Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Auch in Frankreich nun im Gespräch: Rente mit 70 Jahren?

11/08

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Eine kleine Bombe im französischen Arbeits- und Sozialrecht haben die Abgeordneten der französischen Nationalversammlung Ende vergangener Woche gelegt. An diesem Montag platzte sie nun in der Öffentlichkeit: Es wurde bekannt, welch brisante Bestimmung die konservative Abgeordnetenmehrheit dort in der Nacht vom Freitag zum Samstag im - jährlich vorgelegten - „Gesetzentwurf zur Finanzierung der Sozialversicherung“ (PLFSS) versteckt hat. Die Regelung muss noch vom Senat, dem (seit Jahr und Tag konservativ dominierten) parlamentarischen „Oberhaus“, angenommen werden, um in Kraft zu treten.

Wird die Bestimmung verabschiedet, dann wird es künftig möglich werden, erst ab einem Alter von 70 Jahren in Rente zu gehen. Diese Aussicht wird derzeit noch als ganz tolle „freiwillig zu nutzende Möglichkeit“ verkauft. Allerdings ist überaus absehbar, dass das Ausmaß dieser Freiwilligkeit - in der künftigen Praxis - so groß nicht ausfallen dürfte.

Die „Rentenreform“ im Hintergrund

Denn die seit Sommer 2003 stufenweise in Kraft tretende „Rentenreform“ des damaligen Arbeits- und Sozialministers (und jetzigen Premiers) François Fillon sieht vor, dass auf eine Pension zum vollen Satz künftig nur noch Anrecht hat, wer eine hohe Anzahl von Beitragsjahren zur Rentenversicherung aufweisen kann. „Historisch“ waren das einmal 37,5 Beitragsjahre, eine Regel, die für die Beschäftigten der Privatwirtschaft bis 1993 und für die öffentlich Bediensteten und Staatsangestellten bis 2003 gegolten hat. Doch nunmehr wird diese obligatorische Beitragszeit sukzessive angehoben. Im Augenblick hat sie 40 Jahre erreicht, und sie wird weiter wachsen, um ein Trimester (Vierteljahr) Beitragszeit pro Kalenderjahr. Auf 41 Jahre - die im Jahr 2012 erreicht werden -, und perspektivisch dann auf 42,5 Beitragsjahre bis 2020. So sieht es die längst verabschiedete, und Anfang 2008 „bestätigte“, so genannte „Rentenreform“ vor.

 Daraus folgt aber zwingend, dass es zu einer wachsenden Altersarmut kommen wird. Denn zahlreiche Lohnabhängige werden eine derart ausgedehnte Beitragszeit im Leben nicht erreichen. Zumal in Zeiten, in denen die Ausbildungs-, Studien- und beruflichen „Leerlauf“- oder Übergangsperioden sehr viel länger geworden sind als früher. Sie kann man zwar nicht zwingen, bis zum Umfallen im hohen Alter zu arbeiten, wohl aber ihnen „Strafbeträge“ von der Rente abziehe. Je höher sie ausfallen, desto größer die Altersarmut.

So weit, so bekannt waren die Dinge bislang schon. Worauf man aber warten konnte, es ist nun eingetreten: Die Aufhebung der bisher noch geltenden Obergrenze der Lebensarbeitszeit wird nun - vor diesem Hintergrund - als neue „Wohltat“ verkauft. Denn man erlaubt den armen Alten ja, durch fortgesetzte Lohnarbeit ihrem drohenden Schicksal bitterer Armut (das durch die „Reform“ erst provoziert worden ist) zu entgehen. Durch ganz „individuell“ und total „freiwillig“ beschlossene Verlängerung ihrer Lebensarbeitszeit, versteht sich.

Doppelte Obergrenze…

Bislang hatte in Frankreich noch eine doppelte Regelung bei der Begrenzung der Lebensarbeitszeit nach oben hin gegolten: Ab 60 Jahren konnte, und kann auch weiterhin, ein/e abhängig Beschäftigte/r auf eigenen Entschluss hin in Rente gehen. („Kann“, nur wird sich die Frage stellen, mit wieviel Geld er oder sie danach auskommen muss.) Und ab 65 Jahren kann, bzw. muss theoretisch sogar, jeder Arbeitgeber dem Arbeitsverhältnis durch „angeordnete Verrentung“ ein Ende setzen. Eine zwingende Vorschrift, aber auch eine Schutzbestimmung zugunsten der Gesundheit der abhängig Beschäftigten. Neoliberale Kritiker und Andere sprechen in diesem Zusammenhang auch - mitunter abfällig - von einer „Fallbeil“regelung (couperet), da das Rentenalter wie ein Fallbeil auf die Köpfe der Betroffenen herabsause.

Erstere Grenze wird auch künftig bestehen bleiben, aber Letztere musste fallen, um die „völlig freiwillige“ Lohnarbeit auch in höherem Alter zu erlauben.

…nach oben hin geöffnet

Im ursprünglich durch die Regierung vorgelegten Gesetzesentwurf „zur Finanzierung der Sozialversicherung“ war vorgesehen, die zweite Obergrenze - jene des bislang obligatorischen Abgangs  aufs Altenteil (ab 65) - schlichtweg zu streichen und ersatzlos aufzuheben. Dies hätte bedeutet, dass die betagten abhängig Beschäftigten ihre Lebensarbeitszeit nach oben hin quasi „unendlich“ hätten ausdehnen können, beispielsweise weil sie von der ihnen zustehende Rente nicht hätten leben können. „Ganz freiwillig“, versteht sich

 Dies erschien den Abgeordneten in der für Sozialpolitik zuständigen Parlamentskommission, und dann auch der Mehrheit in der Nationalversammlung denn doch „zu viel des Guten“. Und so beschlossen sie in der Nacht zum Samstag, eine neue Obergrenze einzuziehen: Ab 70 Jahren soll nun Schluss sein mit der Lohnarbeit. - Die neue Regelung sieht konkret vor, dass ein Unternehmen seinen oder ihren abhängig Beschäftigte/n beim Erreichen einer Altersgrenze von 65 Jahren befragen soll, ob ein Weiterarbeiten (über die 65 Jahre hinaus) erwünscht ist. Und falls die Antwort „ja“ lautet, oder aber das Unternehmen zu fragen unterlassen hat, soll das Beschäftigungsverhältnis fortdauern. Eine altersbedingte Kündigung ist demnach unzulässig. Das soll so bis zum Alter von 70 fortdauern, wobei das Unternehmen einmal jährlich nachfragen soll, ob eine Einwilligung des oder der Lohnabhängigen zum Abgang aufs Altenteil besteht.

Reaktionen

 Die Opposition sah es freilich anders als das konservativ-liberale Regierungslager, das sich über diese tolle „neue freiwillige Option“ freut. Sie warf dem Bürgerblock vielmehr vor, „das Rentenalter“ an und für sich zu unterlaufen, respektive „auf heimtückische Weise bis auf 70 hinauszuschieben“ (lt. den Worten der grünen Abgeordneten Martine Billard, vom linken Parteiflügel). Der Vorwurf der sozialistischen Abgeordneten Marisol Touraine lautete, das Regierungslager nutze „alle Mittel, das Alter des Eintritts in die Rente nach hinten zu schieben und die abhängig Beschäftigten dazu zu bringen, so lange wie möglich zu arbeiten“.

 In einem Kommuniqué vom Sonntag (2. November) sprach die französische KP von „einem Skandal“ und einer „Pseudofreiwilligkeit“. Sie empörte sich darüber, dass der Anschein des Bestehens von Freiwilligkeit erweckte werde, so „als ob die Rentner/innen, von denen heute so viele unter der Armutszahl leben, die Wahl hätten“.

Der superpatriotische, als teilweise etatistischer „Sozialgaullist“ geltende Sarkozy-Berater Henri Guaino seinerseits zeigte sich am Sonntag auf dem Radiosender ‚Europe 1’ etwas unschlüssig im Hinblick auf die Bewertung der neuen „Freiwilligkeits“regel. Zwar erklärte er auch, ein „Fallbeil“-Rentenalter wie bislang sei „absurd“. Dennoch verdiene die Sache „eine wahrhafte Debatte“, und sie müssten stärker „überlegt“ werden als bisher („man muss sich die Zeit dafür nehmen“). Tatsächlich hatte die Nationalversammlung die neue Bestimmung überfallartig verabschiedet und in einem, überwiegend andere Themen betreffenden, Gesetzentwurf versteckt. Gleichzeitig erkannte Guaino an, dass die Anhebung des „freiwilligen“ Renteneintrittsalter de facto die geltenden Grenzen der Lebensarbeitszeit generell in Frage stelle, und dass Letztere mit dem Problem der Rentenhöhe (und des Rechts auf eine Pension zum vollen Satz) zusammenhingen.

Streik bei Luftfahrtgesellschaft: Auch bei Air France soll immer älter gearbeitet werden

Die o.g. Neuregelung betrifft die Lohnabhängigen, die mit privatrechtlichen Arbeitsverträgen beschäftigt sind (ob in der Privatwirtschaft oder auch als nicht-verbeamtete Beschäftigte in Staatsunternehmen wie La Poste, was eine immer größere Zahl betrifft). Dasselbe gilt nicht für jene öffentlich Bediensteten  oder Beschäftigten in besonderen Sparten, die einem gesetzlich definierten „Statut“ unterliegen.

Zu den letztgenannten Branchen zählt auch die zivile Luftfahrt. Aber genau für diese Sparte haben die Abgeordneten ebenfalls am vergangenen Wochenende eine neue Regelung verabschiedet. Bislang konnten die Piloten in der zivilen Luftfahrt ab dem Alter von 60 Jahren (auf Anordnung des Arbeitgebers hin) in Rente geschickt werden, die Stewards und Stewardessen ab 55 Jahren. Auch dort wird nun diese zulässige Obergrenze, im Namen des „Freiwilligkeitsprinzips“, nach oben hin ausgedehnt: Pilotinnen oder Piloten sollen bis 65 Jahre arbeiten „dürfen“, Stewardessen und Stewards bis 60 Jahre.

Gerade in der Luftfahrt dürfte der Altersfrage eine besondere Rolle spielen, aufgrund der potenziellen Sicherheitsprobleme, die mit einem „überalterten“ Personal verbunden wären. (Ohne Altenfeindlichkeit praktizieren zu wollen! Bestimmte Reflexe lassen einfach mit zunehmendem Lebensalter nach.) Dass dem so ist, haben indirekt auch die Abgeordneten eingesehen, die diese Neuregelung angenommen haben: Sie beharrten zugleich in einer Zusatzbestimmung darauf, dass „nur einer der an Bord befindlichen Piloten älter als 60 Jahre sein darf“.

 Gegen diese neue, faktische soziale Zumutung werden acht Gewerkschaften bei Air France nun zusammen zum Streik aufrufen. Nachdem am gestrigen Montag (3. November) eine Verhandlungsrunde im Transportministerium eröffnet worden ist, verzichteten die acht Gewerkschaften - die allesamt der Anhebung des Renteneintrittsalters feindselig gegenüberstehen -  darauf, ihre Streikdrohung sofort in die Tat umzusetzen. Nunmehr sind die Mitarbeiter/innen des, 1993 privatisierten, früheren Staats- und ehemaligen Monopol-Unternehmens Air France am 5. Dezember dieses Jahres zum Streik aufgetreten.

Auch in den öffentlichen Dienste und verbliebenen Staatsunternehmen wird sich die Frage der Anhebung des Rentenalters früher oder später stellen. Noch ist die Sache dort nicht spruchreif entschieden. Aber die Idee ist vom Regierungslager aufgeworfen worden, „in der Mehrzahl der Fälle“ das maximale Renteneintrittsalter dort von bislang 60 auf künftig 65 Jahre anzuheben. Mal sehen, wie das dort akzeptiert werden wird.

Editorische Anmerkungen

Den Text  erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.