Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Rachid Ramda zu lebenslänglich verurteilt – Wie reagiert Frankreich sonst auf den bewaffneten Islamismus?

11/07

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In Paris wurde der letzte Angeklagte wegen der Attentate auf öffentliche Verkehrsmittel von 1995 endgültig verdonnert

Lebenslänglich! Am ((gestrigen)) Freitagabend, den 26.10.2007, wurde in Paris das Strafmab im Urteil gegen den aus Algerien stammenden Islamisten Raschid Ramda bekannt. Am Samstag vormittag verlautbarte, Ramda wolle Berufung gegen seine Verurteilung einlegen und bestreite seine Schuld. Der 38jährige war angeklagt, einer der Geldgeber und Hintermänner der blutigen Attentate im Sommer und Herbst 1995 gewesen zu sein, bei denen Bomben in Pariser Métro- und Vorortzügen zur Explosion gebracht worden waren.  

Der erste spektakuläre Anschlag in der Serie war jener auf den RER – eine Art Pendant zur deutschen S-Bahn – in der Pariser Station Saint-Michel vom 25. Juli 1995. Acht Menschen starben und rund 200 wurden verletzt. Es folgten weitere Bombenattentate, darunter jener an der RER-Station <Musée d’Orsay> vom 17. Oktober desselben Jahres (das erneut sechs Tote forderte). Doch die Serie wurde am 2. November 1995 jäh abgebrochen, als in der Nähe des nordfranzösischen Lille der Sprengstoffexperte der dahinter stehenden Kleingruppe verhaftet wurde. Der Algerier Aït Ali Belkacem wurde in flagranti dabei erwischt, wie er eine Autobombe für ein Attentat auf einen Wochenmarkt in Lille vorbereitete. Im gleichen Zuge wurde der gesamte harte Kern der mit den algerischen „Bewaffneten islamischen Gruppen“ (GIA) verbundenen Terrorzelle verhaftet.  

Zwei Tage später, am 4. November 1995, wurde dann in London auch Raschid Ramda festgenommen. Er war unter anderem Redakteur bei dem Bulletin ‚El-Ansar’ („Die Anhänger“ oder“ „die Unterstützer“), das mehrere Jahre lang in London durch die algerischen GIA offen herausgegeben werden konnte – während ihre Organisation in Nordafrika bereits begonnen hatte, Tausende von Zivilisten zu ermorden, wozu die GIA sich unverhohlen bekannten. (Laut den von GIA-eigenen Laienpredigern publizierten Fatwas handelte es sich bei den Opfern um „vom Glauben Abgewichene“.) Die britischen Behörden tolerierten tatsächlich lange Jahre hindurch das offene Auftreten der radikalsten und durchgeknalltesten Strömungen des politischen Islam, da sie sich davon erhofften, ein Abtauchen der Aktivisten zu verhindern und einen Überblick über die „Szene“ zu behalten. Darüber kam es während der neunziger Jahre wiederholt zu schweren Konflikten zwischen den französischen und den britischen Behörden. 

Letztere änderten ihre diesbezügliche Politik nach dem 11. September 2001, vor allem aber nach den beiden Attentaten in der britischen Hauptstadt vom Juli 2005. Was Raschid Ramda betrifft, so mussten die französischen Behörden über zehn Jahre lang auf dessen Auslieferung und Überstellung aus Grobbritannnien warten. Von 1995 bis 2005 war er im britischen Hochsicherheitsgefängnis (HSSU) Belmarsh festgehalten, aus Verfahrensgründen zog sich seine Auslieferung jedoch immer weiter hin – aufgrund eines alten Gesetzes, das Ramdas Anwälte nutzten, konnten sie immer wieder den Vorbehalt vortragen, in Frankreich drohe ihm angeblich „kein fairer Prozess“. Vor zwei Jahren konnten die französischen Behörden dann den mutmablichen Finanzier der Attentate von 1995 auf ihrem Boden in Empfang nehmen, und den Prozess gegen ihn vorbereiten. 

Da hauts dem Ochsen das Horn vom Kopf: „Linke (?) Repressionsgegner“ für Ramda ;))) 

Eine obskure britische bzw. schottische Gruppe namens ‚Scottland against criminalising communities’ (FUSSNOTE[1]) scheute sich nicht davor, im Jahr 2005 einen Text ins Net zu stellen, auf dem eine Solidarisierung mit Rachid Ramda gefordert wird. Mutmablich handelt es sich dabei um irgendwie vage „Linke“, die eine blinden Fleck auf dem Auge aufweisen, mit welchem sie die politische Natur von Djihadisten erblicken könnten. Letztere gelten ihnen als „Auch-irgendwie-Widerständler“. 

In dem Artikel wird die These eines Teils des britischen Justizapparats heruntergebetet, Ramda hätte „in Frankreich kein Recht auf einen fairen Prozess“. Als ob es ihm gegenüber fairer gewesen wäre, ihn auf britischem Boden – fern vom Tatort – und ohne Prozess zur Tat selbst noch über die voll gewordenen 10 Jahre hinaus in Haft zu halten. Ansonsten wird Ramda als eine Art Unschuldsengel verkauft. (Vgl.: http://www.cageprisoners.com/articles.php?id=9397

Bei allen berechtigten Vorbehalten und all unserer fundierten Kritik, als Linken, an der bürgerlichen Justiz: Sorry, aber dieser (sehr mutmablich überführte) Massenmörder, bzw. exakt: Auftraggeber von Massenmord an ZivilistInnen, schmort noch alle mal zu Recht hinter Gittern. Und wer angesichts der tatsächlich anwachsenden Repression gegen soziale Bewegungen und progressive Systemkritik glaubt, sich ausgerechnet mit einem solchen Anstifter von Massenmörder solidarisieren zu müssen, verdient nur ein Einziges: eine Faust in die Fresse.  

(Ausgenommen von dieser prinzipiellen Kritik bleibt selbstverständlich die nach wie vor richtige Wachsamkeit bspw. darüber, dass ein Inhaftierter – und sei es Rachid Ramda – nicht gefoltert wird.)

Raschid Ramda wurde nunmehr deswegen verurteilt, weil ihm nachgewiesen werden konnte, dass seine Fingerabdrücke sich auf einem Überweisungsschein über 5.000 Pfund Sterling (oder 38.000 damalige französische Francs) befinden, welche er Boualem Bensaïd zukommen lieb. Bensaïd war ein Emir (Befehlshaber) der algerischen GIA, der zwecks Aufbau von Kontakt zu potenziellen Rekruten nach Frankreich entsandt worden war. Er gilt als derjenige, der die Attentatswelle von 1995 „koordiniert“ hat. Im Jahr 2002 wurde er in Paris zu lebenslänglicher Haft verurteilt, zusammen mit dem Bombenarchitekten Aït Ali Belkacem. Die Beweislage gegen die beiden war erdrückend: Der Eine hatte seinen Fingerabdruck auf einem Klebeband hinterlassen, das an einem – detonierten – Sprengsatz klebte. Der Andere wurde aufgrund der Station und der Uhrzeit, bei denen er in die öffentlichen Transportmittel ein- und wieder aus ihnen ausgestiegen war, ausweislich der elektronischen Registrierungen auf der bei ihm aufgefundenen Carte Orange (Métro-Monatskarte), überführt.  

Boualem Bensaïd war also der Empfänger der Überweisung, die Rachid Ramda nachweislich von London aus am 16. Oktober 1995 – am Vortag des Attentats in der RER-Station Musée d’Oray – losschickte. Die Ermittler gehen allerdings davon aus, dass Ramda insgesamt fünf Überweisungen an Boualem Bensaïd und die französische GIA-Zelle losgeschickt habe, zwischen dem 2. Juli und dem 16. Oktober 1995. Dieses Geld habe zum Kauf (der der in Frankreich Verhafteten nachgewiesen werden konnte) einer Butangasflasche als Behältnis für den Sprengsatz, des Explosivstoffs, der Füllung aus Nägeln und spitzen Metallstücken – die möglichst schwere Verletzungen herbeiführen sollten – sowie eines Profibohrers für das Aufbohren der Gasflasche gedient. Aber auch ihre Unterbringungskosten wurden mutmablich damit beglichen. Den Ermittlern zufolge trug Rachid Ramda dabei zwei unterschiedliche Pseudonyme, „Abu Farès“ sowie „Elyès“. Trifft Letzteres zu, so handelte es sich bei Rachid Ramda tatsächlich um einen der obersten Kader in der Hierarchie der GIA, denn nur die Angehörigen der obersten Kommadoebene hatten das Recht, zwei unterschiedliche „Kriegsnamen“ auf einmal zu führen. Bensaïd und Aït Ali Belkacem hatten ihn kurz nach seiner Verhaftung 1995 noch schwer belastet. Nunmehr behaupteten sie allerdings vor Gericht, sie hätten ihn niemals gekannt. 

Hingegen behauptet Rachid Ramda stocksteif, nichts mit den Attentaten von 1995 zu tun zu haben. Zwar habe er tatsächlich in jenem Jahr die fragliche Geldanweisung getätigt, er habe aber nicht gewusst, für wen sie bestimmt gewesen sei. Diese Ausflucht wirkte allerdings aus Sicht des französischen Gerichts ein bisschen dünn. An einem der ersten Prozesstage versuchte er, das Gericht damit zu beeindrucken, dass er laut ausrief, er träte dafür ein, dass die Attentäter „die Todesstrafe“ erhielte (auf die Nachfrage, wie er sich verhielte, falls einer seiner Angehörigen sich unter den Opfern befunden hätte). Ein unüberlegter Ausruf – oder vielmehr ein plumpes aber spektakuläres Täuschungsmanöver, wie die islamistische Ideologie es in jedem Falle erlaubt? (FUSSNOTE[2]

Der Studienabbrecher, der 1989 im Alter von 20 Jahren sein Architekturstudium aufgegeben hat, um ins Grenzgebiet von Pakistan und Afghanistan zu reisen, sieht sich selbst als Intellektuellen. Er räumt ein, Redakteur bei ‚El-Ansar’ gewesen zu sein, bestreitet jedoch, dieses Bulletin – in dem die GIA sich zu ihren blutigen Säuberungsaktionen auch gegen „vom rechten Glauben abgewichene“ Zivilisten in ihren Operationsgebieten in Algerien bekannten – sei „in besonderem Mabe das Sprachrohr der GIA oder einer anderen kämpferischen Bewegung“ gewesen. Er fügt hinzu: „Ja, ich habe am Verfassen und Verteilen von ‚El-Ansar’ teilgenommen, welches alle Bewegungen – in Algerien oder anderswo – unterstützte, die gegen die Diktaturen und Tyranneien kämpften.“ Aus anderem Anlass verglich Rachid Ramda das Blatt wiederum, bei seinem Prozess auf französischem Boden, mit ‚Combat’, also einem Blatt der französischen Résistance im Kampf gegen die Nazibesatzung. (Vgl. ‚El-Watan’ vom 15. Oktober 2007) Unverschämt gewinnt... 

Im Laufe des Pariser Prozesses sagten auch seine leiblichen Familienangehörigen und seine extra aus Algerien angereisten Eltern über Raschid Ramda aus. Diese konnten freilich nichts Erhellendes über seinen Werdegang als Kader aussagen, da sie ihn seit 1989 nicht gesehen haben können. 

Rachid Ramda blickt auf seine Laufbahn zurück 

Diese Worte fallen in einem Interview, das Raschid Ramda der linksliberalen französischen Tageszeitung ‚Libération’ erteilte und in deren Ausgabe vom 1. Oktober dieses Jahres publiziert wurde (vgl. http://www.liberation.fr/actualite/societe/281773.FR.php  ). Darin  nimmt er auch zu den Anfängen des radikalen politischen Islam in Algerien Stellung. Er behauptet etwa: „Die islamische Bewegung beginnt damals (Anm. d. Verf.: 1988/89), die Form einer politischen Partei anzunehmen. Das ganze algerische Volk wollte damals dieser Partei angehören, mit Ausnahme der linksradikalen Bewegungen: Leninisten, Trotzkisten usw.“ Die politische Partei, von der hier die Rede ist, ist die Islamische Rettungsfront FIS (französisch: le Front islamique du salut, arabisch: dschabha al-islamiiya lil-inqad, „Islamische Front für die Rettung“). Selbstverständlich ist es purer Unfug, dass die gesamte algerische Bevölkerung diese Partei unterstützte hätte, die allerdings bei den Kommunalwahlen im Juni 1990 und bei den – nach dem ersten Wahlgang abgebrochenen – Parlamentswahlen im Dezember 1991 zur stärksten Partei wurde. Unter anderem ermangels einer anderen als „glaubwürdig“ geltenden Oppositionskraft zog sie auch zahlreiche „Proteststimmen“ gegen das amtierende Regime, das aus der von 1962 bis 1988 in einem Einparteiensystem regierenden Nationalen Befreiungsfront (FLN) hervor gegangen war, auf sich. Von 13 Millionen Wahlberechtigten wählten bei den Kommunalwahlen von 1990 rund vier Millionen den FIS, und bei den Parlamentswahlen von Ende 1991 waren es noch drei Millionen. Die Partei hatte damals rund eine Million Stimmen verloren, da sie in den von ihr regierten Kommunen bereits zahlreiche Hoffnungen und Illusionen enttäuscht hatte. Aufgrund des Mehrheitswahlrechts, einer geringen Wahlbeteiligung und einer hohen Anzahl ungültiger Voten hätte der FIS (mit rund 47 Prozent der abgegebenen gültigen Stimmen) jedoch über eine Parlamentsmehrheit verfügt. Bekanntlich hat die algerische Armee, oder eher ein Flügel innerhalb der Armee – während ein anderer Flügel mit den Islamisten kooperieren wollte - , daraufhin die Wahlen abbrechen lassen. 

Raschid Ramda fährt ferner fort, über die Situation in Algerien während der Umbruchjahre um 1989 sprechend: „Die Revolution gegen das diktatorische Regime war eine religiöse Verpflichtung und eine menschliche Notwendigkeit, um das Land von der Fäulnis zu befreien.“ Ramda spricht hier allerdings nicht von einer emanzipatorisch inspirierten Aufstandsbewegung gegen ein tatsächlich autoritäres und korruptes Regime, sondern von einer selbst ideologisch ausgesprochen autoritär ausgerichteten Oppositionsbewegung, die nach 1992 die Waffen ergriff. Raschid Ramda befand sich zu jenem Zeitpunkt bereits im Ausland, doch schloss er sich dort dem extremsten Flügel des algerischen Islamismus als Unterstützer an und stellte ihr Logistik zur Verfügung. 

1995 entschieden sich die GIA, den Konflikt auch auf französischen Boden zu tragen, um in Algerien als „Herausforderer“ der früheren Kolonialmacht auftreten zu können. Gleichzeitig wollten sie durch den zeitweiligen „Export“ ihres Kampfes auch die im Lande bereits einsetzende gesellschaftliche Isolierung ihrer bewaffneten Elemente durchbrechen. Anfänglich als „Robin Hoods, die gegen ein selbstsüchtiges und nepotistisches Regime kämpfen“ durch relevante Teile der Bevölkerung – insbesondere auch in den sozialen Unterklassen – unterstützt, wurden die islamistischen Bewaffneten ab 1995 durch wachsende Teile der Gesellschaft als Belastung erlebt. Denn in jenen Orten, etwa den Stadtbezirken an der Peripherie der Hauptstadt Algier, wo die radikalen Islamisten den Ton angaben und einige Monate lang die Staatsmacht de facto ersetzen konnten, zwangen sie der Bevölkerung ihre ideologischen Diktate auf. Begrübten viele Bewohner anfänglich diese „echten Moslems“ als Herausforderer eines verhassten Regimes, so waren sie doch des Tugendterrors alsbald müde, zumal keinerlei damit einhergehende Verbesserungs ihres alltäglichen Lebens in den zeitweise „befreiten Zonen“ zu verzeichnen war. Ab 1995 begann das Kräfteverhältnis im algerischen Bürgerkrieg daher umzukippen, und die Niederlage der islamistischen Herausforderer des bestehenden Regimes fing an sich abzuzeichnen. 

Vor diesem Hintergrund versuchten die GIA, diese „blockierte Situation“ zu durchbrechen, indem sie auf französischem Boden spektakuläre Attentate begingen und sie mit Aufsehen erregenden Forderungen begleiteten. Im Oktober 1995 verlangten sie in einem Brief an den damaligen französischen Präsidenten Jacques Chirac, dieser möge „zum Islam konvertierten“, damit die Anschläge aufhörten. Diese Forderung, die in den Bereich des politisch nicht Verhandelbaren fiel, zeugte entweder vom ideologisch „durchgeknallten“ Charakter der Aktivisten oder aber war allein dazu bestimmt, im „Provo-Tonfall“ die Aufmerksamkeit der internationalen Öffentlichkeit zu erregen. Kurz darauf wurde die Angelegenheit jedoch dadurch beendet, dass die GIA-Zelle auf französischem Boden ausgehoben wurde. Der jetzige Prozess gegen Ramda war nur das letzte Kapitel in der juristischen Aufarbeitung der damaligen Episode des islamistischen Terrorismus. 

Raschid Ramda fällt ansonsten in dem von ihm gewährten, drei Zeitungsseiten füllenden Interview dadurch auf, dass er sich an all den Punkten auf keinerlei inhaltliche Aussage festklopfen lassen möchte, an denen eine genauere Festlegung ihm negativ angelastet* werden könnte. So lehnt er es mit folgenden Worten ab, eine klare Aussage dazu zu treffen, ob er nun zu den algerischen GIA gehöre oder nicht, ob er sich zum islamistischen Fundamentalismus zähle oder nur „ein einfacher algerischer Moslem“ sei: „Seit der Revolution von 1789 sind die Franzosen besessen von der Klassifizierung der Gattungen und der Leute.“ Es folgt die Aufzählung von politischen Strömungen unter der Französischen Revolution, die damals im Widerstreit zueinander lagen und jeweils unterschiedliche soziale Kräfte repräsentierten, von den Artistokraten über die Robespierristen bis zu den Sansculotten. Ramda fährt fort: „Man könnte beinahe glauben, dass man die Wesen unbedingt in Schubladen einschlieben muss!“ Das muss man sicherlich nicht, aber zur Bewertung des Tuns eines Raschid Ramda wäre es sicherlich förderlich, zu erfahren, ob er sich nun zur Strömung der algerischen GIA zählt oder nicht.  

Ähnlich ausfluchtreich fällt seine Antwort auf die Frage nach seiner Sichtweise über Ossama Bin Laden aus: „Ich bin seit elf langen Jahren im Gefängnis, ich stehe dem gesellschaftlichen Leben zu fern (...). Ich mache mir selbstverständlich meine eigene Meinung, und zu dem Thema, das Sie ansprechen, nehme ich eher den historischen Blickwinkel ein als den (Anm. d. Verf.: lediglich) ereignisbezogenen.“ Was immer das nun bedeuten möge, „eher den historischen Blickwinkel als den ereignisbezogenen“ einzunehmen. Leichter wäre es jedenfalls, einen Pudding an die Wand zu nageln, als eine klare politische Aussage von dem inhaftierten Kader zu erhalten. 

Richter folgen der These vom fingierten Charakter der islamistischen Gewalt nicht 

Die Verteidigung im jüngsten Prozess gegen Ramda machte ihrerseits dadurch auf sich aufmerksam, dass sie eine These übernahm (vgl. http://www.afrik.com/article12770.html ), die in den letzten Jahren durch einen – im Laufe der Zeit schrumpfenden – Kreis von französischen Intellektuellen und Journalisten vertreten worden ist. Ihnen zufolge handelt es sich beim islamistischen Terrorismus in und aus Algerien gar nicht um einen solchen. Vielmehr werde dieser lediglich vom bestehenden Regime fingiert, was es ihm erlaube, um internationale Unterstützung für seine Repression zu ersuchen und diese auch zu finden.

Diese These war zeitweise in einem Teil des französischen linksliberalen Milieus en vogue. Zu ihren prominenten Anhängern zählen etwa der französische Publizist François Gèze, die Deutschalgerierin Salima Mellah oder der bei Canal + tätige Fernsehjournalist Jean-Baptiste Rivoire. In Deutschland wurde sie etwa von dem emerierten Professor für Politikwissenschaft in Kassel, Werner Ruf, vertreten.  

Ihr zufolge handelt es sich bei den GIA, die 1993 entstanden sind und die seit den letzten Verhaftungen im Dezember 2004 nunmehr definitiv zerschlagen worden sind, um eine reine Gründung des algerischen Militärgeheimdiensts – der früheren Sécurité militaire (SM), die inzwischen in DRS (Abteilung für Nachrichtenbeschaffung und Sicherheit) umbenannt worden ist. Von ihrer Seite wird das algerische oligarische Regime gern mit den Militärdiktaturen in Chile und Argentinien in den 1970er Jahren, die sich durch ihre Repressions-, Folter- und Terrorpraktiken auszeichneten, verglichen. Nur sei die algerische „Junta“, wie sie das Regime der Oligarchie gerne – grob vereinfachend – bezeichnen, um vieles gerissener als jene rechten Militärdiktaturen in Lateinamerika. Bei derem so genanntem „Kampf gegen die linke Subversion“ waren die Aktionen beider Seiten noch relativ leicht erkennbar und durchschaubar waren, und die ultrarechten „Todesschwadronen“ lieben sich damals relativ leicht als aubergesetzlich operierende Spezialkommandos der Armee selbst gegen Gewerkschafter, Kommunisten oder linke Christen identifizieren. In Algerien hingegen -- folgt man  der Argumentation dieses (seit dem 11. September 2001 kleiner gewordenen) Kreises von Journalisten, Publizisten und politischen Aktivisten -- stecke in Wirklichkeit das Regime sowohl hinter seinen eigenen, manifesten Taten als auch hinter denen seiner vermeintlich radikalsten Opponenten. Die GIA seien in Wirklichkeit, so erfährt man von ihnen, die „Groupes islamiques de l’armée“ (Islamische Gruppen der Armee, statt dem richtigen Namen „Bewaffnete islamische Gruppen“) gewesen, hätte also einen durch die Militärs selbst aufgebauten, scheinbaren Gegner dargestellt. 

Diese Argumentation wird noch heute in bestimmten Kreisen vertreten, obwohl sie inzwischen – anders als in den Jahre um 1997, als sie anlässlich der groben Kollektivmassaker an Zivilisten in Algieren durch die GIA erstmals vorgetragen wurde – ziemlich abgegriffen und absurd wirkt. 

Die Wandlungen des islamistischen Terrors in Algerien 

Inzwischen hat sich der internationale ebenso wie der algerische innenpolitische Kontext stark gewandelt. Auch die Erscheinungsformen und die Akteure des bewaffneten radikalen Islamismus in Nordafrika sind nicht mehr dieselben: Die GIA sind – verhasst bei der Bevölkerung und von den Staatsorganen gejagt – seit drei Jahren von der Bildfläche verschwunden. Als einzige verbliebene bewaffnete Islamistenbewegung in Algerien hat eine Gruppierung, die sich 1998/99 von den damals noch aktiven GIA abgespalten hat, unterdessen ihren Kampf fortgesetzt. Es handelt sich um den GSPC (zu deutsch „Salafistische Gruppe für die Predigt und den Kampf“), der wiederum sich im Februar 2007 offiziell in „Al-Qaïda im Land des islamischen Maghreb“ umbenannt hat.  

In allen drei Fällen war eine jeweils unterschiedliche politische und militärische Konzeption am Werk. Die GIA kämpften offiziell für den Sturz des algerischen Regimes und die Machtübernahme, praktizierten aber de facto zugleich eine kriminellen Zwecken und Selbstbereicherung dienende Aneignung von materiellen Gütern der Bevölkerung. Wer sich ihrem Zugriff widersetzte, wurde zum „Ungläubigen“ erklärt und riskierte den Tod. Die GIA bemühten sich nicht zu verhehlen, dass sie – anlässlich ihres Eindringens in Dörfer oder entlegene Stadtteilen, sowie an den als ‚faux barrages’ (falsche Kontrollstellen) bekannt gewordenen Strabensperren, die ihre Bewaffneten häufig errichteten – auch Abertausende Nonkombattenten aus der Zivilbevölkerung hinmetzelten. Dabei entglitten die GIA auch zunehmend der Kontrolle durch den (illegaliierten) Parteiapparat der „Islamischen Rettungsfront“ FIS. Letztere lieferte zwar phasenweise den Bewaffneten der GIA ihre Oberbefehlshaber – der zeitweilige GIA-Chef Mohammed Saïd (1995) war etwa ein ehemaliges Führungsmitglieder der Islamistenpartei FIS -, betrachtete aber zugleich die von diesen Gruppen begangenen Massaker als kontraproduktiv. Tatsächlich bewahrheitete sich die Befürchtung, der Grobteil der Bevölkerung werde sich mit Grausen von ihrem „Kampf“ abwenden, nachdem es einmal so weit war. Deshalb baute der illegale Parteiapparat des FIS auch seit 1994 neben den GIA eine zweite, von ihm selbst unterhaltene Guerillatruppe auf, die „Islamische Rettungsarmee“ (AIS). Letztere schloss aber schon nach drei Jahren einen Waffenstillstand mit dem Regime, da sich im Kontext der explodierenden Gewalt und des wachsenden Unmuts in der Bevölkerung ihr bewaffneter Kampf als aussichtslos erwies. Ähnliche Kritik trug später auch eine „Dissidenten“fraktion innerhalb der GIA vor, aus der ab 1998/99 die „Salafistische Gruppe für die Predigt und den Kampf“ hervorging. Diese Bewegung, der GPSC, versuchte sich darum stärker auf den Kampf gegen Polizisten und Soldaten zu konzentrieren und Kollektivmassaker an Zivilisten tunlichst zu unterlassen, auch wenn er – zum eigenen Unterhalt seiner Kämpfer – ebenfalls mitunter materielle Unterstützung aus der Bevölkerung erpresste. Aus dem GSPC wiederum entstand vor acht Monaten „Al-Qaïda im islamischen Land des Maghreb“. Die Umwandlung resultiert daraus, dass die verbliebenen bewaffneten Islamisten in Algerien aus ihrer Schwäche und gesellschaftlichen Isolierung schlossen, dass sie sich besser in einen „internationalen“, weltweit geführten Djihad einreihten. Dabei handelt es sich freilich um eine Strategie der Flucht nach vorn, um die Sackgasse, in die ihr Kampf im eigenen Land definitiv geraten war.  

All diese unterschiedlichen politischen Logiken gehen auch mit unterschiedlichen Kampfformen einher. „Al-Qaïda im Maghreb“ hat etwa in den letzten Monaten Formen des „Djihad“ nach Nordafrika importiert, die dort während des algerischen Bürgerkriegs der 1990er Jahre unbekannt waren oder weitgehend fehlten. So imitiiert die algerische Al Qaïda-Kopie neuerdings Formen des Terrorismus, wie sie seit längerem etwa im besetzten Irak Anwendung finden, darunter den Einsatz von durch Selbstmordattentätern gesteuerten Autobomben. Während des algerischen Bürgerkriegs waren Selbstmordattentate so gut wie nie vorgekommen, da die damaligen bewaffneten Islamisten noch mehr oder weniger fest davon überzeugt waren, sie könnten den Krieg gegen das „gottlose Regime“ in ihrem Land gewinnen und dann selbst den Ton angaben. Das wollten ihre Kader und ihre Kämpfer gar zu gern noch selbst erleben. Inzwischen, seit rund einem Jahr, aber verzeichnet man in Algerien immer häufiger den Rückgriff auf Selbstmordattentäter. 

Trotz dieses Form- und Inhaltswandels des islamistishen Aktivismus und Terrorismus in Algerien halten die genannten Kreise zum Teil unbeirrbar an ihrer Ausgangsthese fest. So erfährt man, dass  all  die  aufeinander folgenden, tragenden Bewegungen des bewaffneten Islamismus in Algerien – die GIA, der GSPC, „Al-Qaïda im Maghreb“ – samt und sonders als solche nicht existierten, sondern Kreaturen des Regimes seien. Ein Schema, das im Diskurs eines bestimmten Milieus vor zehn Jahre einmal auf die damaligen GIA angewendet worden war, wird bruchlos auch auf die anderen, später entstandenen Gruppen übertragen. (Vgl. http://www.algeria-watch.org/fr/aw/gspc_etrange_histoire.htm Es handelt sich um einen redaktionellen Beitrag der Webpage Algeria Watch. Dieselbe Homepage hat ansonsten eine im Prinzip informative Sonderseite über den Pariser Prozess eingerichtet, auf der jedoch – wie Kraut und Rüben – journalistisch-sachliche Artikel und verschwörungstheoretischer Abfall in loser Abfolge neben- bzw. untereinander stehen. Vgl. hier: http://www.algeria-watch.org/fr/article/just/attentats_paris/attentats_paris.htm)  

Kritik an einer fragwürdigen These 

Diese These übersieht aber wichtige Grundzüge der Realität. Nicht nur, dass das algerische Regime heute völlig andere Interessen hat als vor 10 oder 12 Jahren: Heute ist es – anders als damals - keineswegs in seiner Existenz bedroht, da keine der bestehenden bewaffneten Bewegungen heute auch nur ernsthaft seinen Sturz in Erwägung ziehen kann. Gleichzeitig hat Algerien in den letzten 10 Jahren einen tiefgreifenden ökonomischen Wandel von einer ehemals staatssozialistischen Ökonomie, die einstmals stark jener der DDR glich, zu einer „offenen“ und der Globalisierung ausgesetzten kapitalistischen Ökonomie vollzogenen. Das Hauptinteresse der algerischen Machthaber dürfte insofern heute auch nicht darin liegen, politische Unterstützung und militärische Bündnispartner gegen einen inneren Feind zu gewinnen, sondern Investoren anzuziehen. Denn auberhalb des Erdöl- und Erdgassektors, der weit über 90 Prozent der Deviseneinnahmen des Landes einbringt, liegen zahlreiche Produktionszweige brach. Nachdem das einstige staatssozialistische Experiment der „Industrialisierung aus eigener Kraft“ aus unterschiedlichen Gründen (äuberen, die mit der Struktur der Weltwirtschat zusammenhängen, ebenso wie inneren Gründen hauptsächlich im Bereich der Korruption und Misswirtschaft) abgebrochen werden musste, bleiben zahlreiche Sektoren der einheimischen Wirtschaft schwer vernachlässigt. Algier zeigt sich deshalb intensiv bemüht darum, bei Investoren einen glaubhaften Anschein von „garantierter Stabilität“ und „guten Anlagebedingungen“ zu erwecken. Dass – wie die Anhänger der oben zitierten Verschwörungsthese behaupten – das Regime selbst den Terror organisiert und dabei vor ihren Augen auch noch das rote Tuch „Al-Qaïda“ schüttelt, ist vor diesem Hintergrund kaum anzunehmen. 

Daneben übersieht die These vom gigantischen Komplott, durch das der islamistische Terror in Algerien nur fingiert werde, auch innere Wesensmerkmale des bewaffneten Islamismus in dem nordafrikanischen Land. Das politisch-strategische Profil der aufeinander folgenden Bewegungen unterscheidet sich, wie oben dargelegt wurde, erheblich. Dazwischen liegen gesellschaftliche Niederlagen des radikalen (bewaffneten) Islamismus, strategische Neuorientierungen, der Austausch ganzer Generationen von Aktivisten. Nachdem beispielsweise alle früheren Köpfe der GIA im Kampf, oder in Einzelfällen auch in Haft oder nach Gefangennahme, getötet worden sind - was sie als Agenten oder V-Männer des amtierenden Regimes wohl eher nicht in Frage kommen lässt, da es nicht zu den üblichen Gepflogenheiten eines Polizei-, Armee- oder Geheimdienstapparats gehört, die eigenen V-Leute hinzumetzeln. Den Job würde ja sonst auch niemand machen wollen. Übrigens: Die durschschnittliche (Über-) Lebenserwartung eines „nationalen Emirs“ (Oberbefehlshabers) der GIA in den 1990er  Jahren betrug, nachdem er einmal an die Spitze aufgerückt war, noch sechs Monate. Auch wenn die GIA damals so gut wie keine Selbstmordattentäter einsetzten und gröberen Gefallen am Morden denn am Suizid fanden, so verrichteten ihre Chef doch einen – auch für sie selbst - relativ gefährlichen Job.   

Nicht zuletzt fällt ferner auch auf, dass die These von der totalen Manipulation, die den islamistischen Terrorismus nur vortäusche, stark vom internationalen politischen Kontext abstrahiert. Als ob nicht beispielsweise Erfahrungen mit den Praktiken von Al Qaïda-nahen und ähnlichen Strömungen im – von den US-Amerikanern besetzten – Irak vorlägen. Just deren „Vorbilder“ werden ja inzwischen, seit kurzem, auch durch die Bewaffneten in Nordafrika imitiert. Dem Strickmuster der Argumentation derer, die die Existenz einer eigenständigen Gewalttätigkeit algerischen Islamistenkämpfer – inklusive dem Verursachen von Kollektivmassakern durch die GIA in den neunziger Jahren – bestreiten, liegt prinzipiell der Wunsch zugrunde, es sich in der Kritik an einem Regime einfach zu machen.  

Die Parallele zu den argentinischen und chilenischen Militärdiktaturen, die sie unbedingt ziehen möchten (und auf die bspw. der Publizist François Gèze oft insistiert), scheitert aber notwendig. Denn jenen stand tatsächlich eine prinzipiell emanzipatorische, progressive, rational argumentierende Opposition – durch die Diktaturen als „linke Subversion“ bezeichnet – gegenüber. Auf dieselbe Weise lässt sich die fundamentalistische Variante des politischen Islam jedoch nicht charakterisieren. Nur, weil einem ein vorhandenes Regime aus guten Gründen unsympathisch erscheinen mag, muss deshalb eine bestimmte Opposition noch nicht von ihren eigenen autoritären Tendenzen und ihrer eigenen Gewalt entlastet erden (können). Wenn man richtig damit liegen konnte, die Diktatur des persischen Schah zu hassen, so täuschte man sich dennoch, wenn man glaubte, eine bestimmte Oppositionsströmung um den iranischen Ayatollah Khomenei werde das Leben der Iranerinnen und Iraner verbessern. Unter Umständen können manche Oppositionsbewegungen sich auch als noch schlimmer als das jeweils bestehende Regime herausstellen. Im Falle des algerischen bewaffneten Islamismus war diese Tatsache nun einmal gegeben. Die Radikalislamisten und Djihadisten waren (und sind, auch wenn sie heute in Algerien nur noch in Überresten auftauchen) keine irgendwie progressiv zu nennende, revolutionär-humanistische Opposition. Sondern es handelt sich um eine Art Rechtsopposition, die glaubt, die Bewohner ihrer Länder in eine verschüttzt geglaubte „kulturelle Identität“ zurück zwingen und (durch deren „Wiederherstellung“) alle gesellschaftlichen Probleme lösen zu können.  

In der französischen Debatte der letzten 10 Jahre fällt auf, dass die Konturen desjenigen Milieus, das nicht an einen „authentischen“ islamistischen Terror in Algerien glaubt, zum Teil deckungsgleich sind mit jenem Lager, das in den frühen neunziger Jahren für die Anerkennung der demokratischen Legitimität der radikalen Islamisten – aufgrund der für sie abgegebenen Wählerstimmen – eintrat. Schematisch lässt sich ungefähr folgende Verteilung festhalten: Die konservative Rechte machte sich überwiegend für die algerischen Militärs stark, in denen sie die historische Figur der im Algerienkrieg gegen die nationale Befreiungsbewegung der Jahre 1954 ff kämpfende französische Armee wieder zu erkennen versuchte. Tatsächlich wurden von jener Seite oftmals Parallelen zwischen dem „antisubversiven“ Krieg der Franzosen vor 1962, und jenem der algerischen Machthaber ab 1992 gezogen. (Ausgenommen bleiben hier die Neofaschisten um Jean-Marie Le Pen, die 1992 für eine Machtübernahme durch den FIS eintraten, unter anderem weil die Islamisten auch für eine getrennte Entwicklung der „kulturellen Identitäten“ und tendenziell für eine Rückkehr der in Frankreich lebenden nordafrikanischen Immigranten eintraten.) Bei der Sozialdemokratie und im linken bzw. vorwiegend linksliberalen Milieu setzte man dagegen auf die Anerkennung der Legitimität der Islamistenpartei FIS – mit Ausnahme der Französischen kommunistischen Partei, die wiederum schon früh (und oftmals auf sehr platte und ungenaue Art) die islamistische Bewegung als „Faschismus“ geibelte. 

Übrig geblieben aus der früheren Debatte ist jener Kreis von Intellektuellen und Publizisten, die noch immer insofern an die historische Unschuld der radikalen Islamisten glauben, als sie tendenziell einen strikten Trennungsstrich zwischen ihnen und dem Terror in Algerien ziehen möchten. Ihr Einfluss schrumpft jedoch. So hat die Tageszeitung ‚Libération’ in den neunziger Jahren und noch zu Beginn dieses Jahrzehnts ihre Thesen stark wiederholt. In den letzten Wochen machte sie sich jedoch die These, wonach die Djihadisten nichts mit den Bomben in Paris von 1995 zu schaffen hätten – der Fernsehjournalist Jean-Baptiste Rivoire suggerierte etwa, der algerische Geheimdienst habe sie (mit Wissen seiner französischen Kollegen) gelegt – nicht offen zu eigen. Im Gegenteil berichtete sie ausführlich über die Verstrickung der damaligen GIA in die Pariser Attentatswelle vor zwölf Jahren. 

Innenpolitische Aspekte in Frankreich: die Kelkal-Affäre 

Eine andere Facette der französischen Debatte um den islamistischen Terrorismus betrifft die innenpolitische Dimension. Hier geht es um die hausgemachten Gründe dafür, dass die aus Algerien einreisenden Kader der GIA damals in Frankreich und Europa willige Gehilfen für die Ausführung der von ihnen geplanten Aktionen fanden. Und dies nicht nur in Gestalt eines im Ausland lebenden, gefestigten politischen Kaders wie Raschid Ramda, der bereits vor den Attentanten von 1995 als Funktionär einer Unterströmung des radikalen Islamismus (rund um die GIA) gelten durfte. Sondern auch unter jungen Franzosen migrantischer Herkunft, die zuvor keinerlei politisches Profil besaben, sich aber im Zusammenhang mit den Aktivitäten der GIA manipulieren lieben. 

Die „Kelkal-Affäre“ bildet einen wichtigen Meilenstein bei der Wahrnehmung dieser Dimension. Der damals 25jährige Khaled Kelkal war einer der Hauptverdächtigen bei der Attentatsserie vom Sommer und Herbst 1995 - nachdem sein Fingerabdruck auf dem Klebeband an einem Sprengsatz, der im August jenes Jahres in einem Schnellzug von Paris nach Lyon entschärft werden konnte, gefunden worden war. Am 29. September desselben Jahres wurde Kelkal durch starke Polizeikraft in einem Wald in der Nähe von Lyon gestellt und erschossen. Die Umstände seines Todes führten damals zeitweise zu einer heftigen Polemik, da ein Fernsehbericht davon gesprochen hatte, Kelkal habe bereits entwaffnet am Boden gelegen und sei „regelrecht hingerichtet“ worden. Diese Polemik ist jedoch später eingeschlafen. Kurz darauf wurden aber Hintergrundinformationen über seinen Werdegang, die durch die renommierteste französische Zeitung publiziert wurden, zum Anlass für eine bestimmte Selbstkritik in Teilen der französischen Gesellschaft. Der deutsche Soziologe Dietmar Loch, der sich in den Jahren 1991/92 zu einem Studien- und Forschungsaufenthalt länger in den Banlieues des Ballungsraums Lyon aufhielt, hatte damals (neben anderen BewohnerInnen) auch einen zornigen jungen Mann interviewt: den jüngeren Khaled Kelkal. 

Khaled Kelkal wurde 1971 in Mostaganem, an der westalgerischen Mittelmeerküste, als viertes von insgesamt zehn Kindern geboren. Als Zweijähriger kam er nach Frankreich, wo sein Vater bereits seit 1969 als Arbeiter beschäftigt war. Er wuchs in Vaulx-en-Velin auf, einer jener Schlafstädte mit zahlreichen Hochhäusern, hohem Immigranten-, Armen- und Erwerbslosenanteil, in den sich zahllose soziale Probleme konzentrieren. Im Gegensatz zu den Schwarzen-"Ghettos" vieler US-amerikanischer Großstädte handelt es sich dabei aber nicht um "ethnisch" strukturierte Wohngebiete, sondern um Zonen, in denen all diejenigen abgeschoben werden, die in den städtischen Zentren von Paris oder Lyon die horrenden Mieten nicht mehr bezahlen können. Vaulx-en-Velin wurde zum Symbol der daraus resultierenden sozialen Spannungen, nachdem es dort im Oktober 1990 zu für die damalige Zeit noch spektakulären Unruhen gekommen war. 

Khaled Kelkal schien anfänglich dafür prädestiniert, aus der Banlieue heraus- und zu einem besseren Leben zu kommen. Als guter Schüler gelang ihm nach dem collège (Mittelschule) der Sprung auf das lycée (Oberschule) in Frankreich besteht zwar kein dreigliedriges Schulwesen wie in der Bundesrepublik, aber am End e des collège wird streng sortiert, um zu entscheiden, wer auf die Oberschule gehen kann und wer nicht. Migrantenkinder wurden durch die "Orientierungsberater" lange Zeit bevorzugt auf das Berufsschulwesen, statt auf das lycée, verwiesen. 

Doch nunmehr erlebte der jugendliche Khaled zum ersten Mal, welchen riesigen Unterschied es machen kann aus der Stadt Lyon wo die Oberschule liegt - oder aus der Banlieue zu kommen. Er würde Dietmar Loch erzählen: "In meiner Klasse gab es nur Reiche. (...) Sie hatten noch nie in ihrem Leben <einen Araber> gesehen, und sie sagten selbst: <Offen gesagt, du bist der einzige Araber, den wir kennen>..." 

Auf dem lycée, diesen Satz wiederholt Kelkal in dem Interview immer wieder und wieder, "habe ich meinen Platz nicht gefunden". Gegen den ausdrücklichen Rat seiner Eltern bricht er die Schulausbildung ab: "Ich hatte die Möglichkeiten, die Fähigkeiten dazu, aber rein gar nichts motivierte mich zum Weitermachen..." Mit einigen Freunden begeht er Einbrüche und kleinkriminelle Delikte, deswegen muss er Erfahrungen mit der französischen Justiz und mit dem Gefängnis machen. Er wird dem deutschen Soziologen erzählen: "Offen gesagt, uns als Araber liebt die Justiz nicht"; er hat den Eindruck, dass die Herkunft sich de facto strafverschärfend auswirkt. 

In der Zelle sitzt Khaled Kelkal ein Jahr lang zusammen mit einem anderen "Araber". Von ihm lernt er zum ersten Mal, richtig Arabisch zu sprechen und die moslemische Religion zu kennen. Bisher hatte er weder mit der Sprache noch mit dem Islam viel zu tun gehabt was klar gegen die These vom "angeborenen" Charakter des vermeintlichen "islamischen Fanatismus" sprechen dürfte. Als die Sprache auf diese Periode kommt, werden die Gedanken Khaled Kelkals in dem Interview reichlich obskur: "Einer der größten Professoren für Astronomie in Japan hat bezeugt, dass der Koran die Stimme Gottes sei. Ein großer NASA-Gelehrter hat es ebenfalls bezeugt..." Das klingt ziemlich stark nach jemandem, der Anhaltspunkte oder "Beweise" für seinen neu angenommenen Glauben zur Rechtfertigung benötigte, aber nicht eben nach jemandem, dem der Glaube "in die Wiege gelegt" worden wäre. Ziemlich verquast klingt es freilich gleichzeitig auch.           

Ein weiterer Gedanke, der in dem Interview stark hervortritt, ist folgender: "Ich will Frankreich ganz verlassen, für immer, zu mir nach Hause gehen, nach Algerien." Das war aber in den frühen 90er Jahren nur unter hohen Risiken denkbar, da das nordafrikanische Land just in jenen Jahren im Bürgerkrieg zu versinken begann. Es ist nicht genau bekannt, warum Kelkal nicht in jene "Heimat" ging, die er selbst nicht kannte. Mehrere Jugendliche, die ‚Le Monde’ parallel zur Veröffentlichung des Kelkal-Interviews interviewte, bezeugten jedoch, "so mancher" habe dieses Traum gehabt, "aber alle sind hierher zurückgekehrt". 

Die liberale Pariser Abendzeitung ‚Le Monde’ veröffentlichte dieses Interview auf drei vollen Zeitungsseiten am 7. Oktober 1995. Begleitet von einem Kommentar, der unter der bemerkenswerten Überschrift erschien: "Khaled Kelkal, Opfer des ordinären Rassismus." Eine Rechtfertigung der Anschläge, die damals fast alle Franzosen und Französinnen erschreckten und potenziell treffen konnten, war damit sicherlich nicht intendiert. Sie enthält aber ein wesentliches Stück Wahrheit, will man die kurze - Lebensgeschichte eines Khaled Kelkal annährend verstehen. Dennoch geben die Ausführungen aus dem Interview allein noch keine hinreichende Antwort darauf, wie er in die Vorbereitung solch blutiger Attentate verstrickt werden konnte. 

Bemerkenswert war dieses Moment der Selbstkritik in ‚Le Monde’, die al seriöseste französische Zeitung gilt, auch im Vergleich mit der Terrorismushysterie, die in der vergleichsweise ruhigen Bundesrepublik des Jahres 1977 herrschte. Damals fanden zwar in Westdeutschland Attentate statt, aber in weit geringerer Intensität als in Frankreich im Sommer/Herbst 1995 - von Algerien im gleichen Zeitraum einmal völlig zu schweigen. (Abgesehen davon, dass die Attentate der westdeutschen RAF, im Gegensatz zu den Bombenexplosionen in der Pariser Métro oder Kollektivmassakern in Algerien, in der Regel auch mitnichten auf die „Normalbevölkerung“ zielten.) Wer damals auch nur die Hintergründe für die Motive so genannter Terroristen zu bedenken gegeben hätte, wäre otmals schon des „Sympathisantentums“ gezichtigt worden. 

Hysterie gibt es freilich mitunter auch in Frankreich. Nachdem am 3. Dezember 1996 nochmals ein – in jenem Zeitraum isoliert bleibendes – Attentat in Paris stattgefunden hatte, das bisher zeitlich letzte islamistische Attentat in der französischen Hauptstadt, lieb sich dies etwa an der Zahl der bei der Polizei eintreffenden „Meldungen“ ablesen. Die Polizeibehörden und das Innenministerium wiesen im selben Monat öffentlich darauf hin, dass es wohl nicht nützlich sei, jeden „verdächtig wirkenden“ Araber zu signalisieren, der an jenem Tag die Métro benutzt habe, und dass die scheinbaren „offensichtlichsten Verdachtsmomente“ untauglich seien: „Die Bombenleger dürften kaum wie der Imam einer Moschee gekleidet gewesen sein.“ Und selbstverständlich gibt es in Teilen der französischen Gesellschaft auch manifesten Rassismus, ganz besonders gegen Algerier. Nichtsdestotrotz fällt der angenehm sachliche und teilweise selbstkritische Tonfall auf, in dem damals ‚Le Monde’ über die Kelkal-Affäre berichtet hat.  

Just in diesen Tagen tut es ihr nun die sozialdemokratische ‚Libération’ nach, die in einem Leitartikel vom 1. Oktober – der das Interview mit Raschid Ramda begleitet – eine Sichtweise in Frage stellt, derzufolge „der islamistische Terrorismus ein rein pathologisches und irrationales Phänomen darstellt“. Die Kritik daran ist sicherlich berechtigt, und der Hinweis darauf absolut richtig, dass auch dieses Phänomen politische und gesellschaftliche Ursachen haben. Der im Folgenden allein angeführte Verweis darauf, dass arabische Regime – wie das algerische, unter dem Raschid Ramda aufwuchs – autoritär seien, genügt freilich noch nicht. Denn dabei kommt die eigene Ideologie der Islamisten, die mindestens so autoritär ausfällt wie das algerische Ancien Régime, doch wiederum ein bisschen zu kurz. 


Fußnoten

[1] Ein Titel, der bereits Misstrauen erweckt, alldieweil man sich mit Personen oder politischen Bewegungen unter inhaltlichen Minimal-Voraussetzungen gern solidarisieren möchte. Aber mit „Gemeinschaften“??

[2] Der orthodoxe Islam, also die qoranische Lehre, kennt das Prinzip der gerechtfertigten Notlüge, die (als Ausnahme vom Prinzip des Verbots der Lüge) dann ausgesprochen werden darf, wenn das Leben oder aber der Glauben des (Recht-)Gläubigen unmittelbar gefährdet sind und bewahrt werden müssen. Bis dahin, nicht weiter aufregend oder spektakulär: Auch der alte sog. „abendländische Kulturkreis“ kennt das Konzept der ethisch vertretbaren Notlüge. Nun muss aber beachtet werden, wie extrem weit die islamistischen Kämpfer vieler Strömungen dieses Prinzip (arabisch <al-taqqiya>) oft dehnen: Jede Lüge, jede Verstellung, jede Täuschung und jede Demagogie ist demnach zulässig, sofern es nur dem Vorankommens des eigenen Kampfes im Namen der „gerechten Sache“ dient.  Ein seltenes, überspitztes, aber glasklares Beispiel: Im algerischen Bürgerkrieg existierte zeitweise eine, kleinere, bewaffnete Combo namens FIDA („Islamische Front für den bewaffneten Djihad“), die sich darauf spezialisiert hatte, Angehörige der säkularen Eliten zu liquidieren. Bevorzugt bei ihnen zu Hause. Um nicht aufzufallen und sich in Kreisen eben jener Elite bewegen zu können, mieteten ihre Kämpfer – die, im Gegensatz nicht zu allen, aber zu manchen bewaffneten Islamistentruppen, überdurchschnittlich oft selbst aus gehobensten Kreisen stammten – Wohnungen in so genannten besseren Wohngegenden an. Dort feierten sie Partys, luden Leute zu sich ein, lieben den Alkohol strömen und drehten die Musik demonstrativ laut auf. Normalerweise für einen „orthodoxen“ Moslem, der Alles (angeblich) buchstabengetreu ausgelegt wissen möchte, eine „Todsünde“. Aber nicht in ihren Augen, in diesem Falle: Rechtfertigung durch den Einsatz für die höhere Sache!! (Und eine gehörige Selbstbeherrschung benötigt man dazu selbstverständlich auch, über die nur ideologisch gefestigte Kader verfügen. Der FIDA blieb eher eine Splittergruppe.)

Editorische Anmerkungen

Diesen Artikel erhielten wir am 1.11.2007 vom Autor.