Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Bringt die französische Justiz doch
noch Licht ins Dunkel?
Nach 42 Jahren: Erste Schritte zur juristischen Aufklärung der Ermordung des marokkanischen Oppositionsführer Mehdi BEN BARKA
11/07

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Wühlt man in den „geheimen Gärten des Königs“, so stöbt man mitunter auf schaurige Funde. Das gilt besonders auch für die marokkanische Monarchie. Noch längst sind nicht alle Kapitel der brutalen Repression unter König Hassan II. (Regent von 1961 bis 1999), dem Vorgänger und Vater des jetzigen Throninhabers Mohammed VI., für die Nachwelt geschrieben. Eines der spektakulärsten dieser Kapitel geriet in den jüngsten Wochen erstmals wieder in die Schlagzeilen. Nach 42 Jahren gibt es nun Neues zum spurlosen „Verschwinden“ des prominentesten marokkanischen Oppositionsführers aller Zeiten, Mehdi Ben Barka. Dank einem französischen Untersuchungsrichter, der nicht locker lässt. Auf das Risiko hin, dass auch unbequeme Details über die Rolle des französischen Staates der Öffentlichkeit präsentiert werden

Passendes Timing, um sich die maximale Aufmerksamkeit zu sichern: Es war am ersten Tag des dreitägigen Staatsbesuch des französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy in Marokko, am 22. Oktober, als die kleine Bombe platzte. „Der französische Untersuchungsrichter Patrick Ramaël lässt internationale Haftbefehle gegen fünf Marokkaner ausstellen“, enthüllte der öffentlich-rechtliche Fernsehsender France-3 am Abend. Und nicht gegen „irgendwelche“ Marokkaner. Die Haftbefehle zielen gegen hochrangige Verantwortliche jener Strukturen, die während der „harten“ Jahre der Monarchie – insbesondere unter dem Kalten Krieg – für die Repression verantwortlich waren. Einer der Hauptbetroffenen, der General Hosni Benslimane, ist zudem noch heute der Leiter der Königlichen Gendarmerie; und die ist in Marokko mächtiger als selbst die Armee. Die Affäre hat es also in sich.  

Im Prinzip dürfte ein Untersuchungsrichter gar keinen solchen internationalen Haftbefehl veröffentlichen, ohne zuvor das Justizministerium um Erlaubnis gefragt zu haben. Die zuständige Justizministerin, die aufgrund ihres autoritären Führungsstils umstrittene Rachid Dati – die, über ihre beiden Eltern, selbst marokkanischer sowie algerischer Herkunft ist – weilte aber just zu diesem Zeitpunkt an der Seite Nicolas Sarkozys auf Staatsbesuch in Marokko. Wenn die Katze aus dem Haus ist, dann tanzen die Mäuse auf dem Tisch...?  

Nach dem ersten Ankündigungseffekt, den der Untersuchungsrichter Ramaël damit erzielte, wird er nunmehr allerdings doch noch die Rückendeckung seines Ministeriums einholen müssen. Und bis zur tatsächlichen Überstellung der Haftbefehle, sofern es dazu kommt, wird es aufgrund langwieriger Prozeduren einige Wochen benötigen. Ggf. wird Richter Ramaël sich dann an die französische Interpol-Adresse wenden können, um die Haftbefehle ihren Empfängern zustellen zu lassen. Die marokkanische Justiz – die offiziell seit 2005 zu derselben Angelegenheit ermittelt - stellt sich nämlich bislang auf den Standpunkt, dass sie über keine Adresse der Betroffenen verfügt und ihnen also keine Dokumente zustellen könne. 

Auf den ersten Blick wirkt die Affäre, um die es geht, wie ein alter Hut. Denn die Fakten sind 42 Jahre alt. Tatsächlich aber haben sie nichts an Brisanz eingebübt: aufgrund der direkten staatlichen Verwicklung wichtiger Grobmächte (zumindest aber Frankreichs), aufgrund der bis heute fast vollständig unterbliebenen juristischen Aufarbeitung. Am 29. Oktober 1965 wird der marokkanische Oppositionsführer Mehdi Ben Barka, Jahrgang 1920, „im Herzen von Paris“ – wie jene, die das Andenken an ihn wachhalten, seitdem immer wieder formulieren – entführt. Vor der „Brauererei Lipp“, Nummer 151 des schicken Boulevard Saint-Germain. Ben Barka, der 1959 die UNFP (Nationale Union der Volkskräfte) – den Vorläufer der heutigen sozialistischen Partei USFP, die ab 1998 ein paar Jahre lang den Regierungschef stellte – gegründet hatte, war kurz zuvor in Paris eingetroffen. 

Die Welt befindet sich damals sowohl im Kalten Krieg, als auch in einer antikolonialen Aufbruchsstimmung in weiten Teilen Afrikas, Asiens und Lateinamerikas. Im Januar 1966 wird in Havanna die „Tricontinentale“ zusammentreten, eine internationale Konferenz, auf der nationale Befreiungsbewegungen aus diesen drei Kontinenten sich über Entwicklungsmodelle und Strategien beraten sollen. Dutzende junger Staaten, etwa in Afrika, sind frisch unabhängig geworden – durch einen scharfen Bruch mit den Kolonialmächten wie in Algerien oder auch auf dem Verhandlungswege. Ben Barka spielt eine wichtige Rolle bei der Vorbereitung der „Tricontinentale“. Zudem ist er an führender Stelle in den Versuch impliziert, den vertriebenen Palästinensern einen politischen Ausdruck zu verleihen – noch gibt es keine organisierte palästinensische Nationalbewegung.  

Und Ben Barka spielt ferner insofern auf der marokkanischen wie internationalen Bühne eine Sonderrolle, als er die chauvinistisch aufgeladene Frontstellung zwischen dem Land und seinem Nachbarn Algerien ablehnt. Als die beiden Staaten 1963 im Krieg um einen umstrittenen Streifen Territorium liegen, hält Ben Barka sich in Algier auf. Er verteidigt die Chancen Algeriens, das erst im Juli 1962 nach einem langen und blutigen Kolonialkrieg unabhängig geworden ist, auf einen eigenen Entwicklungsweg. Entdeckt auch Sympthien für die damals (noch bis 1965) in Algerien durchgeführten Experimente mit dem „Selbstverwaltungssozialismus“. Wir sind im Kalten Krieg: Das offizielle Marokko steht fest im Lager des Westens, an der Seite Frankreichs und der USA. Im Unterschied zu Algerien konnte die Führung des Landes die Unabhängigkeit, die 1956 erfolgte, mit Paris aushandeln. Algerien wird tendenziell eher im sozialistischen Lager verortet. 

Aus all diesen Gründen schätzt man Ben Barkas Rolle verschiedenen Orts nicht. Wie man unter dem französischsprachigen Wikipedia-Eintrag zu seinem Namen erfährt, werden seine Aktivitäten u.a. durch den US-Nachrichtendienst CIA und durch den israelischen Mossad genauestens verfolgt. Aber selbstverständlich ist sein Wirken auch der postkolonialen Macht Frankreich ein Dorn im Auge. 

Am Abend jenes 29. Oktober 1965 „verschwindet“ Ben Barka also spurlos. Die Welt wird ihn nie wieder sehen. Augenzeugen haben die Szene allerdings beobachtet, und sowohl französische Beamte als auch den prominenten Mafiosi Julien Le Ny in dem Auto gesehen, in das Ben Barka gezerrt worden war. Ein paar Monate später werden in Frankreich einige Teilnehmer und/oder Statisten verurteilt werden. Unter ihnen auch französische Polizisten: Am 17. April 1967 findet der zweite Prozess in der Angelegenheit statt, infolge dessen der Geheimdienstmitarbeiter Antoine Lopez zu acht Jahren und der Polizeibeamte Souchon zu sechs Jahren Haft verdonnert werden. Aber bei ihnen handelt es sich nur um Handlanger. Ferner verurteilt die französische Justiz auch den marokkanischen General Oufkir, den sie als den Hintermann der Entführung betrachtet, in Abwesenheit zu lebenslanger Haft. Doch Oufkir braucht sich darum nicht lange zu bekümmern, er bekommt später andere Sorgen: Der ehemalige „starke Mann“ der Repression hatte 1972, angeblich oder tatsächlich, einen Putschversuch gegen König Hassan II. unternommen. Er wurde zum Suizid getrieben und seine Angehörigen wurden noch bis 1990 im berüchtigten Geheimgefängnis von Tazmamart lebendig eingemauert. Einem der „geheimen Gärten des Königs“. 

Den wahren Verantwortlichen war mit diesen Urteilen aber noch nicht auf die Schliche gekommen, ebenso wenig wie das nähere Schicksal Ben Barkas geklärt war. Zu Letzerem äuberte sich der frühere marokkanische Agent Ahmed Boukhari erstmals im Juni/Juli 2001, zunächst in Interviews, später auch in seinem eigenen Buch ‚Le Secret’ (Das Geheimnis): Mehdi Ben Barka sei am 31. Oktober 1965 vom Pariser Flughafen Orly aus nach Rabat ausgeflogen worden. Dort sei er im Folterzentrum Dar el-Morki gelandet, wo sein Körper schlussendlich in Säure aufgelöst worden sei. Von diesem Vorgang existiere ein Film, der für König Hassan II. aufgenommen worden sei. Das Ganze habe unter Aufsicht des CIA-Obersten Martin stattgefunden, der direkten Zugang zum marokkanischen Monarchen gehabt und bei seinem Einsatz im Iran 1953 – anlässlich des Putschs gegen die gewählte Regierung des Dr. Mossadegh – viel „gelernt“ habe. 

Der ehemalige französische Kommissar Lucien Aimé-Blanc, der im Kampf gegen die Organisierte Kriminalität eingesetzt war, wiederul publizierte im April 2006 sein Buch ‚L’indic et le commissaire’ (Der Spitzel und der Kommissar). Darin berichtet er, seine damalige Einheit habe in jenen Jahren ein als Bordell dienendes Hotel abgehört. Aufgrund der lückenlos vorliegenden Abhörprotokolle habe man genau gewusst, dass eine Gruppe einen „Coup“ gegen eine höhere Persönlichkeit plante, die französische Mafiabosse umfasst habe, aber auch den Leiter der staatlichen Fluggesellschaft Air France am Pariser Grobflughafen Orly, Antoine Lopez. Eben jener Lopez war auch aktiver Mitarbeiter des Auslandsgeheimdiensts SDECE (den Vorläufer der späteren DGSE) und wurde 1967 – „immerhin“ – zu acht Jahren Haft verurteilt. Exkommissar Aimé-Blanc gibt an, diese Gruppe habe sich darauf vorbereitet, eine prominente Persönlichkeit bei ihrem Eintreffen in Orly in Empfang zu nehmen und zu entführen. Dieser Plan scheiterte anscheinend, weshalb als „Plan B“ jener des Kidnappings am Boulevard Saint-Germain aktiviert werden musste. 

Aufgrund dieser vielfältigen Verwicklungen unterschiedlicher Staaten - und zwar solcher von sozusagen „nicht geringem internationalem Gewicht“ – ist es unwahrscheinlich, dass die Justiz sämtliche genauen Verantwortlichkeiten klären wird können. Dennoch ist es wichtig, dass ihre Anstrengungen jetzt nicht ruhen, wo die persönlich Verantwortlichen hohen Ranges noch leben, bevor es in dieser Hinsicht „zu spät“ ist. Am 6. Januar 2000 hatte die damalige sozialdemokratisch geführte Pariser Regierung für einen Teil der Archive über die Affäre das Staatsgeheimnis aufgehoben. Allerdings ist ein Grobteil der geheimdienstlichen Dokumente dazu, angeblich oder tatsächlich, vernichtet. Die damalige Entscheidung der Regierung erlaubte es der Justiz erstmals, Schwung in ihre sich offiziell seit Jahrzehnten dahin schleppenden Ermittlungsarbeiten zu den noch ungeklärten Hintergründen zu bringen. 2003 erging dann ein offizielles Amtshilfeersuchen an Marokko. Das sich am 5. Oktober 2005 auch bequemte, einen eigenen Untersuchungsrichter zu der Affäre – Jamal Serhane – einzusetzen, um seine Bemühungen zu zeigen. Ansonsten zeichnet sich die marokkanische Justiz freilich bisher ausschlieblich durch ihre Blockadehaltung aus. Vom Sketch über die „Nichtzustellbarkeit“ von Papieren der französischen Justiz („mangels Adressen“) bis hin zur Weigerung, Ausgrabungen in einem bekannten früheren Haft- und Folterzentrum zur Affäre anzuordnen („wir wissen nicht, wo es liegt“). 

Aufgrund dieser vielfältigen Verwicklungen unterschiedlicher Staaten ist es unwahrscheinlich, dass die Justiz sämtliche Einzelheiten wird klären können. Dennoch ist es wichtig, dass ihre Anstrengungen jetzt nicht ruhen, wo die persönlich Verantwortlichen hohen Ranges noch leben, bevor es in dieser Hinsicht „zu spät“ ist. Diese Erwägung ist wahrscheinlich, neben den in den allerletzten Jahren zum Vorschein gekommenen Enthüllungen – etwa denen des Exagenten Boukhari – auch der Hauptgrund, warum nach über 40 Jahren jetzt endlich Schwung in die Ermittlungstätigkeiten gekommen ist. Der jetzige Untersuchungsrichter Ramaël ist immerhin der achte Untersuchungsrichter, der inzwischen auf französischer Seite mit dem „Dossier Ben Barka“ befasst ist. Aber anscheinend der erste, der nicht überwiegend pro forma ermittelt, sondern dem die Aufklärung dieser historischen Affäre ein echtes Anliegen bildet. Er scheint entschlossen, sich nicht an der Nase herumführen zu lassen, und wurde nun aus Reaktion auf die Nichtausführung der Amtshilfeersuchen aus den letzten vier Jahren aktiv. Hoffentlich bleibt er bei diesem Elan.

Editorische Anmerkungen

Dieser Artikel wurde uns vom Autor zur Veröffentlichung am 13.11.07  gegeben. Eine gekürzte Fassung wurde jüngst im Internetportal http://www.qantara.de/de  publiziert