Bernard Schmid berichtet aus Frankreich
HYMNENTERROR
Sport & Politik & Hymnenpathos, eine ausgesprochen ungute Mischung

11/08

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Die französische Nationalhymne, ‚La Marseillaise’, wurde mal wieder in einem Stadion ausgepfiffen. Einmal mehr. Nur, dass dieses Mal Präsident Nicolas Sarkozy eine Staatsaffäre daraus buk...

Kaum sind die letzten Klänge der Nationalhymne und die sie begleitenden Pfiffe verklungen, überschlagen sich die Ereignisse in dem riesigen Stadion. Der Abpfiff erklingt, noch bevor das mit quasi elektrischer Spannung erwartete Fubballmatch beginnen konnte. Per Lautsprecher werden die rund 40.000 Menschen im Stadtion aufgefordert, sich unverzüglich zu den Ausgängen zu begeben. Es kommt zu tumultartigen Szenen. Die Polizei muss eingreifen, um der Lage Herr zu werden, und entsendet Tausende von uniformierten Beamten in das und rund um das Stadion. Die Fernsehkameras senden spektakuläre Bilder in die Haushalte, als die erste  Tränengasgranate in der Nähe einer dicht gedrängten und ihrem Unmut lautstark Luft machenden Menge explodiert. An den Ausgängen finden heftige Reibereien statt, als die Polizeikräfte aus Pulks heraus Einzelne festzunehmen versuchen, die sie auf den Videoaufnahmen der zahlreichen im Stadion postierten Kameras als „Störer“ erkannt haben will.

Werden die Fernsehzuschauer bei Spielen, an denen die französische Fubballnationalmannschaft teilnimmt, in naher Zukunft zu Zeugen solch dramatischer Ereignisse werden? Es wird sich in Bälde erweisen müssen. Die Voraussetzungen dafür scheinen jedenfalls geschaffen, denn Präsident Nicolas Sarkozy höchstpersönlich hat es angeordnet: Jedes Spiel, bei dem die französische Nationalhymne – La Marseillaise mit ihren eher kriegerischen Klängen, die dereinst für die französische Rheinarmee verfasst wurden, während die junge Republik um 1792 im Krieg mit den Monarchien halb Europas lag – ausgepfiffen oder gestört wird, muss abgebrochen werden. Das heibt in der Regel, es muss aufhören, noch bevor es begonnen hat. Durch seine Ankündigung reagierte Sarkozy auf die jüngsten Ereignisse am Rande des Freundschaftsspiels Frankreich-Tunesien, das am 14. Oktober im Stade de France (alias Le Grand Stade) im Pariser Vorort Saint-Denis stattfand.

Es war nicht das erste Mal in der jüngeren Geschichte, dass ein Fubball-Länderspiel unter Beteiligung der Bleus damit beginnt, dass die Marseillaise Pfiffe erntet. Schon vor Jahren wurden solche Zwischenfälle bei internationalen Turnieren in Portugal, Italien und Israel registrier. Auch bei innerfranzösischen Spielen kam es zu ähnlichen Ereignissen: Im Mai 2002 pfiff ein Teil des Publikums beim Finale der französischen Liga, bei denen sich die Clubs aus dem bretonischen Lorient und aus dem korsischen Bastia gegenüber standen. Daran dürften vor allem Korsen, die einem insularen Nationalismus gegen Kontinentalfrankreich anhängen, teilgenommen haben. Präsident Jacques Chirac verlieb damals kurzfristig die Präsidententribüne, auf die er jedoch im Anschluss zurückkehrte, und Funktionäre des Französischen Fubballverbands FFF verlasen am Mikrophon eine Entschuldigung „an Frankreich“. Aber das Spiel wurde daraufhin zu Ende geführt. 

Präzendenzfälle bei Länderspielen Frankreich/Algerien und Frankreich/Marokko: Die fü-hüünfte Kolonne marschiert...? 

In den Köpfen hängen geblieben sind unterdessen beim Publikum vorwiegend ähnliche Zwischenfälle, die am Rande von Länderspielen zwischen Frankreich und nordafrikanischen Staaten stattgefunden haben. Zuvörderst natürlich die Bilder vom Freundschaftsspiel Frankreich-Algerien am 6. Oktober 2001, ebenfalls im Stade de France von Saint-Denis. Die Zuschauer dieses Matchs hatten damals nicht nur erlebt, dass die Marseillaise in dem Stadion, das bis zu 70.000 Menschen fasst, von zahlreichen Anwesenden ausgepfiffen wurde. Unter ihnen waren Tausende junger Franzosen algerischer Herkunft, die damit unter anderem auch durch eine trotzig-rotzige Geste zum Ausdruck brachten, dass man sie in Frankreich oft ohnehin nicht als „vollwertige Franzosen“ betrachtet. Vor allem aber musste das Spiel damals aus einem anderen Grunde abgebrochen werden, weil nach einem algerischen Tor viele junge Fangs in ihrem Enthusiasmus auf das Spielfeld drangen und über den Rasen liefen. Das hatte nichts Aggressives an sich, sondern war vielmehr der Ausdruck einer über die Stränge schlagenden, etwas anarchischen Begeisterung vieler junger Franko-Algerier, die vom Taumel der Gefühle ob der „Verbrüderung" mit angereisten algerischen Fans mitgerissen waren. Zahlreiche dieser jungen Leute trafen erstmals auf Algerier von jenseits des Mittelmeers, denn in den neunziger Jahren herrschte dort Bürgerkrieg, und die Grenzen waren jedenfalls von Süden Richtung Norden zeitweise fast hermetisch dicht. Das Ganze hatte mehr von einer überbordenden Feststimmung denn einer Gewaltatmosphäre.

Aber der Elfte September lag damals erst drei Wochen zurück, und ein Gutteil des französischen Publikums reagierte entsetzt und verängstigt auf diesen „Beweis unzureichender Loyalität“ junger Staatsangehöriger zur Nation: Waren sie nicht doch die „fünfte Kolonne“ des internationalen Terrorismus?

Ähnlich fallen die Reaktionen aus, die auch dieses Mal wieder abgerufen werden, auch wenn heute in der Öffentlichkeit kein vermeintlicher Zusammenhang zu Al-Qaida und Konsorten hergestellt wird. Im Vorfeld des Matchs Frankreich-Tunesien hatte die französische Polizei mit „Zwischenfällen“ der Art, wie sie sich denn auch ereigneten, gerechnet. Nach den Pfiffen gegen die Marseillaise von 2001, aber auch am Rande eines französisch-marokkanischen Freundschaftsspiel im November des Vorjahres 2007 – aber im vergangenen Jahr war wesentlich weniger darüber berichtet worden als heute – schien klar, dass auch dieses Mal mit Ähnlichem zu rechnen war. Denn die jungen Franzosen tunesischer Herkunft konnten es schlieblich nicht auf sich sitzen lassen, weniger aufs Tapet zu legen als jene algerischer oder marokkanischer Abstammung: So viel „Stolz“ musste in den Augen mancher von ihnen schon sein. Ein Wettbewerb, wenn auch der aubersportlichen Art. Manche Zuschauer sollen sich seit einem Monat auf die Aktion vorbereitet haben. Dass diese dann, wie bei Massenphänomenen üblich, im Stadion zum Selbstläufer wurde, ist ebenfalls nachvollziehbar.

Es kam, wie es beinahe kommen musste. Die Veranstalter hatten versucht, vorzubeugen, und das Absingen der jeweiligen Nationalhymnen auf rührende Art in Szene zu setzen versucht: Zwei junge Franko-Tuneseriennen, Amina und Lââm, hielten sich an der Hand, um jede von ihnen eine der beiden Hymnen anzustimmen. Als Mademoiselle Lââm als Zweite an der Reihe war und die ersten Pfiffe beim Anklingen der französischen Hymne ertönten, schloss sie die Augen und sang sehr tapfer bis zum Schluss weiter. (Vgl. http://www.dailymotion.com) Unterdessen pfiffen mehrere Tausend Menschen, meister Unterstützer/innen der tunesischen Mannschaft, aber auch viele auf der französischen Seite Sitzenden. Die Motive der Pfeifenden waren dabei sicherlich unterschiedlich: Für die Einen war es die gesuchte Provokation, für die Anderen ein Spiel oder ein Nachahmungseffekt. Vermutet wird auch, dass Franzosen aus anderen Gründen mitgepfiffen hätten, nämlich um ihr Missfallen gegenüber der Nationalmannschaft, die in jüngster Zeit viel durch interne Probleme aufgefallen ist, Ausdruck zu verleihen. 

„Die Politik“ springt auf den passende Anlass auf, um sich wichtig zu machen 

Neu war aber, dass dieses Mal „die Politik“ sofort die Initiative übernahm und sich auf die Ereignisse stürzte. Noch in der Nacht, unmittelbar nach dem Abpfiff des Spiels am vorletzten Dienstag Abend (14. Oktober), wetteiferten Politiker der konservativen Regierungspartei UMP und der französischen Sozialdemokratie miteinander darum, wer zuerst sein Pressekommuniqué auswarf und sich demonstrativ empörte. Am Mittwoch früh (15. Oktober) dann meldete sich der Premierminister, François Fillon, zu  Wort: In einem Interview auf RTL bedauerte er, dass der Fußballverband FFF „die Begegnung nicht abgebrochen“ habe. Ihm gab der Sprecher der Sozialistischen Partei für Sicherheitsfragen, Julien Dray, ausdrücklich Recht: „Es braucht eine Sanktion für das, was passiert ist.“ Nur die KP-Chefin Marie-George Buffet, selbst frühere Sportministerin (in den Jahren 1997 bis 2002) und Zuschauerin des Spiels Frankreich-Tunesien, versuchte die Gemüter zu beruhigen: „Wenn man einmal gesagt hat, dass dies skandalös sei, hat man noch überhaupt nichts geregelt.“ Es gelte vielmehr, „sich zu fragen, warum diese Leute sich bei uns nicht wohl zu Hause fühlen“, und offiziell zur Kenntnis zu nehmen, „dass die französische Nation heute aus Menschen verschiedener Kultur und unterschiedlicher Herkunft besteht“.

Am selben Vormittag, wenige Stunden nachdem der letzte Spieler den Rasen verlassen hatte, bestellte Präsident Nicolas Sarkozy persönlich den Chef des Fußballverbands FFF - Jean-Marie Escalettes - für 13 Uhr in den Elyséepalast ein. An dem „von oben“ angeordneten Treffen nahm auch die Ministerin für Jugend, Gesundheit und Sport, Roselyne Bachelot, teil. Aus diesem Anlass wurde dem Verbandsfunktionär durch die obersten Repräsentanten des Staates verordnet, künftig müsse jedes Spiel sofort abgebrochen werden, falls „Symbole der Nation“ wie die Hymne beleidigt würden. Der FFF-Vorsitzende wandte zaghaft ein, dies könne einige praktische Problemchen mit sich bringen. Etwa die Frage, wie man Zehntausende Menschen gegen ihren Willen in Kürze aus dem Stadion hinaus befördern kann, woraus eventuell ein paar  offene „Sicherheitsfragen“ resultieren könnten. Und was, wenn die Leute – anstelle abzuziehen – stattdessen lieber das Stadion auseinandernehmen? („Och nö, jetzt schon zu gehen finden wir doof, wir möchten lieber vorher noch ein bisschen das Stadion zerlegen.“) Oder dann gäbe es auch noch die Frage danach, ob und wie in einem solchen Fall die Eintrittspreise zurückzuerstatten seien. Allen Zuschauern, oder nur den „Nicht-Störern“, und ggf. in welcher Höhe…? Und was wird aus dem Spielergebnis, wird es für die Tabelle gewertet, etwa mit Null zu Null? Oder wird’s nicht gezählt? Voilà des questions...

Escalettes selbst steht der Aufforderung zum Abbruch eines Spieles im Falle einer „Störung“ der Nationalhymne - in seinen Worten „eine aggressive Antwort auf ein aggressives und nicht hinnehmbares Verhalten“ - kritisch gegenüber. Aber er musste die Anordnung zur Kenntnis nehmen. Auf seine Fragen hin antwortete ihm Sarkozy: „Der Staat übernimmt die Verantwortung.“ (L’Etat assumera.)

Am Abend desselben Tages wurde ferner bekannt, dass die Staatsanwaltschaft der Bezirkshauptstadt Bobigny ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet habe, um die „Schuldigen“ festzustellen. Seit einem Gesetz von 2003, das unter Sarkozy als Innenminister verabschiedet worden ist, aber bisher in der Praxis noch nie Anwendung fand, stehen auf die „gemeinschaftlich begangene Schändung von Nationalsymbolen“ als Höchststrafe sechs Monate Haft und/oder eine saftige Geldbuße in Höhe von 7.500 Euro. Bisher wurden allerdings noch keine „Störer“ identifiziert, worüber sich die rechtsradikale Homepage „France 42“ am vergangenen Wochenende (1./2. November) bitterlich beklagte. 

Auf der Suche nach einem „gesunden Publikum“ 

Der für Sport zuständige Staatssekretär in Bachelots Multiministerium, Bernard Laporte, früherer Trainer der französischen Rugbymannschaft, verbreitete unterdessen in den Medien seine eigenen Ideen. „Wir haben keine Lust mehr, das zu erleben. Keine Spiele mehr gegen Algerien, Marokko, Tunesien im Stade de France. So wird dieses Publikum seiner Mannschaft beraubt sein.“ Das klang schon sehr nach Kollektivstrafe und Sippenhaftung. Die Presse würde im Folgenden vor allem berichten, was Laporte stattdessen vorschlug und zu kurzzeitigem heftigem Streit in der Politik führte: „Spiele bei ihnen zu Hause, oder in der Provinz, in kleineren Stadien.“ In der Berichterstattung weitgehend unter gingen freilich die Worte, die der Staatssekretär hinzugefügt hatte und die den eigentlichen Anlass für Polemik mit der Opposition bildeten: „Wenn solch ein Match in Carcassonne oder Biarritz stattfindet, dann werden die 30.000 Tunesier aus dem Raum Paris das Spiel nicht sehen. Dann haben wir ein gesundes Publikum (un public sain).“ Nach dem alten Lateinermotto ‚mens sana in corpo sano’ (Ein gesunder Geist in einem gesunden Körper) folgt nun die neue Sportministerweisheit: Ein gesundes Publikum in einer gesunden Provinz...?

Der jungsozialistische Politiker Razzye Hamadi, der seinerseits die Pfiffe verurteilt hatte - aber auch darauf hinwies, dass „die Republik ihre Versprechen“ gegenüber den Einwanderern und ihren Nachfahren „nicht gehalten“ habe, und Frankreichs Kolonialvergangenheit im Maghreb sowie alltägliche Diskriminierungen ansprach - warf Laporte daraufhin eine „rassistische und xenophobe“ Reaktion vor. Worauf der Parteisprecher der UMP, Frédéric Laporte, mit dem Vorwurf antwortete, die Opposition mache dem Staatssekretär für Sport „einen Hexenprozess“.

Möglicherweise war die Intention, die Bernard Laporte verfolgte, nicht bewusst rassistisch. Die Wirkung war es jedoch, zumal zur selben Zeit eine Kampagne durch die Leserbriefseiten von Zeitungen und die Internetforen tobte und deren Tenor großenteils lautete: „Wenn es ihnen hier nicht gefällt, dann sollen sie doch endlich gehen!“ Na, dann geht doch nach drüben, ’rüber über das Mittelmeer…  Ein Gefühlsausbruch, den der am rechten Rand der französischen Konservativen stehende Abgeordnete Lionnel Luca auf der politische Bühne in Worte fasste: Diese Leute „sollten die Koffer packen und in ihre Herkunftsländer zurückkehren“. Dass der Rechtsextreme Jean-Marie Le Pen seinerseits wetterte, es handele sich um „Nur-auf-dem-Papier-Franzosen“ und der Zwischenfall zeige „das Scheitern der Integration von Massen von Menschen, die unserer Kultur fremd sind“, verstand sich ohnehin quasi von selbst. Aber auch an der Basis schienen manche Leute sich zu Aktivität angespornt. In den letzten Tagen meldete sich etwa ein Gärtner nordafrikanischer Herkunft bei einer Antirassismusorganisation und bei der Staatsanwaltschaft, den jemand mit den Worten angemacht hatte: „Na, hast Du auch gepfiffen?“ - um daraufhin zu versuchen, ihn mit dem Auto zu überfahren. Der Betreffende, der im südlichen Pariser Umland wohnt, war gar nicht im Stade de France gewesen. 

UEFA-Chef Michel Platini rettet die Restvernunft 

Nur relativ wenige besonnene Stimmen meldete sich zu Wort. Zu den mabvolleren Vertretern der etablierten Politik zählte dabei noch der christdemokratische Ex-Präsidentschaftskandidat François Bayrou, der die Regierungspolitiker (aus den Reihen der konservativen Einheitspartei UMP) dazu aufforderte, jetzt auch wieder nicht „zu übertreiben“. Auch die Antirassismusorganisationen MRAP und SOS Racisme meldeten sich zu Wort, die zwar in ihren ersten offiziellen Stellungnahmen jeweils die Pfiffe kritisierten. Aber auch darauf hinwiesen, „es frage sich, warum diese jungen Leute (Franzosen tunesischer Herkunft) sich hier vielleicht nicht als Franzosen zu Hause fühlen“ könnten.

Das böse Spiel zu beruhigen versuchte Michel Platini, der frühere Trainer der französischen Fußballnationalmannschaft, jetzt Chef des Europäischen Fußballverbands UEFA. Um Moderation bemüht, erklärte er in einem ausführlichen Interview mit der liberalen Pariser Abendzeitung Le Monde, die aufgeregten Reaktionen seien schlichtweg Quatsch: „Vor 30 Jahren, als ich selbst in der Nationalmannschaft spielte, wurde die Marseillaise auf allen Spielfeldern ausgepfiffen. Aber damals interessierten sich die Politiker nicht für Fußball, und das schockierte niemanden. Aber heute ist es fast eine Pflicht für die Politiker geworden, sich je nach Couleur zu positionieren.“

Platini verwahrte sich gegen die Einmischung der Politik, die darin bestehe, den Sportverbänden vorzuschreiben, wann sie ein Spiel abzubrechen hätten: Darüber entscheide immer noch der zuständige Verband oder der Schiedsrichter. „Und was ist, wenn ein Match in Azerbaidschan stattfindet und dort gepfiffen wird? Fahren die Spieler dann unverrichteter Dinge sofort nach Hause?“ Er fügte hinzu, er selbst habe die Marseillaise - obwohl er sie „die schönst Hymne der Welt“ finde - noch nie vor einem Spiel gesungen: „Ich habe mich nie dazu entschließen können, denn es ist ein kriegerischer Gesang. Und Fußball ist ein Spiel, kein Krieg. Aux armes, citoyens! (Zu den Waffen, Bürger!): Ich schaffte es nicht, diese Worte vor einer Begegnung zu singen. (…) Aber heute sind wir in einer Welt der totalen Kommunikation: Wenn ein unglücklicher Spieler die Hymne nicht singt, wird er sofort stigmatisiert.“

Durch diese Worte versuchte Michel Platini die Polemik abzukühlen, die in den folgenden Tagen auch allmählich abzuklingen begann, da die Aufmerksamkeit des Publikums durch die Wirtschaftskrise stärker in Bann gezogen war. UMP-Sprecher Frédéric Lefebvre hatte dem französischen Ex-Trainer unterdessen in harschen Worten geantwortet: Die UEFA habe eine verdammte „Verantwortung dafür, die Voraussetzung für Respekt in den Stadien zu schaffen“. Und der Fußball solle sich doch mal Fragen stellen. Nur bei diesem Sport gebe es „Gewalt, Pfiffe und Beleidigungen auf den Rängen“ der Zuschauer.

80 Prozent der befragten Französinnen und Franzosen erklärten sich, laut einer Umfrage für die Boulevardzeitung Le Parisien, „schockiert“ über die Pfiffe. Unter ihnen 46 Prozent „sehr schockiert“. (Nur 15 % sollen die gegenteilige Auffassung vertreten.) Allerdings sind die Ansichten demnach, vertraut man den Ergebnissen, je nach Altersgruppen unterschiedlich verteilt. Eine Aufschlüsselung nach Generationen belegt demnach, dass „nur“ 62 Prozent der Generation unter 30 Jahren, aber 86 Prozent der über 50jährigen allergisch auf die Pfiffe reagieren. (Vgl. http://www.rmc.fr/  

Geplante Kampagne, oder „nur“ ein günstiger Anlass für Sarkozy zum Losholzen? 

Viele kritische Beobachter und Medien betrachten die jüngste Polemik als eine geplante Kampagne: Schon im Vorfeld habe man sich im Umfeld Sarkozys und der konservativen Regierung Gedanken gemacht, wie man das - erwartete - Ereignis für eine nationalistische Mobilmachung nutzen könne. In Zeiten der Wirtschaftskrise, in denen Präsident Sarkozy den schützenden starken Mann und starken Staat in den Vordergrund zu rücken versucht, sei dies besonders recht gekommen. So behauptet die Vereinigung „Memorial 98“ - die 1998 zum einhundertsten Jahrestag der Dreyfus-Affäre entstand und den Antisemitismus sowie Rassismus bekämpft -, eine entsprechende Kampagne sei durch Patrick Buisson konzipiert worden. Buisson ist ein enger Berater Sarkozys, war früher Redakteur bei der rechtsextremen Wochenzeitung Minute, und gilt als Erfinder des im Vorjahr neu eingerichteten „Ministeriums für Einwanderung und nationale Identität“. Er ist „der Mann, der die Wählers Le Pens für Sarkozy umwirbt“.

Ob die Reaktionen auf die Pfiffe allerdings tatsächlich vorprogrammiert waren, lässt sich nicht in Wirklichkeit nicht beweisen. Sicher ist es nicht. Hingegen steht felsenfest, dass im Nachhinein eine regelrechte Kampagne daraus entwickelt wurde. Die rechte Studentenorganisation UNI, die historisch irgendwo zwischen Sarkozy und Le Pen steht, heute aber die Regierung unterstützt, hat jetzt (lt. eigenen Angaben) „100.000 Plakate, 300.000 Flugblätter, 50.000 Aufkleber und 1.000 T-Shirts“ mit einem Slogan zur Kampagne drucken lassen: „Franzose, und stolz darauf“. (Oder im Original: ‚Français, et fier de l’être.’) Er bezieht sich auf die Pfiffe. Allerdings hätte der Anlass fast beliebig sein können.

Editorische Anmerkungen

Den Text  erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.