Exil und Rückkehr
Deutsche Philosophie vor und nach 1945

von Konrad Lotter

11/07

trend
onlinezeitung
Es ist schwierig, eine exakte Zahl der nach 1933 aus Deutschland emigrierten Philosophen anzugeben. Im Jahr 1931 lehrten an deutschen Universitäten und Hochschulen (Ordinarien, Professoren, Privatdozenten u. a. zusammengerechnet) insgesamt 184 Philosophen, im Jahr 1938 nur noch 136(1) . Der Schwund von 48, also von mehr als einem Viertel, fällt allerdings nicht unmittelbar mit der Zahl derjenigen Juden und Oppositionellen zusammen, die aufgrund des "Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" (vom 7.4.1933) entlassen wurden und daraufhin zum größten Teil emigriert sind. Da die Stellen oft nicht einfach gestrichen, sondern mit Nazi-Philosophen besetzt wurden, ist die Zahl der ins Exil Getriebenen bedeutend höher.

Will man die Auszehrung der Philosophie durch die Emigration ermitteln, so darf man sich vor allem nicht auf die (deutschen) Universitäten und Hochschulen beschränken. Zu berücksichtigen sind erstens auch die Universitäten in Österreich, dessen "Anschluß" 1938 erfolgt ist und die deutsche Universität in Prag, zweitens auch Philosophen wie Walter Benjamin, Herbert Marcuse, Arnold Metzger, Paul Oskar Kristeller u.a., deren Habilitation auch von den Nazis verhindert wurde, die also vor ihrer Emigration kein akademisches Lehramt bekleidet hatten, drittens auch der außer-universitäre Raum, d.h. die Grenzbereiche zwischen Philosophie und freiem Schriftstellertum, Parteiarbeit u.a., in denen damals Ernst Bloch und Georg Lukács noch ebenso angesiedelt waren, wie Siegfried Kracauer oder Günther Anders.

Wertet man die bisher vollständigste Dokumentation, das von W.Röder und H-A.Strauß herausgegebenen "Bibliographische Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933"(2) aus, so kommt man auf eine Zahl von 85 bis 90 Emigranten der Philosophie. Zählt man auch alle diejenigen dazu, die noch vor ihrer Promotion mit ihren Eltern emigriert sind, und erst im Gastland studiert oder das Studium beendet und ihre wissenschaftliche Karriere begonnen haben(3), so kommt man auf eine Gesamtzahl von 115 bis 120. Dabei sind die Grenzen der Philosophie sehr eng gesteckt. Übergänge zur Politologie (Arnold Bergstraesser, Ernst Fraenkel, Ossip K.Flechtheim, Erich Voegelin), zur Psychologie (Sigmund Freud, Wilhelm Reich), zur Soziologie (Rend König) etc. sind bewußt ausgeklammert.

Neben dieser Zahl nimmt sich die Zahl von ca. 20 zurückkehrenden Philosophen sehr bescheiden aus. Es handelt sich um Theodor W .Adorno (1949 a.o. Prof. in Frankfurt), Jean Amdry (seit 1950 in Österreich), Günther Anders (seit 1950 in Österreich), Ernst Bloch (1949 Prof. in Leipzig), Henry Deku (1946 Lehrbeauftragter in München), August Gallinger (1947 Prof. in München), Hans Ehrenberg (vor dem Krieg a.o.Prof. in Heidelberg, nach der Rückkehr 1947 in der westfälischen Volksmission tätig), Ernst H.Fischer (1956 Prof. in München), Max Horkheimer (1949 Prof. in Frankfurt), Leo Kofler (1947 Prof. in Halle, 1952 Übersiedlung nach Köln), Julius Kraft (1957 zurückgekehrt, 1957-1960 Herausgeber von "Ratio"), Helmut Kühn (1948 o. Prof. in Erlangen, ab 1953 in München), Arthur Liebert (1946 o.Prof. in Ost-Berlin), Karl Löwith (1952 o.Prof. in Heidelberg), Georg Mende (1949 Dozent, 1951 Prof. in Halle/DDR), Arnold Metzger (1950 zurückgekehrt, 1952 Honorarprof. in München), Georg Misch (1946 zurückgekehrt und emeritiert in Göttingen), Helmuth Plessner (1951 o.Prof. in Göttingen), Ulrich Sonnemann (1955 zurückgekehrt, 1974 Honorarprof. für Sozialphilosophie an der Gesamthochschule in Kassel). Der Ästhetiker Emil Utitz, bis 1938 o.Prof an der deutschen Universität in Prag, später auf der Flucht, lebt nach dem Krieg zurückgezogen in Prag und stirbt, ohne eine Lehrtätigkeit in Deutschland aufgenommen zu haben, 1956 in Jena.

Als Ausnahmen wären Werner Marx zu nennen, der 1933 als 23-Jähriger emigriert ist, sein Studium in Amerika absolviert hat und erst 1964 zurückkehrt, als er auf den Lehrstuhl von Husserl und Heidegger nach Freiburg berufen wird. Ludwig Marcuse siedelt nach verschiedenen Gastvorlesungen endgültig erst nach seiner Emeritierung 1963 nach Deutschland über. Alfred Sohn-Rethel kehrt erst nach dem Erscheinen von "Warenform und Denkform"(1970) England den Rücken und nimmt, noch als 71-Jähriger, eine Gastprofessur in Bremen an.

II
Angesichts des schlechten Verhältnisses von 85/90 bzw. 115/120 emigrierten zu den genannten ca. 20 zurückgekehrten Philosophen, stellt sich die Frage, was so viele davon abgehalten hat, nach 1945 nach Deutschland zurückzukehren. Es sind vor allem vier Gründe zu nennen, denen sich jeweils auch mehr oder weniger bestimmte Personengruppen zuordnen lassen. Zunächst sind viele auf der Flucht vor den Nazis, also während der Emigration gestorben oder haben Selbstmord verübt. Theodor Lessing wird schon 1933 in der C.S.R. von den Nazis ermordet. Moritz Geiger stirbt 1937, Heinrich Gomperz 1942, Ernst Cassirer(4) 1945, der Münchner Richard Hönigswald 1947, alle in den Vereinigten Staaten. Ernst v.Aster, nach seiner Emigration 1936 Prof.an der Universität in Istanbul, stirbt 1948. Otto Neurath, der Sozialist unter den Wiener Empiristen, stirbt nach seiner Internierung auf der Isle of Man 1945 in Oxford. Lazar Gulkowitsch, a.o.Prof. für jüdische Religionsphilosophie in Leipzig, emigiert 1934 nach Estonia (UdSSR), wird dort von den Deutschen eingeholt und 1941 erschossen. Walter Benjamin nimmt sich 1940 auf der Flucht vor den in Frankreich einfallenden Nazis auf dem Weg über die Pyrenäen das Leben.

Ein zweiter Grund besteht darin, daß sich viele Emigranten in ihren Gastländern integrieren, ihre wissenschaftliche Karriere fortsetzen und Lehrstühle besetzen können. In England und Amerika erlauben die Traditionen der analytischen Philosophie, des Pragmatismus und Behaviourismus insbesondere den Mitgliedern des Wiener und Berliner Kreises in die laufenden Diskussionen einzugreifen und sie zunehmend zu bestimmen. Auf diese Weise eröffnen sich in der Emigration Karrieren, von denen in Mitteleuropa nicht einmal zu träumen war. Herbert Feigl wanderte aus diesem Grund schon 1930 in die Vereinigten Staaten aus(5) . Rudolph Carnap, bereits vor seiner Emigration a.o.Prof. in Wien und Prag, erhält sofort einen Lehrstuhl in Chicago (1936-1952), später auch in Harvard und Princeton/N.Y. Der jüngere C.G.Hempel übernimmt 1948 einen Lehrstuhl an der Yale-, 1954 an der Columbia-University. Der Wiener Gymnasiallehrer K.R.Popper wird 1937 in Neuseeland Universitätsprofessor(6), ab 1946 lehrt er an der London School of Economics and political Science.

Es sind aber nicht nur Neopositivisten, die es während ihrer Emigration zu philosophischem Weltruhm bringen. Zu den Erfolgreichen zählen auch Hannah Arendt und einige ehemalige Mitarbeiter des als ganze Institution emigrierten Frankfurter Instituts für Sozialforschung. So Erich Fromm, der seit 1950 an der National University in Mexiko lehrt. Karl August Wittfogel gewinnt die University of Washington (Seattle) und die Columbia-University N.Y. als Träger für seine Erforschung der asiatischen Produktionsweise. (Seit Stalins Pakt mit Hitler bekämpft er den realen Sozialismus, kollaboriert mit dem McCarthy-Ausschuß und denunziert ehemalige Mitarbeiter des Instituts.) Zu nennen wären auch Herbert Marcuse und Leo Löwenthal.

Ein dritter Grund für den Verzicht, nach Deutschland zurückzukehren, bilden die Erfahrungen der Verfolgung, der Konzentrationslager und des Völkermords (sowie die Rückkehr ehemaliger Nazis in einflußreiche öffentliche Ämter der BRD).

So verliert die ganze Tradition der jüdischen Philosophie in Deutschland ihre Heimat. Sie hatte im Frankfurter "Freien Jüdischen Lehrhaus", das 1920 von Franz Rosenzweig, Martin Buber, Gershom Schalem u.a. gegründet worden ist, eines ihrer Zentren. Martin Buber bekleidet nach semer Emigration seit 1938 eine Professur für Sozialphilosophie in Jerusalem. Isaak Heinemann, Julius Guttmann u.a. emigrieren wie er ins damalige Palästina. Alexander Altmann, Nahum Norbert Glatzer, Eugen Kulimann u.a. bevorzugen das Gastland Nordamerika.

Ein vierter Grund schließlich ist das restaurative geistige Klima innerhalb der Westzonen nach 1945, die Fortsetzung bzw. Wiederkehr autoritärer Ideologien und politischer Ressentiments. Der religiöse Sozialist Paul Tillich bleibt trotz verschiedener Gastvorlesungen in Marburg, Frankfurt und Berlin in den Vereinigten Staaten, deren "unwiderstehliche Kraft der Assimilation" er den engen autoritären Strukturen Nachkriegsdeutschlands vorzieht(7). Ebenso Siegfried Kracauer. Auf den Brief eines Freundes, der ihm nach einer Reise durch die Bundesrepublik berichtet, daß die alten Nationalsozialisten und Opportunisten dort wieder den Ton bestimmten und er deshalb im Exil bleibe, antwortet er (1950): "Uns selber käme es niemals in den Sinn, nach Deutschland zurückzukehren. (...) die Luft ist dort noch auf lange, lange hinaus verpestet, man weiß nicht, wem man die Hand gibt und zuletzt, wir haben ja in den siebzehn Jahren nach unserem Weggang weiter gelebt und gelernt, und es hieße, dieses ganze neue Leben verleugnen und zunichte machen, wollte man sich wieder unter die Spukgestalten von damals mischen". Karl Jaspers, der 1945 aus der "inneren Emigration" an die Heidelberger Universität zurückgekehrt ist, siedelt 1947, auch aus Enttäuschung über die Kontinuität des Rassismus und Nationalismus über das "Dritte Reich" hinaus in die Schweiz über. Von dort aus verfolgt mit wachsendem Argwohn das politische Treiben der Bundesrepublik.

Schwer zu ermitteln ist die Zahl denjenigen, die trotz allem gerne nach Deutschland zurückgekehrt wären, für die aber an den deutschen Universitäten mit ihrer ausgeprägten und restaurierten Mandarinenwirtschaft kein Platz war. Herbert Marcuses Universitätslaufbahn in den Vereinigten Staaten beginnt erst 1952, nachdem sich seine Hoffnung auf eine Rückkehr nach Frankfurt zerschlagen haben. Wer weiß, für wie viele andere das Schicksal des Sozialwissenschaftlers Hans Heinrich Gerths repräsentativ ist, der bis 1933 dem Kreis um Karl Mannheim angehört hat. Wäre er zurückgekommen, wenn er ein Angebot erhalten hätte? "Wahrscheinlich. Damals hatte ich ... eigentlich immer gedacht, daß ich nach dem Kriege zurückgehen würde. Ja, doch, ich habe das sehr lange gehofft. Bin auch nach Frankfurt gegangen, aber die wollten mich nicht. Berühmt geworden war ich nicht; mit alten Lehrern konnte ich nicht sprechen, die waren alle tot. Also bin ich wieder gegangen ..."(9)

Selbst denjenigen, die die Hürden der Rückkehr genommen haben, blieb eine glanzvolle Karriere zumeist versperrt. Während die gutdotierten, einflußreichen Stellen mit hastig Entnazifizierten oder solchen (wie Heinrich Lützeler, Max Müller u.a.), die die althergebrachten akademischen Riten nicht in Frage stellten, schnell wieder besetzt waren, blieben die zurückgekehrten Antifaschisten oft nur Randexistenzen im universitären Betrieb. Sogar ein Mann wie Theodor W. Adorno mußte trotz Beziehungen und moralischem Wiedergutmachungs-Druck sieben Jahre warten, bis er 1956 endlich zum ordentlichen Professor ernannt wurde.

III

Schon bald nach 1945 sind die Hoffnungen auf einen wirklichen Neubeginn verflogen. Es rächte sich, daß die Kraft, zur Befreiung vom Faschismus nicht vom Volk (wie in Italien), sondern von außen, von den Siegermächten gekommen ist. Und diese Kraft versiegt in dem Maße, in dem die Koalition der westlichen Demokratien mit der Sowjetunion zerfällt und die Westintegration der amerikanisch-, britisch- und französisch-besetzten Zonen (mit Weichenstellung für die Gründung der Nato und die spätere Remilitarisierung) vollzogen wird. 1947 bereits beginnt der Kalte Krieg. Und an die Stelle des gemeinsamen, west-östlichen Antifaschismus tritt nun der Antikommunismus. Der "Kreuzzug" gegen den Bolschewismus, das Hauptmotiv der Nazipropaganda wird wieder aufgenommen, auch wenn es durch die "feinere" Spielart des Antitotalitarismus ersetzt und getarnt wird. Mit der ideologischen Gleichsetzung von Faschismus und Kommunismus geht die faktische Aussöhnung mit den alten Mächten einher.

Karl Jaspers' Rückkehr an die Öffentlichkeit im April 1945(10) , sein Engagement für die Wiedereröffnung der Heidelberger Universität wirft ein Schlaglicht nicht nur auf deren desolaten Zustand, sondern auch auf das Dilemma der Entnazifizierung. Mit dem SS-Mann P.Schmitthenner als Rektor, dem Nazi E.Fehrle als Prorektor und dem Begründer der "völkisch-politischen Erziehungswissenschaft" Ernst Krieck als Senator an der Spitze hatte Heidelberg den Ruf einer Muster-Universität der NSDAP genossen. 1945 wird sie von den Amerikanern geschlossen. Um die Universität mit einem "unbelasteten" Lehrkörper wieder eröffnen zu können, werden Gutachten über die Dozenten der geisteswissenschaftlichen Fakultäten verfaßt. Jaspers, in einem Ausschuß tätig, dem auch G.Radbruch,

A.Weber, A.Mitscherlich u.a. angehören, schlägt vor, alle Professoren aus dem Lehramt auszuscheiden, die "1. in ihrem dienstlichen oder außerdienstlichen Verhalten gegen die Würde des Amtes sich vergangen haben, 2. ihre wissenschaftlichen Zielsetzungen, Methoden oder Ergebnisse den Parteilehren zuliebe verbogen haben, 3. ihren Parteieinfluß benutzt haben, um Kollegen oder Schüler zu verdrängen oder zu schädigen".(11) Unter Maßgabe dieser Kriterien bleiben innerhalb der gesamten Universität ganze 22 Dozenten übrig, davon ein Großteil Professoren, die schon 1933 oder in den folgenden Jahren abgesetzt worden sind.

Radikale Entnazifizierung und Wiedereröffnung der Universität schließen sich also wechselseitig aus. Es mangelt an "unbelastetem" Lehrpersonal und so beginnen die Zugeständnisse und Kompromisse. Hans-Georg Gadamer, seit 1947 Nachfolger auf Jaspers' Lehrstuhl, bestätigt diese Tendenz zu vorschneller Aussöhnung. Die Wiedereinstellung "formaler" Parteigenossen (Pg's), zu der die Besatzungsmacht ihre Zustimmung geben mußte, waren "weniger von Erwägungen der Gerechtigkeit als des augenblicklichen Bedarfs geleitet" (12). Ein ähnliches Bild bietet die Kölner Universität. Der katholische Philosoph Johannes Hessen, der nach erzwungener "inneren Emigration" jahrelang vergeblich um seine Anerkennung als Opfer des Nationalsozialismus und seine Rehabilitierung kämpfen mußte, bezeichnet die politische Richtung der Universität 1947 mit klaren Worten als "Begünstigung der Nazis und schnöde Behandlung der Naziopfer"(13) .

Max Horkheimer, auf seiner ersten Europareise nach dem Krieg in Frankfurt als Zeuge der Entnazifizierungsverhandlung gegen den Nazi-Rektor Platzhoff vorgeladen, berichtet seiner Frau Maidon am 20.6.1948 brieflich: "Der Vorsitzende des Gerichts hat an mich geschrieben, er habe von meinem Hiersein gehört und bäte mich, doch vorbei zu kommen und ihm in der Sache zu helfen. Ich werde mir aber noch schwer überlegen, ob ich als einziger echter Belastungszeuge mich mit der Universität verfeinden soll". Und mit einer für den politisch-denkenden Philosophiemanager typischen Wendung fährt er fort: "Von solchen Dingen hat man Ehre aber keinen Nutzen. Es gibt sicher viele, die genau solche Schweine waren wie Herr Platzhoff und längst wieder die deutsche Jugend erziehen."

In seinem Referat "Die Lehren des Faschismus", gehalten 1948 auf einem Kongreß der UNESCO in Paris, führt Horkheimer über die deutschen Zustände folgendes aus: "Auch wenn den obersten Verbrechern der Prozeß gemacht wurde, wenn sie verurteilt und in einigen Fällen hingerichtet wurden, ist die Mehrheit der Deutschen, die mit dem Nationalsozialismus sympathisierte, heute besser daran, als jene, die sich vom Faschismus fernhielten." Die Institutionalisierung der Entnazifizierung hatte das Gegenteil dessen erreicht, was sie eigentlich erreichen sollte. "Wer Kontakte zu Nazis hatte, konnte sein Entnazifizierungsverfahren beschleunigen, eine Strafe von einigen tausend wertlosen Mark bezahlen und prompt seine alte Stellung wieder einnehmen."(14) Das gleiche läßt sich auch über den Bereich der Philosophie sagen. Alfred Rosenberg, mit seinem "Mythus des 20Jahrhunderts" einer der offiziellen Philosophen des deutschen Faschismus, wurde 1946 vom Nürnberger Gericht verurteilt und hingerichtet. Ernst Krieck starb 1947 im Internierungslager Moosburg. Einige weitere, wie Hans Alfred Grunsky oder der Organisator der Bücherverbrennungen Alfred Bäumler, wurden von der Universität entfernt(15). Das Gros der Nazi-Philosophen und Mitläufer wie Glockner, Gehlen, Rothacker, Heimsöth, Spranger, Schilling u.a. jedoch kann seine Lehrtätigkeit nach (wenn überhaupt) kurzer Entnazifizierung ungehindert fortsetzen. Heidegger wird von den französischen Besatzungsbehörden mit einem Lehrverbot bis 1951 belegt, nach dessen Ablauf er trotz Emeritierung (1952) noch bis 1958 als akademischer Lehrer tätig ist. Seine Entfernung aus der Universität verhindert aber nicht, daß er durch seine Schüler sowie durch aufsehenerregende Vortragsreisen im philosophischen Leben durchgängig präsent bleibt.

Im Gegensatz zum Westen wird die Entnazifizierung in der sowjetisch-besetzten Zone mit Schärfe und Konsequenz durchgezogen. Das zeigt sich auch im Bereich der Philosophie. Gadamer, bis 1946 Rektor der Universität Leipzig, bezeugt, daß laut Kontrollratsgesetz alle Pg's entlassen wurden, sogar, wie er ohne Verständnis für diese Maßnahme hinzufügt, "ganz 'formale'". Und er beklagt sich, daß "ein wesentlicher Teil" seiner Amtstätigkeit darin bestanden habe, "in Ost und West und Übersee nach sozialistisch gesinnten Forschern Ausschau zu halten, mit denen man die Lücken stopfen konnte, ohne das Niveau zu gefährden"(16). Man beachte die Formulierung: die Einladung von sozialistischen Forschern, in erster Linie wohl die Einladung antifaschistischer Emigranten zur Rückkehr, wird als "Lückenstopfen" bezeichnet. Als ein solcher Lückenstopfer kommt 1949 z.B. Ernst Bloch nach Leipzig. Seine Berufung wird von dem Romanisten Werner Krauss(17) betrieben . Bloch kommt um so lieber, als die innenpolitische Situation in Amerika durch die Kommunistenjagd des "Komitees gegen unamerikanische Aktivitäten" für ihn immer unerträglicher geworden ist.

In den Westzonen, wie etwa an der Universität in Tübingen, hatte man mit solchem "Lückenstopfen" keine Probleme. Hier entwickelte die Universität eine besondere Taktik, um die Kontinuität des belasteten Lehrpersonals über 1945 hinaus zu bewahren. Die Stellen der von der französischen Militärregierung aus dem Staatsdienst Entlassenen werden einfach vakant gehalten, Kontakte zu Emigranten erst gar nicht aufgenommen. Trotz nachhaltigem politischen Druck bleiben die Lehrstühle unbesetzt. Zweieinhalb Jahre zieht sich der Kampf zwischen den Reformern im Ministerium und den beharrenden Kräften in der Universität hin, bis die Vorordnung Nr. 133 der französischen Militärregierung in Kraft tritt, die auch Pg's, gegen die keine Sühnemaßnahmen verhängt worden sind, das Recht zuerkennt, sich um alle öffentlichen und privaten Posten zu bewerben. Die Verzögerungstaktik hatte sich, wie Walter Jens den von ihm berichteten Vorgang kommentiert, für alle Betroffenen ausbezahlt (18).

Ergänzt und unterstützt wird die Institutspolitik, die so oder ähnlich auch an anderen Universitäten betrieben worden ist, durch den persönlichen Einsatz von Nazi-Philosophen, die selbst bereits wieder Fuß gefaßt haben, für ihre ehemaligen Parteigenossen. Solches Engagement bezeugt der Emigrant Rene König (selbst von Anbiederung an den Nationalsozialismus nicht ganz frei) seinem Kollegen Helmut Schelsky, der die Berufung Gehlens nach Heidelberg wie auch die Berufung Hans Freyers u.a. nachhaltig befördert(19). So eng waren die Reihen bald wieder geschlossen, daß gegen Hans Heinz Holz (der wegen seines politischen Widerstands lange Zeit im KZ verbracht hatte) ein Schreibverbot verhängt wurde, was praktisch ein jahrelanges Berufsverbot zur Folge hatte, weil er 1947 im "Philosophischen Literaturanzeiger" eine kritische Rezension von Freyers "Weltgeschichte Europas" erscheinen ließ(20).

Mit der Westintegration der Westzonen bzw. der BRD, mit der Gründung der NATO und dem Beginn des Kalten Krieges verläuft die Entnazifizierung entgültig im Sande. Sie leitet mit der Vergabe von "Persilscheinen" de facto in eine Re-Nazifizierung über, wobei die autoritären Strukturen nicht mehr im Dienst des deutschen Nationalismus, sondern des "american way of live" gestellt werden. Bis 1949 galten Emigranten und Antifaschisten nicht selten noch als "Aushängeschilder", ab 1950 dagegen war nach dem Urteil Wolfgang Abendroths die Restauration auf der Ebene der Universitäten wesentlich abgeschlossen. Als "linker" Flügel innerhalb der Professorenschaft galten jene, "die sich im Dritten Reich nur teilweise angepaßt oder totgestellt hatten"(21). Im Bereich der Philosophie zählten dazu vor allem Jaspers und Gadamer, innerhalb der Soziologie A.Weber.

Im Mai 1951 wird ein (auch von der SPD gebilligtes) Gesetz zu GG Art.131 verabschiedet, das die Versorgungsansprüche "belasteter" Personen anerkennt und Alt-Nazis die Möglichkeit eröffnet, wieder ins Beamtenverhältnis bzw. in den öffentlichen Dienst einzutreten. De facto wird ihnen sogar der Vorzug gegeben. Dieses Gesetz führt dazu, daß A.Bäumler, HA.Grunsky, W.M.Schering (der Autor einer "Wehrphilosophie", Leipzig 1939) u.a. in den Genuß satter Pensionen gelangen. Johannes Hessen dagegen, dem 1940 die venia legendi entzogen und der durch Publikations- und Redeverbot aus dem wissenschaftlichen Leben gedrängt wurde, kämpft bis 1954 um Wiedergutmachung, d.h. um beamtenrechtliche Einweisung in eine Planstelle und damit Sicherung seiner Altersversorgung(22).

Zur gleichen Zeit sorgt das 1952 verabschiedete "Treuepflichtgesetz" dafür, daß "Außenseiter" der restaurativen bundesrepublikanischen Gesellschaft, also z.B. Antifaschisten wie die Mitglieder der "Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes" mit Berufsverboten belegt werden. Die schlimmste Belastung, schreibt Abendroth, die man in den 50er Jahren an der Universität und unter Intellektuellen mit sich herumtragen konnte, war die, gegen den Faschismus gekämpft zu haben. "Es wurde heimgezahlt, daß die wenigen Antifaschisten in der gerade vergangenen Zeit als Aushängeschilder gegenüber den Besatzungsmächten und als 'Persilscheinschreiber' im Entnazifizierungsverfahren benutzt werden mußten."(23) Damit ergab sich vor und nach 1945 über weite Strecken hinweg eine personelle Kontinuität, nicht nur der Täter, sondern auch der Opfer.

IV

H.M.Baumgartner stellt die (west-)deutsche Philosophie nach dem zweiten Weltkrieg als "Wiederanknüpfung an die Philosophie der 20er Jahre und an ältere Traditionen" dar(24). In dieser Darstellung wird erstens verschwiegen, daß Existenzphilosophie, Anthropologie, Phänomenologie und Ontologie als die vier Hauptrichtungen der Nachkriegsphilosophie in Heidegger, Gehlen, Bollnow, Hartmann u.a. auch im "Dritten Reich" ihre Tradition haben. Zweitens wird verschwiegen, daß beim Wiederanknüpfen an die Philosophie der 20er Jahre bedeutende Richtungen auch von der Bildfläche verschwunden sind: nicht nur der Neopositivismus und die jüdische Philosophie, sondern auch die gesamte marxistische Philosophie. Der naive Versuch, der Philosophie eine über das Loch nationalsozialistischer "Schreckensherrschaft" hinweg existierende Integrität zu bescheinigen, schlägt um in ihre schärfste Anklage. Eine Philosophie, die nach Auschwitz und Stalingrad umstandslos zur Tagesordnung zurückkehrt, richtet sich selbst. Sie wird zur musealen Angelegenheit, ohne Bezug zur Gegenwart. An diesem Bild ändert sich auch durch die Rückkehr der Philosophie aus der Emigration zunächst nichts Wesentliches.

Infolge der Aufteilung Deutschlands durch die Siegermächte muß zunächst zwischen einer Rückkehr in den Osten und in den Westen unterscheiden werden. Block und Kofler, deren Antifaschismus marxistisch, d.h. antikapitalistisch begründet ist, kehren in den sozialistischen Teil Deutschlands zurück. Ebenso Georg Mende (1933 in die C.S.R. emigriert, illegal zurückgekehrt und von der Gestapo verhaftet), der 1951 Prof. in Halle, 1953 in Jena wird(25). Der aus der Cohen-Schule stammende, humanistisch gesonnene Neukantianer Arthur Lieben bekleidet nach seiner Emigration 1933-1939 einen Lehrstuhl in Belgrad, von wo aus er (in der Zeitschrift "Philosophia") Propaganda gegen den Nazismus betreibt. 1939 flieht er weiter nach England, 1946 wird er ordentlicher Professor in Ost-Berlin, wo er noch im gleichen Jahr stirbt. Georg Lukács, der 1933 als einziger Philosoph nach Moskau emigriert, übernimmt nach der Befreiung eine Professur für Philosophie und Ästhetik in Budapest. Er ist im Nachkriegsdeutschland nur noch durch seine Werke(26) und durch gelegentliche Vorträge vertreten.

Im Osten bilden die zurückkehrenden Emigranten (neben den Philosophen auch der Kreis um Brecht, Eisler, Seghers u.a.) eine relativ einheitliche, am Marxismus orientierte Gruppe. Sie wird zur dominanten kulturellen Kraft des neuen Staates. Anders im Westen. Hier sind die Zurückkehrenden in ihren philosophischen Ansätzen wie ihren politischen Überzeugungen stark voneinander unterschieden. Sie bleiben zumeist vereinzelt und ordnen sich unauffällig in den bestehenden Universitätsbetrieb ein. Henry Deku (geb. 1909, Emigration 1936 nach einem Aufenthalt im KZ Buchenwald) kommt mit den Amerikanern nach Deutschland zurück. Eine Zeitlang spielt er eine wichtige Rolle als Verbindungsmann zwischen der Münchner Universität und der amerikanischer Militärregierung. Akademisch aber bleibt er bis kurz vor seiner Emeritierung bloßer Lehrbeauftragter. Arnold Metzger, in den 20er Jahren Assistent bei Husserl erhält 1952 eine Honorarprofessur in München. Seine späten Werke (27) kreisen um das Thema menschliche Existenz und Zivilisations-Entfremdung. Georg Misch kehrt 1946 auf seinen Göttinger Lehrstuhl zurück und wird sofort emeritiert. Auf die Entwicklung der Nachkriegsphilosophie hat er keinen Einfluß mehr. Sein Hauptwerk "Geschichte der Autobiographie" (3 Bd. 1907-1962) basiert philosophisch auf Lotze und Dilthey. Ernst Hugo Fischer, eine "'linker' Präfaschist" (Lukács), gehörte zum konservativ-revolutionären Kreis um Ernst Jünger und gab bis 1934 die "Blätter für deutsche Philosophie" heraus. Er hat den Weg des Nationalsozialismus, zu dessen ideologischen Vorbereitern erzählt, selbst nicht beschriften. 1938 ist er nach Norwegen, 1939/40 nach England emigriert. Nach einer Gastprofessur in Benares (Indien) lehrt er seit 1956 in München eine auf Plotin gestützte Kultur- und Zivilisationsphilosophie(28) .

Als freie Schriftsteller arbeiten Jean Amery und Günther Anden. Beide nehmen nach den Krieg die österreichische Staatsbürgerschaft an, beide tragen durch ihre Arbeiten zur Entwicklung eines demokratischen Bewußtseins bei. Am6ry, der in der belgischen Resistance mitgearbeitet hat und in verschiedenen Konzentrationslagern inhaftiert gewesen ist, philosophiert in der Nachfolge J.P.Sartres. Im Gegensatz zur offiziellen, ganz auf das einsame Individuum begrenzten Rezeption Sartres (Bollnow u.a.) verliert Am6rys Existentialismus nie seine ausgeprägte politische Dimension. Günther Anders hat sich als Mit-Initiator der Anti-Atomwaffen-Bewegung, später der Friedensbewegung einen Namen gemacht. Als Richter im Russell-Tribunal verurteilt er den amerikanische Krieg in Vietnam.

Helmut Kühn, 1948 o.Prof. in Erlangen, 1953 in München, bekleidet zwischen 1960 und 1970 das Amt des Rektors an der Münchner "Hochschule für Politik". Wie die (ebenfalls aus der Emigration zurückgekehrten) Politologen Eric Voegelin, der seit 1959 das Geschwister-Scholl-Institut in München aufbaut und Arnold Bergstraesser, der Begründer der "Freiburger Schule", steht Kühn im Dienst der "reeducation". Traditionen der antiken, griechischen Philosophie und ein (katholisch-)christliches Seinsverständnis verbinden sich mit dem Geist der amerikanischen Demokratie. Sie treffen sich mit "inneren Emigranten" wie Jaspers (vgl. seinen Auftritt bei den ersten Recontres Internationales in Genf 1946 oder auf dem Berliner reeducation-Kongreß "Über Gefahren und Chancen der Freiheit", 1950) und solchen, die das "Dritte Reich" mitgetragen haben(29) auf einer "amerikanischen Linie". In ihrer weiteren Entwicklung verschmelzen sie zu einem (wenn auch in sich sehr heterogenen) konservativen Block.

Helmut Plessner hat als Jude 1933 sein philosophisches Lehramt in Köln verlassen müssen. 1934 ist er in die Niederlande ausgewandert, wo er auf einem Stiftungslehrstuhl die erste Soziologieprofessur an einer holländischen Staatsuniversität innehatte. Die deutsche Invasion überlebte er im Untergrund. 1951 kehrt er an die Universität in Göttingen zurück. Seine Anthropologie der Sinne wie seine systematische Theorie der Modi organischer Materialität eröffnen die Möglichkeit einer naturalistisch-materialistischen Interpretation des geistigen Seins(30) . Während der 50er Jahre bleibt seine Philosophie weitgehend unbeachtet und ganz im Schatten seines faschistischen Gegenspielers Gehlen.

Eine ganz auf dem Rahmen fallende Erscheinung ist der (auf Betreiben Gadamers) 1953 nach Heidelberg zurückgekehrte Karl Löwith. Einerseits steht Löwith ganz in der Tradition des Irrationalismus. Er hat als Privatdozent seit 1928 in Marburg wiederholt über Nietzsche gelesen, auf dem Prager Kongreß (1934) Nietzsche als den "Philosophen der Zeit" vorgestellt und 1935 die "Ewige Wiederkehr des Gleichen" als den Kern der Nietzscheschen Philosophie herausgearbeitet. Andererseits aber hat Löwith sehr klar auch den Weg gesehen, der vom Irrationalismus zu den heroischen Phrasen Hitlers und Goebbels' führen. Nietzsche ist für ihn "ein Kompendium der deutschen Widervernunft" und wenn Nietzsche selbst auch ein Abgrund von seinen faschistischen Verkündern trennt, so hat er ihnen "doch ... den Weg bereitet, den er selbst nicht ging"(31).

Es sind vor allem zwei Dinge, die Löwith aus der Masse der restaurativen Philosophen heraushebt. Erstens stilisiert er das "Dritte Reich" nicht zur metaphysischen "Katastrophe" und zum "Einbruch des Bösen", sondern begreift es politisch als Versuch des deutschen Imperialismus, im nachhinein doch noch "den verlorenen Krieg zu gewinnen", bzw. soziologisch als "Aufstand des proletarisierten Mittelstands". Der Faschismus steht für ihn nicht jenseits des Kapitalismus, er ist "nicht das Ende der bürgerlichen Epoche, sondern deren Verpöbelung"(32) . Zweitens ist Löwith kein Anti-Marxist. Zwar setzt er in seinem während des japanischen Exils entstandenen Hauptwerk "Von Hegel zu Nietzsche" die rechten und die Unken Kritiker Hegels gleich und behandelt Kierkegaard und Marx als die zwei (gleichrangigen) Seiten einer gemeinsamen Destruktion der bürgerlich-christlichen Welt. Innerhalb dieses Interpretationsrahmens aber verliert Marx Aufhebung der Philosophie in revolutionäre Praxis für ihn niemals an Faszination.

Von den Emigranten, die in den Westen zurückkehren, sind Horkheimer und Adorno die einzigen Philosophen, die den Faschismus wirklich erforscht und als den Endpunkt der "Dialektik der Aufklärung" dargestellt haben. In seiner Frühzeit hatte das "Institut für Sozialforschung" enge Verbindung zur Arbeiterbewegung. Wie Lukács, Bloch u.a. sind Horkheimer und Adorno auch nicht nur wegen ihres Judentums, sondern auch wegen der marxistischen Ausrichtung ihrer Philosophie aus Deutschland geflohen. Mit ihren Ideologie- und gesellschaftskritischen Aufsätzen aus den 30er Jahren gehören sie zur Avantgarde des westlichen Marxismus. Seit ihrer Rückkehr allerdings, bedingt auch durch die Enttäuschung über die stalinistisch gewordene Sowjetunion, mehren sich die Zeichen der Anpassung an das restaurative geistige Klima Westdeutschlands(33). Auf seine treffende Aussage "Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen" aus dem Jahr 1939 jedenfalls kommt Horkheimer nach 1949 nicht mehr zurück.

Praktisch-politisch zeichnet sich die Anpassung der "Frankfurter" bereits in der Distanzierung von den vom McCarthy-Ausschuß verfolgten Kommunisten Brecht und Eisler ab. Gründete Thomas Mann ein Hilfskomitee, um dem verfolgten Eisler die Ausreise aus den USA zu ermöglichen, kündigte Adorno seine Mit-Autorschaft an der gemeinsamen Abhandlung "Komposition für den Film" auf. Er wollte sich nicht kompromittieren. Scharfe Abgrenzungen gegenüber Bloch und Lukács folgten später. Im Gegensatz selbst zu Marcuse, der trotz Vorbehalten die kommunistischen Parteien als wichtigste antifaschistische Macht ansieht, lehnen Horkheimer und Adorno nun jede Organisation als Mittel zur Erkämpfung einer besseren Gesellschaft ab. Stattdessen setzen sie auf den Einzelnen, den Nonkonformisten und Kritiker.

Während der 50er Jahre nehmen Horkheimer und Adorno teil an der allgemeinen Tabuisierung der nationalsozialistischen Vergangenheit der deutschen Philosophie. Diese Tabuisierung geht so weit, daß sie sich sogar der Aufnahme Alexander Mitscherlichs ins Institut widersetzen, der als Mit-Herausgeber der Dokumentation "Wissenschaft ohne Menschlichkeit" die Anpassung der Medizin und Psychiatrie im "Dritten Reich" angeprangert und sich dadurch bei seinen Fachkollegen verhaßt gemacht hat. Von hier aus geht ein direkter Weg zu Horkheimers Kritik an der algerischen Befreiungsbewegung in den 50er und seiner Ablehnung der Kritik am amerikanischen Krieg ia Vietnam in den 60er Jahren.

Philosophisch zeichnet sich die Anpassung in der zunehmenden Preisgabe des Marxismus als Grundlage ihrer Gesellschaftskritik ab. Bezeichnend für die Veränderung ihrer philosophischen Position ist schon die Veränderung der Terminologie. In der zweiten Auflage der "Dialektik der Aufklärung", mit der sie sich ihrem deutschen Publikum 1948 empfehlen, ist gegenüber der ersten Auflage (unter dem Titel "Philosophische Fragmente", 1944) aus dem "Kapitalismus" "das Bestehende" geworden, aus "Kapital" "Wirtschaftssystem", aus "kapitalistischen Aussaugern" "Industrieritter", aus "Klassengesellschaft" "Herrschaft" oder "Ordnung" etc.(34) Trotz allem bleiben Horkheimer und Adorno, wie sich Wiggershaus ausdrückt, die "kritische Zierde" der restaurativen Gesellschaft.

V

Angesichts der angeführten Fakten kann von einer Wende oder einem "Neubeginn" in der Philosophie nach 1945 kaum die Rede sein. Es war eine Zeit, die, wie D.Henrich treffend urteilt, "ganz verschieden" war "von der eines Aufbruchs zu neuen Lebensformen und Weltdeutungen, für die viele sie hielten"(35) . Das ist nicht die Schuld der zurückkehrenden Philosophen, sondern, trotz des politischen Zusammenbruchs, der weitgehenden Kontinuität der gesellschaftlichen Verhältnisse. Bis in die 60er Jahre hinein besitzen insbesondere die Existenzphilosophie und die neuscholastische Metaphysik die geistige Vorherrschaft an den Universitäten.

Auf die Kontinuität der gesellschaftlichen Verhältnisse und der ihr entsprechenden Philosophie ist es nicht nur zurückzuführen, daß eine Dokumentation der Nazi-Philosophie lange auf sich hat warten lassen, sondern auch, daß die philosophische Verarbeitung des Faschismus, die ausschließlich von Emigranten (wie Lukács, der Frankfurter Schule u.a.) geleistet wurde, in der offiziellen Philosophie kaum Spuren hinterlassen hat.

Wenn von heute aus rückblickend vielleicht doch von einem Einschnitt gesprochen werden kann, so deshalb, weil mit der personellen Rückkehr der genannten Philosophen die rezeptive Rückkehr der im Exil entstandenen Philosophie noch lange nicht abgeschlossen war. Die Bereitschaft, auch ihr ein Heimatrecht zu gewähren, wächst in dem Maße, als die Zeit der Restauration und des "Wirtschaftswunders" ihrem Ende entgegen gegangen sind und Krisen, Rezessionen u.a. die philosophia perennis aus ihrem Winterschlaf gerissen haben.

Ein erster Schub zurückkehrender Philosophie seit Beginn der 60er Jahre, zu einer Zeit also der relativen gesellschaftlichen Stabilisierung, beinhaltet insbesondere den Neopositivismus Carnaps und den kritischen Rationalismus Poppers samt der ganzen Diskussion, die sich inzwischen in der angelsächsischen Szene daran angeschlossen hat.

Ein zweiter Schub erfolgt seit 1968, also nach der ersten einschneidenden Wirtschaftskrise von 1966/67 im Verlauf der Studentenbewegung. Angeeignet werden nun die neomarxistischen Ansätze Lukács' und Blochs (der nach Konflikten mit der Stalinistischen Orthodoxie seit 1961 in Tübingen lehrt), die älteren, im Exil entstandenen Aufsätze Horkheimers, die Werke Marcuses und die Versuche, Freuds Psychoanalyse mit dem Marxismus zu synthetisieren (Erich Fromm, Wilhelm Reich) u.a. Wenn von einer philosophischen Aufarbeitung und Bewältigung des Faschismus die Rede sein kann, dann hier.

Ein dritter (wenn auch schwächer ausgeprägter) Schub erfolgt seit dem Ende der 70er Jahre. Ausgelöst wurde er (insbesondere seit der "Bonner Wende") teils durch das Erstarken der Friedensbewegung, teils durch die ökologische Debatte um die Grenzen des Wachstums, um die Folgen fortschreitender Naturzerstörung und die Problematik neuerer Technologien. Gegen den zunehmenden Irrationalismus der anti-aufklärerischen, konservativen Philosophie etablierte sich eine "Koalition der Vernunft", die zu einer Annäherung von Marxisten und Positivisten und einer Wiederentdeckung der materialistischen und (ethisch-begründeten) sozialistischen Tendenzen in der Frühphase des "Wiener Kreises" (Schlick, Neurath, Carnap u.a.) geführt hat. Gegen den verselbständigten Prozeß des Kapitalwachstums und seine Zerstörung menschlichen Lebensraumes bildete sich eine auf die Ehrfurcht vor Natur und Leben gegründete Ethik. Joseph Weizenbaum, der 1936 nach England, später nach Amerika emigrierte Computer-Wissenschaftler warnt nicht nur vor dem Einsatz künstlischer Intelligenz zu konservativen, reaktionären Zwecken, sondern prinzipiell vor dem "Imperialismus der instrumentellen Vernunft"(36). Erwin Chargaff, der 1933 nach Frankreich, 1934/35 ebenfalls nach Amerika emigrierte Chemiker klagt seit dem Ende der 70er Jahre die "Bastelsucht" der Biochemiker und die gentechnischen Eingriffe in die Schöpfungsordnung an(37) . Mit seinem "Prinzip Verantwortung"(38) ist heute Hans Jonas (1933 nach Palästina, 1949 nach Kanada, 1955 in die USA emigriert, seit 1963/64 Prof. für Philosophie in New York) einer der führenden Köpfe einer neuen Ethik für die technische Zivilisation.

Anmerkungen

1) Chr.v.Ferber: Die Entwicklung des Lehrkörpers der deutschen Universitäten und Hochschulen 1864-1954, Göttingen 1956, S.207.

2) München, New York, London, Paris 1984, Bd.2. Trotz seines Umfangs von ca. 1300 Seiten ist auch dieses Standard-Werk noch unvollständig. Aus den Bereich der Philosophie sind August Gallinger, Karl Korsch, Paul Tillich, Alfred Sohn-Rethel u.a. nicht berücksichtigt.

3) zu nennen wären Gerd Buchdahl (geb. 1914, Emigration 1933 nach England und Australien, Studium in Melbourne, lehrt später in Cambridge, Stanford, Texas u.a.), William Craig (geb. 1918, Emigration 1937 in die USA, seit 1961 Prof. für mathematische Logik und Wissenschaftsphilosophie an der University of California in Berkeley), Carl Heinz Hamburg (geb. 1915, Emigration 1933 nach Frankreich, 1938 in die USA, später Prof. für Philosophie in New Orleans), Peter Herbst (geb. 1919, Emigration 1933 nach England, 1940 nach Australien, 1962 Prof. für Philosophie in Oxford, in Canberra und 1974 in Vancouver), Eugene Kamenka (geb. 1928, Emigration 1937 nach Australien, dort Prof. für Philosophie, Gastprofessur in Moskau, später an der Columbia-University N.Y. u.v.a.

4) zu seinen Jahren der Emigration in England (ab 1933), in Schweden (ab 1935) und Amerika (ab 1941) vgl. Toni Cassiren Mein Leben mit Ernst Cassirer, Hildesheim 1981.

5) H. Feigl: The Wiener Kreis in America, in D.Reming/ B.Beily (Hrsg.): The Intellectual Migration, Cambridge (Mass.) 1968.

6) vgl. K-R.Popper: Ausgangspunkte. Meine intellektuelle Entwicklung, Hamburg 1979.

7) P.Tillich: Begegnungen, in: Gesammelte Werke Bd.12, Stuttgart 1971, S.76.

8) zitiert nach: Marbacher Magazin 47/1988: Siegfried Kracauer(1889-1966), bearbeitet von I.Belke und I.Renz, S.110.

9) Mathias Greffrath: Die Zerstörung einer Zukunft. Gespräche mit emigrierten Sozialwissenschaftlern, Reinbek 1979, S.60. Gerth, seit 1947 Prof. für Soziologie an der University of Wisconsin, kehrte erst 1971 an die Frankfurter Universität zurück, wo er 1975 emeritiert wurde.

10) Noch 1936 ist seine Einführung in Nietzsches Philosophie, 1937 sein Werk über Descartes, 1938 seine Einführung in die Existenzphilosophie in Deutschland erschienen. Daß ihm 1937 die Lehrerlaubnis entzogen und 1943 Publikationsverbot erteilt wurde, hatte keine philosophischen, weltanschaulichen, sondern private Gründe. Jaspers lebte mit seiner jüdischen Frau in einer sog. "privilegierten Mischehe".

11) K. Jaspers: Nachlaß, zitiert nach H.Saner Jaspers, Reinbek 1987, S.51.

12) H.-G.Gadamer Philosophische Lehrjahre. Eine Rückschau, Frankfurt/Main 1977, S.169.

13)  J. Hessen: Universitätsreform. Mit einem Anhang: Neonazismus an deutscher Universität? Düsseldorf-München-Hamburg 1953, S.19.

14) zitiert bei R.Wiggershaus: Die Frankfurter Schule, München 1988, S.445.

15) Grunsky setzte seine Arbeit innerhalb der "Freien Akademie" fort, deren Tagungen seit 1952 auf der Burg Ludwigstein bei Kassel stattfanden. 1956 erschien in der Reihe von Frommanns Klassikern der Philosophie sein Werk über den deutschen Philosophen Jakob Böhme (vgl. W.Henckmann, in "WIDERSPRUCH" Nr.13, S.15 ff.). Bäumler wurde 1954 ordnungsgemäß emeritiert.

16) H.-G.Gadamer, a.a.O., S.125.

17) zu den Einzelheiten der Berufung vgl. Karola Bloch: Aus meinem Leben, Pfullingen 1981, S.183 ff. Werner Krauss war während der Nazi-Herrschaft Mitglied der Widerstandsgruppe "Rote Kapelle". Bei deren Auffliegen wurde er zum Tode verurteilt, durch eine Reihe glücklicher Fügungen aber nicht hingerichtet.

18) W. Jens: Eine deutsche Universität. 500 Jahre Tübinger Gelehrtenrepublik, München 1977, S.346.

19) R. König: Leben im Widersprach. Versuch einer intellektuellen Autobiographie, München-Wien 1980, S.189. König bestreitet nicht die sachliche Bedeutung von Gehlens Hauptwerk. Ein Philosoph, der 1940 Alfred Rosenberg als Vorkämpfer für die "Durchsetzung germanischer Charakterwerte" bezeichnet, zugleich unterläßt, den Halbjuden Scheler zu zitieren, obwohl er mit vollen Händen aus dessen (wie auch Plessners) Gedanken schöpft, aber muß seiner Ansicht nach vom Lehrbetrieb ferngehalten werden.

20) vgl. H.H.Holz: Philosophie als bürgerliche Weltanschauung. Umerziehung und Restauration -westdeutsche Philosophie im ersten Nachkriegsjahrzehnt, in: Dialektik 11, Köln 1986, S.69 Anm.31.

21) W-Abendroth: Ein Leben in der Arbeiterbewegung. Gespräche, aufgezeichnet und hrsg. von B.Dietrich und J.Perels, Frankfurt/Main 1976, S.211. Abendroth, der "Partisanenprofessor im Reich der Mitläufer" (Habermas) kam wegen seines Widerstands gegen den Faschismus ins Zuchthaus, von dort ins Strafbattaillon 999, von wo aus ihm die Kooperation mit griechischen Partisanen gelang. In der Nachkriegszeit ist er der einzige Professor, der entschieden Partei für den Sozialismus ergreift (vgl. ebd., S.181 ff.).

22) J.Hessen: Geistige Kämpfe der Zeit im Spiegel eines Lebens, Nürnberg 1959, S.135 ff.

23) W.Abendroth, a.a.O., S.216.

24) H.M.Baumgartner/ H.M.Sass: Philosophie in Deutschland 1945-1975, Meisenheim 1978, S.5 f.

25) Unter seinen Veröffentlichungen sind vor allem "Karl Marx Entwicklung vom revolutionären Demokraten zum Kommunisten", Berlin 1954 und "Weltliteratur und Philosophie", Berlin 1965 zu nennen.

26) "Der junge Hegel", Zürich 1948; "Zerstörung der Vernunft", Berlin 1954; die Aufsätze über Goethe, Th. Mann u.a.

27) "Freiheit und Tod" (1955), "Automation und Autonomie" (1964), "Existentialismus und Sozialismus" (1968).

28) "Die Aktualität Plotins" (1956), "Wer soll der Herr der Erde sein? Eine politische Philosophie" (1962) u.a.

29) vgl. G.Lukács: Die Zerstörung der Vernunft, Darmstadt-Neuwied 1974, Bd.3. Heidegger will "den Anschein erwecken, als ob alle Veränderungen, die er heute (in den 50er Jahren, K.L.) in Anpassung an die amerikanische Politik vollzieht, immer seine Anschauung gewesen wären" (S.255). Carl Schmitt, der Hausjurist Hitlers bedient "den amerikanischen Imperialismus ebenso eifrig... wie er seinerzeit Hitler bedient hat" (S.258). Jaspers holt als Kämpfer gegen den Marxismus nach, was er "in der ideologischen Abwehr des Nazismus versäumt hatte" (S.253).

30) "Die Einheit der Sinne" (1923), "Die Stufen des Organischen und der Mensch" (1928) u.a. Zu Plessner vgl. B.Delfgaaw/ H.H.Holz/ L.Nauta (Hrsg.): Philosophische Rede vom Menschen, Bern-Frankfurt/Main 1985.

31) K. Löwith: Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933. Ein Bericht, Frankfurt 1989, S.5.

32) ebd., S.1, S.38 und S.48.

33) vgl. dazu R.Wiggershaus, a.a.O., S.424-SJ65.

34) ebd., S.446 f.

35 D. Henrich: Konzepte, Frankfurt/Main 1987, S.45.

36) J. Weizenbaum: Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft, Frankfurt/Main 1978.

37) E. Chargaff: Wenig Lärm um viel. Bemerkungen zur genetischen Bastelsucht, in: "Scheidewege" Nr.8/ 1978. Wiederabgedruckt in R.FlöhI (Hrsg.): Gentechnologie Bd.3, München 1985.

38) H. Jonas: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation (1979), Frankfurt/Main 1984. Ders.: Technik, Medizin und Ethik, Zur Praxis des Prinzips Verantwortung, Frankfurt/Main 1985.

Editorische Anmerkungen

Der Artikel erschien in:

WIDERSPRUCH
Münchner Zeitschrift für Philosophie
im der Nr. 18 im 10. Jahrgang (1990)
S.10-25

OCR-scan red. trend

Auf der Website der Zeitschrift können nach kostenloser Registrierung sämtliche Artikel aller Printausgaben des WIDERSPRUCH im Archiv gelesen werden.

Konrad Lotter ist Mitherausgeber von:

Das Marx-Engels-Lexikon
Begriffe von Abstraktion bis Zirkulation
Hardcover, 402 Seiten
EUR 24,90
ISBN 978-3-89438-348-0

erschien bei PapyRossa