Die Massenpsychologie des Faschismus
Die Fragestellung der Massenpsychologie

von Wilhelm Reich

11/08

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Wir haben bisher gesehen, dass die wirtschaftliche und ideologische Situation der Massen sich nicht decken müssen und sogar beträchtlich auseinander fallen können. Die ökonomische Lage setzt sich nicht unmittelbar und nicht direkt in politisches Bewusstsein um. Wäre das der Fall, die soziale Revolution wäre längst da. Entsprechend diesem Auseinanderfallen von sozialer Lage und sozialer Bewusstheit muss die Untersuchung der Gesellschaft eine doppelte sein: Ungeachtet der Tatsache, dass sich die Struktur aus dem wirtschaftlichen Dasein ableitet, muss die wirtschaftliche Situation mit anderer Methode erfasst werden als die charakterliche Struktur: jene sozialökonomisch, diese bio-psychologisch. Wir wollen das Gesagte an einem einfachen Beispiel darstellen: Wenn Arbeiter, die infolge Lohndrucks hungern, streiken, so ergibt sich ihr Handeln direkt aus ihrer wirtschaftlichen Lage. Das gleiche gilt für den Hungernden, der Nahrung stiehlt. Zur Erklärung des Diebstahls aus Hunger oder des Streiks aus der Ausbeutung bedarf es keiner weiteren psychologischen Erklärung. In diesem Falle entsprechen Ideologie und Handeln dem wirtschaftlichem Druck. Ökonomische Lage und Ideologie decken sich. Die reaktionäre Psychologie pflegt in diesem Falle erklären zu wollen, aus welchen angeblich irrationalen Motiven gestohlen oder gestreikt wird, was immer zu reaktionären Erklärungen führt. Für die Sozialpsychologie steht die Frage gerade umgekehrt: nicht, dass der Hungernde stiehlt oder dass der Ausgebeutete streikt, ist zu erklären, sondern weshalb die Mehrheit der Hungernden nicht stiehlt und die Mehrheit der Ausgebeuteten nicht streikt. Die Sozialökonomie erklärt einen gesellschaftlichen Tatbestand also restlos dann, wenn das Handeln und Denken rational-zweckmäßig ist, d. h. der Bedürfnisbefriedigung dient und die ökonomische Situation unmittelbar wiedergibt und fortsetzt. Sie versagt, wenn das Denken und Handeln der Menschen der ökonomischen Situation widerspricht, also irrational ist.  Der Vulgärmarxismus und der Ökonomismus, die die Psychologie nicht anerkennen, stehen einem solchen Widerspruch hilflos gegenüber. Je mechanistischer, ökonomistischer der Soziologe orientiert ist, je weniger er die Struktur des Menschen kennt, desto mehr verfällt er dem oberflächlichen Psychologismus in der Praxis der Massenpropaganda. Statt den psychologischen Widerspruch im Massenindividuum zu erraten und zu beseitigen, betreibt er öden Couéismus, oder er erklärt die nationalistische Bewegung aus einer „Massenpsychose“(4). Die Fragestellung der Massenpsychologie setzt also gerade dort an, wo die unmittelbare sozialökonomische Erklärung versagt. Stellt sich die Massenpsychologie dadurch in Gegensatz zur Sozialökonomie? Nein. Denn das irrationale, also der unmittelbaren sozialökonomischen Situation widersprechende Denken und Handeln der Massen ist selbst die Folge einer früheren, älteren sozialökonomischen Situation. Man pflegt die Hemmung der sozialen Bewusstheit aus der so genannten Tradition zu erklären. Es ist aber bisher nicht untersucht worden, was das ist: „Tradition“, an welchen psychologischen Tatbeständen sie sich abspielt. Der Ökonomismus hat bisher übersehen, dass die wesentlichste Frage nicht die ist, dass und wie soziales Verantwortungsbewusstsein beim Werktätigen vorhanden ist (das ist selbstverständlich!), sondern was die Entwicklung des Verantwortungsbewusstseins hemmt.

Die Unkenntnis der charakterlichen Struktur der Menschenmassen ergibt immer wieder unproduktive Fragestellungen. Die Kommunisten erklären z. B. die Machtergreifung durch den Faschismus aus der irreführenden Politik der Sozialdemokratie. Diese Erklärung führte im Grunde in eine Sackgasse, denn es war ja eben ein Wesenszug der Sozialdemokratie, Illusionen zu verbreiten. Diese Erklärung ergibt also keine neue Praxis. Ebenso unproduktiv ist die Erklärung, die politische Reaktion hätte in Gestalt des Faschismus die Massen „vernebelt“ und „hypnotisiert“. Das ist und bleibt die Funktion des Faschismus, solange er existiert. Solche Erklärungen sind unproduktiv, weil sie keinen Ausweg ergeben. Die Erfahrung lehrt, dass die tausendfältige Enthüllung solcher Art die Massen nicht überzeugt, dass also die sozialökonomische Fragestellung allein nicht genügt. Liegt nicht nahe zu fragen, was in den Massen selbst vorgeht, dass sie die Funktion des Faschismus nicht erkennen konnten und wollten?  Mit der typischen Auskunft: „Die Arbeiter müssen nun erkennen ...“ oder „Wir haben es nicht verstanden ...“ ist nicht gedient. Weshalb erkennen die Arbeiter nicht, und warum haben wir nicht verstanden? Als unproduktive Fragestellung ist z. B. auch jene zu betrachten, die der Diskussion zwischen der Rechten und der Linken in der Arbeiterbewegung zugrunde lag. Die Rechten behaupteten, die Arbeiter seien nicht kampfgewillt, die Linken dagegen behaupteten, das sei falsch, die Arbeiter seien revolutionär und die Behauptung der Rechten bedeute Verrat am revolutionären Gedanken. Beide Fragestellungen waren, weil sie ein Entweder - Oder darstellten, mechanistisch starr. Der Wirklichkeit hätte entsprochen festzustellen, dass der durchschnittliche Arbeiter einen Widerspruch in sich trägt, dass er also weder eindeutig revolutionär noch eindeutig konservativ ist, sondern in einem Konflikt steht: seine psychische Struktur leitet sich einerseits aus seiner sozialen Lage ab, die revolutionäre Einstellungen anbahnt, andererseits aus der Gesamtatmosphäre der autoritären Gesellschaft, was einander widerspricht.  

 Es ist entscheidend, einen solchen Widerspruch zu sehen und zu erfahren, worin sich konkret das Reaktionäre und das fortschrittlich Revolutionäre im Arbeiter darstellen. Die gleiche Fragestellung gilt natürlich auch für den Mittelständler. Dass er in der Krise gegen das „System“ rebelliert, verstehen wir unmittelbar. Dass er aber, obwohl bereits ökonomisch verelendet, trotzdem den Fortschritt fürchtet und extrem reaktionär wird, ist nicht unmittelbar sozialökonomisch zu verstehen. Auch er hat also einen Widerspruch in sich zwischen rebellierenden Fühlen und reaktionären Zielen und Inhalten.  

 Wir erklären z. B. einen Krieg soziologisch nicht vollständig, wenn wir die besonderen ökonomischen und politischen Gesetze aufdecken, die ihn unmittelbar bedingen, also etwa die deutschen Annexionstendenzen, die sich vor 1914 auf die Erzbecken von Briey und Longwy, auf das belgische Industriegebiet, auf die Erweiterung des Kolonialbesitzes in Vorderasien etc. richteten; oder die Interessen des Hitlerschen Imperialismus im II. Weltkrieg an den Ölquellen von Baku, an den Werken der Tschechoslowakei etc.  Die ökonomischen Interessen des deutschen Imperialismus waren zwar der entscheidende aktuelle Faktor, aber wir müssen auch die massenpsychologische Basis der Weltkriege einordnen, wir müssen fragen, wie der massenpsychologische Boden  fähig wurde, die imperialistische Ideologie aufzusaugen, die imperialistischen Parolen in Tat umzusetzen, strikte entgegengesetzt der friedlichen staatspolitisch uninteressierten Gesinnung der deutschen Bevölkerung. Man beantwortet die Frage nicht zufriedenstellend, wenn man den „Umfall der Führer der II. Internationale“ dafür verantwortlich macht. Warum ließen sich die Millionenmassen der freiheitlich und antiimperialistisch gesinnten Arbeiter verraten?  Die Angst vor den Folgen der Kriegsdienstverweigerung kommt nur bei einer Minderzahl in Betracht. Wer die Mobilisierung 1914 mitgemacht hat, weiß, dass sich in den arbeitenden Massen verschiedenartige Stimmungen zeigten. Von bewusster Ablehnung bei einer Minderheit angefangen über eine merkwürdige Ergebenheit in das Schicksal oder eine Stumpfheit bei sehr breiten Schichten bis zu heller Kriegsbegeisterung nicht nur in Mittelschichten, sondern weit hinein in Industriearbeiter-Kreise.  Die Stumpfheit der einen wie die Begeisterung der anderen waren fraglos massenstrukturelle Fundierungen des Krieges. Diese massenpsychologische Funktion in beiden Weltkriegen kann nur unter dem Gesichtspunkt verstanden werden, dass die imperialistische Ideologie die Strukturen der werktätigen Massen konkret im Sinne des Imperialismus veränderte: Man kann gesellschaftliche Katastrophen mit der Auskunft, dass es sich um eine „Kriegspsychose“ oder eine „Massenvernebelung“ handelte, nicht abtun. Es würde bedeuten, die Massen gering einzuschätzen, wenn man sie einer bloßen Vernebelung für zugänglich hält. Es geht darum, dass jede Gesellschaftsordnung sich in den Massen ihrer Mitglieder diejenigen Strukturen erzeugt, die sie für ihre Hauptziele braucht.(5) Ohne diese massenpsychologischen Strukturen wäre kein Krieg möglich. Es besteht eine wichtige Beziehung zwischen der ökonomischen Struktur der Gesellschaft und der massenpsychologischen Struktur ihrer Mitglieder; nicht nur in dem Sinne, dass die herrschenden Ideologien die Ideologien der herrschenden Klasse sind, sondern was für die Lösung von praktischen Fragen der Politik bedeutsamer ist: auch die Widersprüche der ökonomischen Struktur einer Gesellschaft sind in den massenpsychologischen Strukturen der Unterdrückten verankert. Anders wäre nicht denkbar, dass die ökonomischen Gesetze einer Gesellschaft nur durch die Tätigkeit der ihnen unterworfenen Massen zur konkreten Auswirkung gelangen können.  

Die freiheitlichen Bewegungen Deutschlands wussten zwar von der Wichtigkeit des so genannten „subjektiven Faktors der Geschichte“ (bei Marx ist im Gegensatz zum mechanischen Materialismus der Mensch als Subjekt der Geschichte im Prinzip erfasst, und Lenin baute gerade diese Seite des Marxismus aus); woran es mangelte, war die Erfassung des irrationalen, unzweckmäßigen Handelns, anders ausgedrückt, des Auseinanderfallens von Ökonomie und Ideologie. Wir müssen erklären können, wie es möglich wurde, dass Mystik über wissenschaftliche Soziologie gesiegt hat. Diese Aufgabe kann nur dann geleistet werden, wenn unsere Fragestellung derart ist, dass sich aus der Erklärung spontan neue Praxis ergibt. Wenn der Werktätige weder eindeutig reaktionär noch eindeutig revolutionär ist, sondern in einem Widerspruch zwischen reaktionären und revolutionären Strebungen steht, so muss sich, wenn wir diesen Widerspruch entdecken, zwangsläufig eine Praxis ergeben, die den konservativen psychischen Kräften die revolutionären entgegensetzt. Jede Mystik ist reaktionär, und der reaktionäre Mensch ist mystisch. Wenn man die Mystik verlacht, als „Vernebelung“ oder als „Psychose“ unerklärt abtut, so geht keine Maßnahme gegen die Mystik daraus hervor. Wenn man aber die Mystik korrekt erfasst, so muss sich zwangsläufig ein Gegengift gegen sie ergeben. Um aber diese Aufgabe zu leisten, müssen die Beziehungen zwischen sozialer Lage und Strukturbildung, im besonderen die nicht unmittelbar sozialökonomisch erklärbaren, irrationalen  Ideen, soweit die Erkenntnismittel reichen, erfasst werden.  

Fußnoten:

4) Da der Ökonomist seelische Vorgänge weder kennt noch anerkennt, bedeutet ihm das Wort „Massenpsychose“ nicht wie uns einen riesenhaften sozialen Tatbestand von historischem Gewicht, sondern ein sozial unbedeutendes, nebensächliches Nichts.  

5)  Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, d. h. die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht. Die Klasse, die die Mittel zur materiellen Produktion zu ihrer Verfügung hat, disponiert damit zugleich über die Mittel zur geistigen Produktion, so dass ihr damit zugleich im Durchschnitt die Gedanken derer, denen die Mittel zur geistigen Produktion abgehen, unterworfen sind. Die herrschenden Gedanken sind weiter nichts als der ideelle Ausdruck der herrschenden Verhältnisse, die als Gedanken gefassten, herrschenden materiellen Verhältnisse; also die Verhältnisse, die eben die einer Klasse zur herrschenden machen, also die Gedanken ihrer Herrschaft. (Marx)

 

Editorische Anmerkungen

Bei dem Text handelt es sich um einen Quellenauszug aus:

Wilhelm Reich. Die Massenpsychologie des Faschismus.
Hier: I. Die Ideologie als materielle Gewalt.  3. Die Fragestellung der Massenpsychologie (S.41-44).

>Anm.: 1933 erschien Reichs Massenpsychologie des Faschismus zum erstenmal. Das Buch kam zu spät, um noch viele Leser zu erreichen: es wurde zur Lektüre der Emigranten und blieb notwendig folgenlos.

Den Auszug besorgte Reinhold Schramm.