte Aufmerksamkeit von den bürgerlichen Medien, sodass es nicht reicht ihn als alten Narren abzustempeln, sondern ein paar kritische Bemerkungen durchaus angebracht sind.

Die erste seiner "Abrechnungen" mit der Sozialdemokratie beginnt mit einer Verteufelung der marxistischen Vergangenheit. In einigen Zeilen wird dem Marxismus der wissenschaftliche Anspruch abgesprochen, denn es  hätte ja in der Praxis nicht funktioniert. Außerdem macht Leser zwei Grundwidersprüche in der marxistischen Theorie aus, die -- das scheint er zumindest zu glauben -- dem Marxismus auf ideologischem Gebiet den Todesstoß versetzen.

Erstens argumentiert er, dass entgegen der marxistischen Theorie über die Durchsetzung langfristiger historischer Tendenzen in der ArbeiterInnenbewegung immer Persönlichkeiten im Mittelpunkt standen, ohne die sich solche Tendenzen nicht entfalten hätten können. Für
Österreich nimmt er das Beispiel Victor Adlers, der eine wichtige Rolle bei der Gründung der österreichischen Sozialdemokratie und darüber hinaus gespielt hat, international führt er das Beispiel Lenins an, dessen bloße Existenz eben zeigen würde, dass langfristige historische Tendenzen sich nicht deterministisch manifestieren, sondern nur von der Initiative einzelner Personen abhängen. Man muss schon eine besondere  Gabe zum oberflächlichen und platten Eklektizismus besitzen, um in diesen Beispielen einen Widerspruch innerhalb der marxistischen Theorie ausmachen zu wollen. Denn wenn der Marxismus davon spricht, dass die Geschichte immer als Geschichte von Klassenkämpfen aufgefasst werden muss, so sagt uns das zweierlei. Zum einen ist klar, dass durch die
Kollision zwischen der Entwicklung der Produktivkräfte mit den sie verwaltenden gesellschaftlichen Verhältnissen Eruptionen geschaffen werden, die eben als Kämpfe zwischen verschiedenen Klassen und Schichten ihren Ausdruck finden. Zum anderen bringen solche Kämpfe natürlich auch Parteien und Personen hervor, die in besonderen geschichtlichen Momenten eine zentrale Rolle spielen können. Aber die Dialektik liegt eben darin verborgen, dass der geschichtliche Moment bestimmten Personen auch eine
geschichtliche Rolle zukommen lässt und nicht einzelne Personen  geschichtliche Momente hervorzaubern, diese jedoch trotzdem hemmen oder verstärken können.

Zweitens kritisiert er die von Kautsky (und auch Lenin) hervorgehobene Rolle der Intellektuellen in der revolutionären Partei. Auf Grundlage der Erkenntnis, dass sich das Bewusstsein der ArbeiterInnenklasse zwar spontan entwickeln kann, innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft und ihrem ideologischen Dickicht jedoch mit unterschiedlichen Fehlern behaftet ist, wurde von unterschiedlichen marxistischen Theoretikern betont, dass es eine Partei braucht, die von außen ein sozialistisches
Bewusstsein in diverse Bewegungen hineintragen muss. Richtigerweise  haben Kautsky und Lenin den Intellektuellen eine wichtige Rolle in diesem Zusammenhang zugewiesen -- reden wir doch von Zeiten in der Allgemeinbildung kaum vorhanden war und für die ArbeiterInnenklasse wenig Zeit blieb neben einem manchmal weit über zehn-stündigen
Arbeitstag sich auch mit Fragen des wissenschaftlichen Sozialismus auseinanderzusetzen. Doch Norbert Leser denkt, dass darin schon die  Diktatur des Proletariats widerlegt sei. Denn wenn Intellektuelle in der revolutionären Partei eine wichtige Rolle spielen, so wäre es eben keine Diktatur des Proletariats mehr, sondern eine bürokratisierte Elitenherrschaft. Natürlich wäre es falsch, die bürokratische Entartung der Sowjetunion zu leugnen -- die Tradition des Trotzkismus der wir uns zugehörig fühlen war vielmehr die einzige Kraft, die eine konsequente, weil materialistisch begründete, Kritik des Stalinismus präsentiert hat -- doch Leser macht es sich doch etwas einfach, die komplette
Degeneration der Sowjetunion auf die Rolle der Intellektuellen in der  revolutionären Partei zurückzuführen.

Doch in Wirklichkeit geht es hier nicht um eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der marxistischen Theorie, sondern um deren oberflächliche Ablehnung. Somit ist es auch kein Wunder, dass Leser dem ersten Teil seines Buches ein Zitat von Karl Popper voranstellt: "Der Marxismus hat besonders die österreichische Sozialdemokratie in eine  Sackgasse geführt und außerdem in eine Situation gebracht, wo die wirklichen Probleme durch andere verdrängt wurden." Vielmehr ist es der Fall, dass die österreichische Auslegung des Marxismus -- der Austromarxismus -- die Sozialdemokratie in eine Sackgasse geführt hat.

Einer der grundlegenden Bestandteile des Austromarxismus und somit des österreichischen Revisionismus -- nämlich die Frage der Nation und die  daraus abgeleitete Nationalitätenpolitik -- wird auch von Leser aufgegriffen und arg verstümmelt. Nicht nur, dass er eine Ehrenrettung der österreichischen Sozialdemokratie versucht, indem er den
"tschechischen Separatismus" für die Spaltung der Sozialdemokratie  verantwortlich macht, ohne auch nur ansatzweise auf den deutschen Nationalismus der österreichischen Parteitheoretiker einzugehen, vertritt er auch eine absurde psychologische Position zur Frage der Nation. Die Betonung des "tschechischen Separatismus" und somit die  Ausblendung des deutschösterreichischen Nationalismus kommt schon fast Geschichtsfälschung gleich. Insbesondere Karl Renner fällt hier auf, der  aus seinem deutschösterreichischem Nationalismus nie ein Geheimnis machte. So schieb Renner 1902: "Der Deutschösterreicher war einmal der herrschende Stamm in Österreich, mit der Herrschaft hat es ein Ende, aber das führende Volk wird er immer sein. Und besser ist es sieben Nationen zu führen, als ein Hinterland der Hohenzollern zu bilden. (...)  Jede deutschösterreichische Irredenta ist Flucht vom Posten, ist nationale und kulturelle Fahnenflucht." (2) Die Spaltungen in der Sozialdemokratie müssen also vielmehr als Reaktion auf die Zentralisation und Dominanz der österreichischen Partei verstanden
werden, die in ihrer Programmatik den Kampf für nationales  Selbstbestimmungsrecht schon in Hainfeld 1889 aufgegeben hat. Insgesamt spricht Leser dem Nationalismus ein entscheidendes Moment in jeglicher politischer Auseinandersetzung zu. Die Argumente dafür können absurder kaum sein. Anstatt Nationalismus und nationalistische Bewegungen in erster Linie durch nationale Unterdrückung bzw. nationale Vorherrschaft  im Rahmen der Klassengesellschaft zu erklären, sagt er, dass der Nationalstolz der "wohlfeilste Stolz" sei, der so gefährlich ist, da der Mensch "einen immer sprungbereiten Aggressionstrieb besitzt und ein Konfliktwesen ist." (3)

Damit sind wir eigentlich auch schon am Kern der Methode Lesers angelangt, die sich wie ein roter Faden durch das ganze Buch hindurchzieht. Alle Ereignisse werden durch individualpsychologische Momente erklärt. Dies nimmt sogar solch absurde Ausmaße an, dass sich Leser dazu hinreißen lässt, die Ermordung des habsburgischen
Ministerpräsidenten durch Friedrich Adler 1916 als ödipale  Kurzschlussreaktion hinzustellen. Es handle sich um "Vatermord mit vertauschtem Objekt". Eigentlich wollte ich auf diesen Satz verzichten, aber ich komme nicht umhin zu sagen, dass man dieses Buch nicht immer ohne physische Schmerzen lesen kann. Doch Leser selbst kann mir
wahrscheinlich am besten den psychosomatischen Zusammenhang zwischen dem  Lesen dieser Absurditäten und plötzlich auftretender Übelkeit erklären.

Durch diese psychologistischen Erklärungsmuster ist es auch kein Wunder, dass Leser eine brennende Sympathie für Max Adlers Idealismus entwickelt. Er lobt ihn dafür, dass er sich statt auf dialektischen Materialismus auf den Idealismus von Kant und Fichte bezieht und seine Theorien darauf aufbaut. Dieser Idealismus Adlers zieht sich durch fast alle seine Schriften. In Fragen der Erziehungsarbeit tritt er für die Schaffung eines "neuen Menschen" nach geistigen Idealen an, der Klassenkampf ist für ihn "seinem Wesen nach [etwas] durchaus Geistiges" (4). Auch bei Leser wird die Welt -- um sich einem bekannten
Ausspruch zu bedienen -- von den Füßen auf den Kopf gestellt.

Durch diesen prinzipiellen Idealismus Lesers ist auch seine gesamte Deutung der Ersten Republik absolut unausreichend. In der Frage, ob man 1918 von einer Revolution in Österreich sprechen kann, meint er, dass "psychologisch sehr wohl eine solche" stattgefunden habe. Sich einem breiten Diskurs anschließend, argumentiert er weiter, dass das Scheitern der Demokratie und das Ende der Ersten Republik vor allem auf einen fehlenden Grundkonsens zurückzuführen ist, der durch die Auswahl  gemäßigter Personen bei Sozialdemokraten und Christlich-Sozialen überwinden hätte werden können. Deshalb hätte auch der Austromarxismus Schuld an den Ereignissen in Schattendorf, denn er hat zu einer Polarisierung beigetragen. Statt dieser Polarisierung präsentiert Leser
auch die  Abrüstung durch die Sozialdemokratie und somit das  Signalisieren eines guten Willens als Möglichkeit die Grabenkämpfe in der Ersten Republik zu überwinden (es sei hier noch darauf verwiesen, dass er die Abrüstung als Alternative zum bewaffneten Kampf nach  Ausschaltung des Parlaments durch Dollfuß präsentiert!) (5). Im Nachhinein wäre es sowieso schwer, sich auf eine Seite der Lager zu stellen, so Leser. Und heute kann er durchaus beiden Seiten etwas abgewinnen. Somit fällt es ihm auch nicht schwer in "Dollfuß sowohl Verfassungsbrecher und Arbeitermörder als auch Märtyrer und Blutzeuge
der österreichischen Idee" (6) zu sehen.

Die theoretische Bewertung der Ersten Republik bewegt sich auf selbem  Niveau wie die vorherigen Darstellungen, auch wenn sie die Erklärung des Adler-Mordes durch einen ödipalen Komplex vielleicht etwas übertrifft. Doch aus diesen Tiefen der Erkenntnis aufzusteigen, heißt noch lange nicht, sich in den Höhen derselben zu bewegen. Leser zur
Zwischenkriegszeit: "Das Österreich der Zwischenkriegszeit ist ein wie  aus einem politologischen Lehrbuch entnommenes Beispiel für eine Staat, der nicht jenes Minimum an Gemeinsamkeit aufwies, ohne das ein Gemeinwesen nicht gedeihen, ja auch nur überleben kann." (7) Hier ist alles verkehrt und auf den Kopf gestellt. Man muss kein Genie sein, um zu erkennen, dass ein gewisser nationaler Grundkonsens gefehlt hat, die  Ursache dafür hat man damit aber noch nicht erklärt. Österreich ist vielmehr ein Beispiel dafür, dass durch die historisch bedingte Schwäche des Bürgertums auf der einen und dem Unwillen des Austromarxismus die Macht zu ergreifen auf der anderen Seite lange Zeit ein entwickelter Staat und somit ein um mit Engels zu sprechen "Schranken der Ordnung"
fehlte. Nicht nur, dass die wirtschaftlich rückständige  Habsburger-Monarchie der neu aufgestiegenen Republik keine großen Kapitalisten vererbt hat, gab es auch kaum eine militärische Organisation der Bourgeoisie in der Form eines Heeres. Es ist somit kein
Zufall, dass die bürgerlichen Kräfte alles daran setzten, die aus  sozialdemokratischen Arbeitern zusammengesetzte und von den Arbeiter- und Soldatenräten kontrollierte Volkswehr so schnell wie möglich in ein dem Nationalrat unterstehendes Bundesheer zu integrieren.

Diese historisch begründete Stärke der ArbeiterInnenklasse im Verhältnis zur Schwäche des Bürgertums musste unmittelbar zu vermehrten Kämpfen führen. Denn fehlendes Privatkapital heißt auch fehlende Einheiten zur Führung und Verwaltung von Betrieben. Deshalb die wichtige Stellung der Arbeiterräte zur Verwaltung der Betriebe. Die österreichische Situation schuf somit unmittelbar nach dem Zerfall der Habsburger-Monarchie eine Situation der Doppelmacht. Diese Situation zwang das Bürgertum zu
einigen Zugeständnissen, der Verzicht auf die Macht durch die  zurückweichende Sozialdemokratie bedeutete aber die Aufhebung dieser Zugeständnisse und auch die Diktatur vorzubereiten. Darin liegt die grundlegende Instabilität der Zwischenkriegszeit die als Instabilität der Herrschaftsverhältnisse insgesamt zusammengefasst werden kann. Es
ist somit eine große Täuschung zu glauben, dass das Proletariat eine  Alternative zur Ergreifung der Staatsmacht gehabt hätte, die nicht in Diktatur und letztendlich Faschismus enden würde.

Die Darstellungen der SPÖ in der Zweiten Republik werden nicht viel spannender als die vorigen Kapitel, sondern sind durch dieselbe Ignoranz aller wesentlichen Entwicklungslinien geprägt. Vor allem wird vollkommen ignoriert, dass die SPÖ eigentlich kaum etwas von ihrer austromarxistischen Tradition "hinübergerettet" hat, die sich  zumindest noch in Worten für Kämpfe ausgesprochen hat. Vielmehr wurde jeglichem Klassenkampf abgeschworen (8), der integrale Sozialismus aufgrund der im Widerstand und Verbannung stärker gewordenen KPÖ abgelehnt und -- wie auch Leser schreibt -- linkeren Parteipersönlichkeiten geraten aus der Emigration lieber nicht wieder  zurück nach Österreich zu kehren (z.B. Otto Leichter).

Neben den ein oder anderen interessanten biographischen Details über unterschiedliche sozialdemokratische Parteifunktionäre sind alle Kapitel durchsetzt von einer unglaublich arroganten Selbstdarstellung. So soll sich Julius Deutsch bei einem Vortrag am Tag seines Ablebens noch extra erkundigt haben, ob Leser unter den Zuhörern sei. Norbert Leser selbst sei weiters verantwortlich dafür, dass es zu dem Wechsel von Pittermann  zu Kreisky kam, indem er einen Vortrag von Ernst Koref über die Frage "Pittermann ja oder nein?" "herbeiführte" (sic!). Auf Seite 172 von Lesers Buch wird ein ganzer Brief Kreiskys an ihn abgedruckt, "in dem er sich", so Leser, "sogar zu dem vertraulichen ,wir beide' hinreißen ließ". Doch auch mit etwas eigenartig anmutenden Federn schmückt sich
Leser. Nachdem er in einem Artikel 1974 die Position vertreten hat, dass  das Bestehen der Monarchie kein Grund für das weitere Wachstum der Sozialdemokratie gewesen wäre, schrieb ihm Otto Habsburg einen Brief in dem er -- wie Leser stolz berichtet -- sagte, "dass es ihm Leid tue, dass sein seliger Vater es nicht mehr erlebt habe, einen so  habsburgerfreundlichen Artikel in einer sozialistischen Zeitschrift  lesen zu können." (9)

Interessant im zweiten Teil ist einzig und allein die Darstellung der Entstehungsgeschichte des Parteiprogramms von 1958. Den Vorentwurf dafür schrieb der Sohn Karl Kautskys, Benedikt. Nachdem der Entwurf Kautskys eine revisionistische Formulierung nach der anderen beinhaltete, wurden Teile dieses Revisionismus wieder zurückgenommen. Der Einleitungssatz, der von Kautsky formuliert wurde, lautete: "Die moderne Gesellschaft
hat sich völlig anders entwickelt, als Marx es im Kommunistischen  Manifest voraussagte." Kautsky hatte auch kein Problem damit, Faschismus und Kommunismus auf eine Stufe zu stellen, in dem er schrieb, dass "der demokratische Sozialismus (...) der Todfeind sowohl des Faschismus wie des Kommunismus [ist]." (10) Dass diese Passagen keinen Eingang ins Parteiprogramm fanden liegt wahrscheinlich an zwei Gründen: Erstens war klar, dass die Kommunistische Partei noch am ehesten jenen Widerstand gegen den Faschismus in Österreich geleistet hat, den die Sozialdemokratie so oft versäumt hat und somit eine Gleichschaltung von Faschismus und Kommunismus auch für die eigenen parteigeschichtlichen Versäumnisse problematisch gewesen wäre. Zweitens wäre dies ein
radikaler Bruch mit jeglicher Tradition und ein Angriff auf  unterschiedliche ideologische Parteiinstitutionen gewesen. Der noch zwanghaft aufrechterhaltene Pathos wäre somit vollends verloren gegangen.

Die Kritik die Leser an unterschiedlicher Stelle an der Partei äußert,  ist keineswegs eine prinzipiell ideologische Kritik, sondern dreht sich meistens um die Bürokratisierung der Partei, die richtigerweise angeprangert wird. Doch zur Lösung dieses Problems hat Leser -- wie würde man es anders erwarten -- keinerlei Konzepte. Anstatt das Offensichtliche wie jederzeitige Abwählbarkeit, durchschnittlicher Facharbeiterlohn und andere Kontrollmaßnahmen durch die Arbeiterbasis zu  fordern, stellt er eine ideologische Erneuerung, eine Rückbesinnung auf Werte, die nicht mit so viel Gier besetzt waren, in den Vordergrund. In diesem Zusammenhang schafft er es auch noch mit aller Ernsthaftigkeit
die Ehrenhaftigkeit des Habsburger-Adels zu würdigen. Denn dieser hätte noch gewusst wie man sich verhalten soll und wäre -- von Ausnahmen abgesehen -- nicht so gierig gewesen. Abschließend behandelt Leser auch noch die Frage der Einführung des Mehrheitswahlrechts, die er, so rühmt er sich, schon seit 1965 gefordert hat und argumentiert, dass "die Einführung des Mehrheitswahlrechtes (...) also ein Systemsprung und Befreiungsschlag zugleich [wäre]." Anstatt den Aufbau von politischen Alternativen zu forcieren, mag er bestehenden politischen Parteien mehr Gewicht geben um nicht immer auf Koalitionen angewiesen zu sein. Man sieht: Auch in aktuellen politischen Fragen ist es durchaus gut, dass Leser einen nicht mehr all zu großen Einfluss auf die politische Gestaltung hat.

Insgesamt ist das Buch ermüdend. Es bietet weder historische Neuigkeiten, noch tiefgreifende Analysen der Geschehnisse. Vielmehr versucht Leser verzweifelt akademisch klingende Sätze zu formulieren, mit möglichst vielen lateinischen Sprichwörtern um sich zu werfen und eine Reihe unnützer Adverbien zu verwenden, um möglichst lange Sätze zu formulieren. Doch auch diese Versuche der Blendung können nicht darüber  hinweg täuschen, dass in diesem Buch altes neu aufgewärmt wird, anstatt neue Erkenntnisse oder Tatsachen zu präsentieren. Die einzelnen interessanten Details oder zitierten Stellen werden durch einen fehlenden wissenschaftlichen Apparat unnütz, da sie für weitere
Forschungen nicht einmal nachverfolgt werden können. Alles in allem kann man sich die 22,90 Euro für dieses Buch durchaus sparen und für bessere Alternativen verwenden.

Anmerkungen:

(1) Leser, Norbert: Der Sturz des Adlers. 120 Jahre österreichische Sozialdemokratie, Verlag Kremayr & Scheriau KG, Wien, 2008.

(2) Vgl. Löw, Raimund (et al): Der Austromarxismus. Eine Autopsie, isp-Verlag, Frankfurt, 1986, S. 55.

(3) Leser, S. 32.

(4) Vgl. Löw (et al), S. 105.

(5) Die Argumentation ist so kurios, dass sie dem Leser  der Leserin nicht vorenthalten werden soll. Die zwei Möglichkeiten nach Ausschaltung des Parlaments hätten laut Norbert Leser wie folgt ausgesehen: "Die eine riskante, aber durchaus erwägenswerte hätte darin bestanden, einseitig abzurüsten und daraus moralisches Kapital zu schlagen, die andere hätte es erforderlich gemacht, ein wirkliches und ernst gemeintes Wehrkonzept zu entwickeln und es am Tage X auch in die Tat umzusetzen oder dies wenigstens zu versuchen." (Leser, S. 104)

(6) Leser, S. 84.

(7) Leser, S. 95.

(8) Auch der kurze Verweis auf den "Klassenkampf der Arbeiter" im Aktionsprogramm von 1947 ändert hierbei nichts. Insbesondere wenn im Satz später gesagt wird, dass die Sozialdemokratie im "freien Kräftespiel politischer Parteien die notwendige Grundlage der
Demokratie" sieht.

(9) Leser, S. 154.

(10) Vgl. Leser, S. 148f.


Norbert Leser
Der Sturz des Adlers
120 Jahre österreichische Sozialdemokratie

224 Seiten
Format 16 x 24 cm
Efalin, Schutzumschlag
Ladenpreis: € (A,D) 22,90; SFr 41,50
ISBN: 978-3-218-00785-6
Verlag Kremayr & Scheriau