Eine kleine Bombe im französischen Arbeits- und
Sozialrecht haben die Abgeordneten der französischen
Nationalversammlung Ende vergangener Woche gelegt. An diesem
Montag platzte sie nun in der Öffentlichkeit: Es wurde bekannt,
welch brisante Bestimmung die konservative Abgeordnetenmehrheit
dort in der Nacht vom Freitag zum Samstag im - jährlich
vorgelegten - „Gesetzentwurf zur Finanzierung der
Sozialversicherung“ (PLFSS) versteckt hat. Die Regelung muss
noch vom Senat, dem (seit Jahr und Tag konservativ dominierten)
parlamentarischen „Oberhaus“, angenommen werden, um in Kraft zu
treten.
Wird die Bestimmung verabschiedet, dann wird es
künftig möglich werden, erst ab einem Alter von 70 Jahren in
Rente zu gehen. Diese Aussicht wird derzeit noch als ganz tolle
„freiwillig zu nutzende Möglichkeit“ verkauft. Allerdings ist
überaus absehbar, dass das Ausmaß dieser Freiwilligkeit - in der
künftigen Praxis - so groß nicht ausfallen dürfte.
Die „Rentenreform“ im Hintergrund
Denn die seit Sommer 2003 stufenweise in Kraft
tretende „Rentenreform“ des damaligen Arbeits- und
Sozialministers (und jetzigen Premiers) François Fillon sieht
vor, dass auf eine Pension zum vollen Satz künftig nur noch
Anrecht hat, wer eine hohe Anzahl von Beitragsjahren zur
Rentenversicherung aufweisen kann. „Historisch“ waren das einmal
37,5 Beitragsjahre, eine Regel, die für die Beschäftigten der
Privatwirtschaft bis 1993 und für die öffentlich Bediensteten
und Staatsangestellten bis 2003 gegolten hat. Doch nunmehr wird
diese obligatorische Beitragszeit sukzessive angehoben. Im
Augenblick hat sie 40 Jahre erreicht, und sie wird weiter
wachsen, um ein Trimester (Vierteljahr) Beitragszeit pro
Kalenderjahr. Auf 41 Jahre - die im Jahr 2012 erreicht werden -,
und perspektivisch dann auf 42,5 Beitragsjahre bis 2020. So
sieht es die längst verabschiedete, und Anfang 2008
„bestätigte“, so genannte „Rentenreform“ vor.
Daraus folgt aber zwingend, dass es zu
einer wachsenden Altersarmut kommen wird. Denn zahlreiche
Lohnabhängige werden eine derart ausgedehnte Beitragszeit im
Leben nicht erreichen. Zumal in Zeiten, in denen die
Ausbildungs-, Studien- und beruflichen „Leerlauf“- oder
Übergangsperioden sehr viel länger geworden sind als früher. Sie
kann man zwar nicht zwingen, bis zum Umfallen im hohen Alter zu
arbeiten, wohl aber ihnen „Strafbeträge“ von der Rente abziehe.
Je höher sie ausfallen, desto größer die Altersarmut.
So weit, so bekannt waren die Dinge bislang
schon. Worauf man aber warten konnte, es ist nun eingetreten:
Die Aufhebung der bisher noch geltenden Obergrenze der
Lebensarbeitszeit wird nun - vor diesem Hintergrund - als neue
„Wohltat“ verkauft. Denn man erlaubt den armen Alten ja, durch
fortgesetzte Lohnarbeit ihrem drohenden Schicksal bitterer Armut
(das durch die „Reform“ erst provoziert worden ist) zu entgehen.
Durch ganz „individuell“ und total „freiwillig“ beschlossene
Verlängerung ihrer Lebensarbeitszeit, versteht sich.
Doppelte Obergrenze…
Bislang hatte in Frankreich noch eine doppelte
Regelung bei der Begrenzung der Lebensarbeitszeit nach oben hin
gegolten: Ab 60 Jahren konnte, und kann auch weiterhin, ein/e
abhängig Beschäftigte/r auf eigenen Entschluss hin in Rente
gehen. („Kann“, nur wird sich die Frage stellen, mit wieviel
Geld er oder sie danach auskommen muss.) Und ab 65 Jahren kann,
bzw. muss theoretisch sogar, jeder Arbeitgeber dem
Arbeitsverhältnis durch „angeordnete Verrentung“ ein Ende
setzen. Eine zwingende Vorschrift, aber auch eine
Schutzbestimmung zugunsten der Gesundheit der abhängig
Beschäftigten. Neoliberale Kritiker und Andere sprechen in
diesem Zusammenhang auch - mitunter abfällig - von einer „Fallbeil“regelung
(couperet), da das Rentenalter wie ein Fallbeil auf die
Köpfe der Betroffenen herabsause.
Erstere Grenze wird auch künftig bestehen
bleiben, aber Letztere musste fallen, um die „völlig
freiwillige“ Lohnarbeit auch in höherem Alter zu erlauben.
…nach oben hin geöffnet
Im ursprünglich durch die Regierung vorgelegten
Gesetzesentwurf „zur Finanzierung der Sozialversicherung“ war
vorgesehen, die zweite Obergrenze - jene des bislang
obligatorischen Abgangs aufs Altenteil (ab 65) - schlichtweg zu
streichen und ersatzlos aufzuheben. Dies hätte bedeutet, dass
die betagten abhängig Beschäftigten ihre Lebensarbeitszeit nach
oben hin quasi „unendlich“ hätten ausdehnen können,
beispielsweise weil sie von der ihnen zustehende Rente nicht
hätten leben können. „Ganz freiwillig“, versteht sich
Dies erschien den Abgeordneten in der für
Sozialpolitik zuständigen Parlamentskommission, und dann auch
der Mehrheit in der Nationalversammlung denn doch „zu viel des
Guten“. Und so beschlossen sie in der Nacht zum Samstag, eine
neue Obergrenze einzuziehen: Ab 70 Jahren soll nun Schluss sein
mit der Lohnarbeit. - Die neue Regelung sieht konkret vor, dass
ein Unternehmen seinen oder ihren abhängig Beschäftigte/n beim
Erreichen einer Altersgrenze von 65 Jahren befragen soll, ob ein
Weiterarbeiten (über die 65 Jahre hinaus) erwünscht ist. Und
falls die Antwort „ja“ lautet, oder aber das Unternehmen zu
fragen unterlassen hat, soll das Beschäftigungsverhältnis
fortdauern. Eine altersbedingte Kündigung ist demnach
unzulässig. Das soll so bis zum Alter von 70 fortdauern, wobei
das Unternehmen einmal jährlich nachfragen soll, ob eine
Einwilligung des oder der Lohnabhängigen zum Abgang aufs
Altenteil besteht.
Reaktionen
Die Opposition sah es freilich anders als
das konservativ-liberale Regierungslager, das sich über diese
tolle „neue freiwillige Option“ freut. Sie warf dem Bürgerblock
vielmehr vor, „das Rentenalter“ an und für sich zu unterlaufen,
respektive „auf heimtückische Weise bis auf 70 hinauszuschieben“
(lt. den Worten der grünen Abgeordneten Martine Billard, vom
linken Parteiflügel). Der Vorwurf der sozialistischen
Abgeordneten Marisol Touraine lautete, das Regierungslager nutze
„alle Mittel, das Alter des Eintritts in die Rente nach hinten
zu schieben und die abhängig Beschäftigten dazu zu bringen, so
lange wie möglich zu arbeiten“.
In einem Kommuniqué vom Sonntag (2.
November) sprach die französische KP von „einem Skandal“ und
einer „Pseudofreiwilligkeit“. Sie empörte sich darüber, dass der
Anschein des Bestehens von Freiwilligkeit erweckte werde, so
„als ob die Rentner/innen, von denen heute so viele unter der
Armutszahl leben, die Wahl hätten“.
Der superpatriotische, als teilweise
etatistischer „Sozialgaullist“ geltende Sarkozy-Berater Henri
Guaino seinerseits zeigte sich am Sonntag auf dem Radiosender
‚Europe 1’ etwas unschlüssig im Hinblick auf die Bewertung der
neuen „Freiwilligkeits“regel. Zwar erklärte er auch, ein „Fallbeil“-Rentenalter
wie bislang sei „absurd“. Dennoch verdiene die Sache „eine
wahrhafte Debatte“, und sie müssten stärker „überlegt“ werden
als bisher („man muss sich die Zeit dafür nehmen“). Tatsächlich
hatte die Nationalversammlung die neue Bestimmung überfallartig
verabschiedet und in einem, überwiegend andere Themen
betreffenden, Gesetzentwurf versteckt. Gleichzeitig erkannte
Guaino an, dass die Anhebung des „freiwilligen“
Renteneintrittsalter de facto die geltenden Grenzen der
Lebensarbeitszeit generell in Frage stelle, und dass Letztere
mit dem Problem der Rentenhöhe (und des Rechts auf eine Pension
zum vollen Satz) zusammenhingen.
Streik bei Luftfahrtgesellschaft: Auch bei Air
France soll immer älter gearbeitet werden
Die o.g. Neuregelung betrifft die Lohnabhängigen,
die mit privatrechtlichen Arbeitsverträgen beschäftigt sind (ob
in der Privatwirtschaft oder auch als nicht-verbeamtete
Beschäftigte in Staatsunternehmen wie La Poste, was eine immer
größere Zahl betrifft). Dasselbe gilt nicht für jene öffentlich
Bediensteten oder Beschäftigten in besonderen Sparten, die
einem gesetzlich definierten „Statut“ unterliegen.
Zu den letztgenannten Branchen zählt auch die
zivile Luftfahrt. Aber genau für diese Sparte haben die
Abgeordneten ebenfalls am vergangenen Wochenende eine neue
Regelung verabschiedet. Bislang konnten die Piloten in der
zivilen Luftfahrt ab dem Alter von 60 Jahren (auf Anordnung des
Arbeitgebers hin) in Rente geschickt werden, die Stewards und
Stewardessen ab 55 Jahren. Auch dort wird nun diese zulässige
Obergrenze, im Namen des „Freiwilligkeitsprinzips“, nach oben
hin ausgedehnt: Pilotinnen oder Piloten sollen bis 65 Jahre
arbeiten „dürfen“, Stewardessen und Stewards bis 60 Jahre.
Gerade in der Luftfahrt dürfte der Altersfrage
eine besondere Rolle spielen, aufgrund der potenziellen
Sicherheitsprobleme, die mit einem „überalterten“ Personal
verbunden wären. (Ohne Altenfeindlichkeit praktizieren zu
wollen! Bestimmte Reflexe lassen einfach mit zunehmendem
Lebensalter nach.) Dass dem so ist, haben indirekt auch die
Abgeordneten eingesehen, die diese Neuregelung angenommen haben:
Sie beharrten zugleich in einer Zusatzbestimmung darauf, dass
„nur einer der an Bord befindlichen Piloten älter als 60 Jahre
sein darf“.
Gegen diese neue, faktische soziale
Zumutung werden acht Gewerkschaften bei Air France nun zusammen
zum Streik aufrufen. Nachdem am gestrigen Montag (3. November)
eine Verhandlungsrunde im Transportministerium eröffnet worden
ist, verzichteten die acht Gewerkschaften - die allesamt der
Anhebung des Renteneintrittsalters feindselig gegenüberstehen -
darauf, ihre Streikdrohung sofort in die Tat umzusetzen.
Nunmehr sind die Mitarbeiter/innen des, 1993 privatisierten,
früheren Staats- und ehemaligen Monopol-Unternehmens Air France
am 5. Dezember dieses Jahres zum Streik aufgetreten.
Auch in den öffentlichen Dienste und verbliebenen
Staatsunternehmen wird sich die Frage der Anhebung des
Rentenalters früher oder später stellen. Noch ist die Sache dort
nicht spruchreif entschieden. Aber die Idee ist vom
Regierungslager aufgeworfen worden, „in der Mehrzahl der Fälle“
das maximale Renteneintrittsalter dort von bislang 60 auf
künftig 65 Jahre anzuheben. Mal sehen, wie das dort akzeptiert
werden wird.
Editorische
Anmerkungen
Den Text erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.
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