Allgemeine Geschichte des Sozialismus und der sozialen Kämpfe
 
 
von
Max Beer
11/07

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X. DIE ZWEITE INTERNATIONALE (1889—1914)

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1. Erfolge und Mißerfolge.

In der Zeit zwischen der Auflösung der ersten und der Gründung der zweiten Internationale fanden mehrere sozialistische und gewerkschaftliche Kongresse statt, die jedoch keinen einheitlichen Charakter hatten und von keinem gemeinsamen Mittelpunkt ausgingen. Erst 1889, aus Anlaß der Pariser Weltausstellung, tagten in Paris zwei sozialistische Arbeiterkongresse, einer von den Possibilisten (Reformisten), der andere von den Marxisten einberufen, deren Ergebnis die Gründung der zweiten Internationale war. Auf diesem Gründungskongreß wurde auch die Feier des i. Mai festgesetzt. Die zweite Internationale hielt acht Kongresse ab: Brüssel (1891), Zürich (1893), London (1896), Paris (1900), Amsterdam (1904), Stuttgart (1907), Kopenhagen (1910), Basel (1912). Der Sitz der zweiten Internationale seit 1900 war Brüssel; hier befand sich das Internationale Büro; dessen Vorsitzender E. Vandervelde, Sekretär C. Huysmans waren; jede angeschlossene Nation hatte dort zwei Delegierte, die von Zeit zu Zeit zusammenkamen, um über wichtige Fragen zu beschließen und die Kongresse vorzubereiten.

Die Geschichte der zweiten Internationale zerfällt — ihren wichtigsten Beschlüssen nach — in drei Abschnitte:

1., bis einschließlich 1896 galt es eine klare Scheidelinie zwischen Sozialismus und Anarchismus zu ziehen und der Internationale eine feste Organisationsform zu geben: es wurden das Internationale Sozialistische Bureau geschaffen und die Zulassungsbedingungen formuliert.

2., bis einschließlich 1904 drehten sich die Auseinandersetzungen um die Festlegung der Grundsätze des politischen Klassenkampfes.

3., die letzte Phase war gekennzeichnet durch ihre Bemühungen, die Völker auf die wachsende Gefahr imperialistischer Kriege aufmerksam zu machen, sowie die Stellungnahme der Internationale zu diesen katastrophalen Ereignissen zu bestimmen.

Erfolgreich war die zweite Internationale nur in ihrer Fernhaltung der Anarchisten. Das Ergebnis der Züricher und Londoner Kongreßdiskussionen war wie folgt: Zuzulassen sind nur Organisationen, die die Prinzipien des Sozialismus und den politischen Klassenkampf anerkennen. Weit weniger entschieden war man im Kampfe gegen „rechts", gegen den wachsenden Einfluß des Reformismus.

In der zweiten Phase (1900—1904) legte die Internationale fest, daß es Sozialisten nicht gestattet ist, in bürgerliche Regierungen einzutreten, ausgenommen in „außerordentlichen Umständen". Hierdurch glaubte man die Frage des Ministerialismus erledigt zuhaben, die in Frankreich 1898 entstand, als Millerand unter dem Eindruck der Dreyfus-Affäre in das Ministerium Waldeck-Rousseau-Gallifet eintrat. Auf Grund dieser Beschlüsse wurde 1904 Millerand aus der Partei ausgeschlossen. Dasselbe Schicksal traf 1906 Viviani und Briand (später französische Ministerpräsidenten). Aber die Ausnahme der „außerordentlichen Umstände" wurde in den Kriegs- und Nachkriegsjahren zur Tür, durch die der Ministerialismus wieder auf der Bildfläche erschien: Arbeiter- und sozialistische Parteien bildeten Koalitionsregierungen mit den bürgerlichen Parteien.

Ganz erfolglos war die Arbeit der Internationale in bezug auf die Gefahr des Weltkrieges. Trotz aller Debatten wurden keine bindenden Beschlüsse über die Abwendung der Kriegsgefahr gefaßt.

2. Die zweite Internationale und der Krieg.

Die im Jahre 1888/89 entstandene zweite Arbeiter-Internationale hat auf jedem ihrer Kongresse über die Kriegsfrage verhandelt. Da diese Kongresse in wachsendem Maße einen sozialdemokratischen Charakter erhielten, so waren ihre Resolutionen über den Krieg sozialdemokratisch. Seit 1900 traten an Stelle der nationalen Konflikte und der despotischen Willkür als Kriegsursachen die imperialistischen und kolonialpolitischen Bestrebungen. Nur zweimal kam es zu Auseinandersetzungen zwischen der sozialdemokratischen und syndikalistisch-antistaatlichen Strömung; in Brüssel, 1891, wurde letztere von Domela Nieuwenhuis vertreten, in Stuttgart, 1907, von Herve". Beide Male siegte die sozialdemokratische Auffassung. Maßgebend wurde die auf dem Stuttgarter Kongreß angenommene Resolution.

Die französischen Sozialisten stellten die Kriegsfrage auf die Tagesordnung als Folge der im Jahre 1905 ausgebrochenen Marokkokrisis, die blitzartig den sich vorbereitenden Weltkrieg beleuchtete. Auf dem Kongresse in Stuttgart traten innerhalb der französischen Delegation drei Richtungen hervor: der Antimilitarist (jetzt: Chauvinist) Gustav Herv6 verlangte Generalstreik und Insurrektion des Proletariats als einzige Antwort auf den Kriegsausbruch; Eduard Vaillant und Jean Jaures verteidigten Herve's Vorschlag als letztes Mittel; Jules Guesde hielt jede Agitation gegen Kriege für utopisch, da der Krieg die unvermeidliche Folge des Kapitalismus sei; die beste Antikriegspropaganda bilde die sozialistische Aufklärung. Von den Belgiern sprach Vandervelde, der mit der Stellungnahme von Vaillant-Jaures sympathisierte, denn „auch die kleinste Nation hat ein Interesse an der Erhaltung des Friedens. Unsere Neutralität wiegt vielleicht nicht schwer, aber unser Land kann als ein Durchgangsland dienen". Für die deutsche Delegation sprachen Bebel und Vollmar; beide bekämpften die Ansichten und die Vorschläge Herve's als in jeder Beziehung unausführbar; sie wiesen auf die kulturelle Bedeutung des nationalen Gedankens hin; Bebel hob noch hervor, daß die beim Ausbruch eines Krieges entstehende Erregung weite Bevölkerungskreise erfasse und die Opposition gegen die Entfaltung der Landesverteidigung in eine äußerst schwierige Lage bringe. — Die Debatten waren langwierig und lebhaft, aber doch nicht erschöpfend. Die überaus große Mehrheit des Kongresses sprach sich für die nationale Verteidigung und für den Klassenkampf aus: „Weder Verrat am Vaterlande noch am Sozialismus" — so faßte Jean Jaures in einer Pariser Versammlung das Ergebnis des Stuttgarter Kongresses zusammen (Rappoport, Jean Jaures' Biographie, Paris 1915, 8.266—67). Das war ohne Zweifel die Grundauffassung der großen Mehrheit, aber sie konnte den Widerspruch nicht beseitigen, der sich daraus ergeben mußte, daß, solange Privateigentum, Kapitalismus und Konkurrenz herrschen, die Interessen der verschiedenen Vaterländer sich mit den Interessen des internationalen Sozialismus nicht dek-ken. Eine Aufhebung dieses Widerspruchs erwartete der Kongreß erst vom Siege der Arbeiterklasse der bedeutendsten Länder. Der Kongreß nahm schließlich eine Resolution an, die im wesentlichen von August Bebel stammte, mit Ausnahme der beiden letzten Absätze, die von Luxemburg, Lenin und Martoff herrührten. Die Resolution lautet:

„Der Kongreß bestätigt die Resolution der früheren internationalen Kongresse gegen den Militarismus und Imperialismus, und er stellt aufs neue fest, daß der Kampf gegen den Militarismus nicht getrennt werden kann von dem sozialistischen Klassenkampf im ganzen. Kriege zwischen kapitalistischen Staaten sind in der Regel Folgen ihres Konkurrenzkampfes auf dem Weltmarkte, denn jeder Staat ist bestrebt, seine Absatzgebiete sich nicht nur zu sichern, sondern auch neue zu erobern, wobei Unterjochung fremder Völker und Länderraub eine Hauptrolle spielen. Diese Kriege ergeben sich weiter aus den unaufhörlichen Wettrüstungen des Militarismus, der ein Hauptwerkzeug der bürgerlichen Klassenherrschaft und der wirtschaftlichen und politischen Unterjochung der Arbeiterklasse ist. Begünstigt werden die Kriege durch die von den Kulturvölkern im Interesse der herrschenden Klassen systematisch genährten Vorurteile des einen Volkes gegen das andere, um dadurch die Massen des Proletariats von ihren eigenen Klassenaufgaben sowie von den Pflichten der internationalen Klassensolidarität abzulenken. Kriege liegen also im Wesen des Kapitalismus; sie werden erst aufhören, wenn die kapitalistische Wirtschaftsordnung beseitigt ist oder wenn die Größe der durch militärtechnische Entwickelung erforderlichen Opfer an Menschen und Geld und die durch die Rüstungen hervorgerufene Empörung die Völker zur Beseitigung dieses Systems treibt. Insbesondere ist die Arbeiterklasse, die vorzugsweise die Soldaten stellt und hauptsächlich die materiellen Opfer zu bringen hat, natürlich Gegnerin der Kriege, weil diese im Widerspruch stehen zu ihrem Ziel: Schaffung einer auf sozialistischer Grundlage ruhenden Wirtschaftsordnung, die die Solidarität der Völker verwirklicht. Der Kongreß betrachtet es deshalb als Pflicht der arbeitenden Klassen und insbesondere ihrer Vertreter in den Parlamenten, unter Kennzeichnung des Klassencharakters der bürgerlichen Gesellschaft und der Triebfedern die Rüstungen zu Wasser und zu Lande zu bekämpfen und die Mittel hierfür zu verweigern, sowie dahin zu wirken, daß die Jugend der Arbeiterklasse im Geiste der Völkerverbrüderung und des Sozialismus erzogen und mit Klassenbewußtsein erfüllt werde. Der Kongreß sieht in der demokratischen Organisation des Wehrwesens, der Volkswehr an Stelle der stehenden Heere eine wesentliche Garantie dafür, daß Angriffskriege unmöglich werden und die Überwindung der nationalen Gegensätze erleichtert wird. Die Internationale ist außerstande, die in den verschiedenen Ländern naturgemäß verschiedene, der Zeit und dem Ort entsprechende Aktion der Arbeiterklasse gegen den Militarismus in starre Formen zu bannen. Aber sie hat die Pflicht, die Bestrebungen der Arbeiterklasse gegen den Militarismus und den Krieg möglichst zu verstärken und in Zusammenhang zu bringen... Die Aktion der Arbeiterklasse wird um so erfolgreicher sein, je mehr die Geister durch eine unaufhörliche Agitation vorbereitet und die Arbeiterparteien der verschiedenen Länder durch die Internationale angespornt und zusammengefaßt werden. Der Kongreß ist überzeugt, daß unter dem Drucke des Proletariats eine ernsthafte Anwendung der Schiedsgerichte an die Stelle der kläglichen Veranstaltungen der Regierungen gesetzt und die Wohltat der Abrüstung den Völkern gesichert werden kann, die es ermöglichen würde, die enormen Aufwendungen an Geld und Kraft, die durch die militärischen Rüstungen und die Kriege verschlungen werden, für die Sache der Kultur zu verwenden(1).

Droht der Ausbruch eines Krieges, so sind die arbeitenden Klassen und deren parlamentarische Vertreter in den beteiligten Ländern verpflichtet, unterstützt durch die zusammenfassende Tätigkeit des Internationalen Sozialistischen Büros, alles aufzubieten, um durch die Anwendung der ihnen am wirksamsten erscheinenden Mittel den Ausbruch des Krieges zu verhindern, die sich je nach der Verschärfung des Klassenkampfes und der allgemeinen politischen Situation naturgemäß ändern.

Falls der Krieg dennoch ausbrechen sollte, sind sie verpflichtet, für dessen rasche Beendigung einzutreten und mit allen Kräften dahin zu streben, die durch den Krieg herbeigeführte wirtschaftliche und politische Krise zur Aufrüttelung des Volkes auszunutzen und dadurch die Beseitigung der kapitalistischen Klassenherrschaft zu beschleunigen"(2).

Die Beschlüsse der internationalen Kongresse von Kopenhagen 1910 und Basel 1912 waren im Sinne der Stuttgarter Resolution gehalten und sie übernahmen von ihr wörtlich die beiden letzten Absätze.

Die Kriegspsychose, die Ende Juli und Anfang August 1914 die Führer und die Massen ergriff, erwies sich stärker als die Kongreßbeschlüsse. Nur kleine Teile der sozialistischen Arbeiterbewegung begannen nach und nach die Grundsätze des Klassenkampfes anzuwenden. Volle und energische Anwendung fanden sie nur bei den Bolschewisten in Rußland. Der Weltkrieg (1914—1918) zerbrach die zweite Internationale. Oder richtiger: letztere scheiterte an dem noch ungelösten Widerspruch zwischen nationalem Trieb und sozialistisch-revolutionärer Vernunft.

Gehen wir nun zur Skizzierung der Geschichte der einzelnen sozialistischen Parteien.

3. Deutschland.

Nirgends schlug der sozialistische Funke so erfolgreich ein wie in Deutschland. Die deutsche Arbeiterschaft — bis 1871 wirkten die österreichischen Arbeiter als organischer Bestandteil des einigen deutschen Proletariats mit — zeigte sich in wachsendem Maße bereit, für den Sozialismus zu kämpfen. Bei den Wahlen zum ersten Deutschen Reichstag (1871) erhielten Eisenacher und Lassalleaner zusammen rund 102000 Stimmen, 1874 352000 Stimmen; die Zahl der sozialistischen Abgeordneten wuchs von zwei auf zehn. Bis dahin dauerte noch der Zwist zwischen den beiden Lagern, aber die Massen drängten zur Vereinigung und sie kam 1875 in Gotha auf einem gemeinschaftlichen Kongreß zustande, wo das Gothaer Programm, ein demokratisch-sozialreformerisch-pazifistisches Gemisch, entworfen und angenommen wurde. Zwei Jahre später fanden Reichstagswahlen statt; die Vereinigte Sozialistische Partei brachte für ihre Kandidaten fast eine halbe Million Stimmen auf und erhielt 13 Reichstagsmandate. Mit den numerischen Erfolgen wuchsen auch die Verfolgungen der Parteiführer, Redakteure und Agitatoren, und schließlich wurde die Partei 1878 — nach zwei Attentaten auf Kaiser Wilhelm I. — unter ein von Fürst Bismarck empfohlenes Ausnahmegesetz gestellt, das die sozialistische Organisation in den ersten Jahren in große Verwirrung brachte, aber sie nicht vernichten konnte. Trotz der zweideutigen Haltung der Reichstagsfraktion, die anfangs ernsthaft die Auflösung der Partei erwog, reorganisierte sich die Partei illegal und gewann weiter an Anhang; bei den Wahlen 1887, trotz französisch-deutscher Kriegsgefahr, erhielt sie 763200 Stimmen, 1890 1427128 Stimmen und bald 35 Mandate. Das Ausnahmegesetz wurde aufgehoben und bald darauf Fürst Bismarck entlassen. 1891 gab sich die Partei auf der Erfurter Tagung das von Kautsky entworfene Erfurter Programm, das das bis dahin in Geltung gewesene Gothaer Programm verdrängte. Das Erfurter Programm, zu dem Kautsky einen großangelegten Kommentar schrieb, ist in seinem theoretischen Teil marxistisch, in seinem praktischen Teil demokratisch-sozialreformerisch; vollständig fehlen die Maßregeln, die während der Revolutionszeit von den Sozialisten zu ergreifen wären. Der Gedanke an die Revolution, wie er noch in der Kritik von Marx gegen das Go-thaer Programm scharf hervorgehoben wird, kam der Partei abhanden. Die Partei ging aus dem Ausnahmegesetz tatsächlich als eine demokratisch-sozial-reformerische hervor. Die hiergegen entstandene Opposition der .Jungen" (1890—91), die von Max Schip-pel, Paul Kampffmeyer und Hans Müller geleitet wurde, war, soweit die in ihr tätigen Proletarier in Betracht kommen, wirklich revolutionär. Die — ihrem ideologischen Inhalt nach — „ultralinke" Opposition wurde jedoch bald von der Autorität Engels', Bebels und Liebknechts und durch die kalte, ironische Beredsamkeit Ignaz Auers erstickt. Die revisionistische Aera brach langsam heran, nur verlangsamt durch die lange Wirtschaftskrise in der ersten Hälfte der neunziger Jahre, öffentlich eingeleitet wurde die revisionistische Aera durch Georg von Vollmar (die berüchtigten Eldoradoreden in München 1891) bald nach dem Fall des Sozialistengesetzes; vollendet wurde sie zu Ende des Jahrhunderts durch Eduard Bernstein. Sie wurde gefördert durch den Aufschwung der deutschen Wirtschaft, die den Optimismus begünstigte, und die von einem Aufschwung des Gewerkschaftswesens begleitet war. Die Mitgliederzahl der freien Gewerkschaften wuchs von 238000 im Jahre 1890 auf weit über 2 Millionen im Jahre 1914(3); ihre Führer Karl Legien, Robert Schmidt, Paul Umbreit waren wesentlich revisionistisch. Karl Kautsky, Franz Mehring und theoretisch am schärfsten Rosa Luxemburg nahmen den Kampf gegen den Revisionismus mit großer Energie auf, jedoch ohne praktischen Erfolg. Ein großer Widerspruch, der den Parteigenossen nicht immer zum Bewußtsein kam, klaffte zwischen Theorie und Praxis. In Festartikeln und auf den Parteitagen — insbesondere auf dem denkwürdigen Dresdener Parteitag 1903 — siegte die proletarisch-revolutionäre Richtung, in der Tagesarbeit aber bestand das ganze Ideal in der Herbeiführung einer parlamentarischen Regierungsweise und in der Förderung der Sozialgesetzgebung. Der Revisionismus und mit ihm das nationale Gefühl siegten auf der ganzen Linie und erfüllten die Arbeiterklasse mit Zweifelsucht gegenüber revolutionären Möglichkeiten, sowie mit „realpolitischem" Sinn für die Gegenwartsforderungen. Die glänzende Parteiorganisation, die dem großen Verwaltungstalent und der Aufopferungsfähigkeit Paul Singers so viel verdankte, täuschte über die innere geistige Schwäche der Partei. Das staunenswerte Aufblühen der deutschen Industrie und des Außenhandels, sowie das rasche, fast ununterbrochene numerische Wachstum der Partei und der auf ihre Kandidaten abgegebenen Wahlstimmenzahl begünstigten den Revisionismus. Bei den Reichstagswahlen 1912 entfielen auf die Partei über 4250000 Stimmen (oder 34,8 v. H. der Gesamtstimmenzahl) und sie zog mit 110 Mandaten in den Reichstag, — in ein Scheinparlament, das ohne jede exekutive Macht war und nur dem Zweck diente, den deutschen Stämmen die nationale Einheit zu geben, sowie Steuern zu bewilligen. Diesen Zweck hat es erfüllt. Als Anfang August 1914 der Weltkrieg ausbrach, fühlte sich die übergroße Mehrheit der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD.) als organischer Teil der Nation und nicht mehr als Vertreterin einer Klasse mit Interessen und Idealen, die den der kapitalistischen Ordnung diametral entgegengesetzt sind.

4. Österreich-Ungarn.

Die österreichische sozialdemokratische Bewegung verlief im allgemeinen parallel mit der reichsdeut-schen, nur hatte sie seit ihrer Entstehung (1867) viel mehr unter behördlichen Verfolgungen zu leiden als die reichsdeutsche. Bis 1871 bildete sie einen organischen Bestandteil der deutschen. 1869/70 wurden ihre Führer Andreas Scheu, Johann Most und Pabst — aus Anlaß einer großen Arbeiterdemonstration — in Wien verhaftet und zu 5 Jahren schweren Kerkers verurteilt, jedoch nach einigen Monaten amnestiert. Nach 1871 — nach der Trennung Deutschlands von Österreich — wurde die österreichische Bewegung schwächer, wozu noch die Wirkung der Finanz- und Wirtschaftskrise seit 1873 hinzukam, die sich in einer Verschlechterung der Arbeiterlage äußerte. Die Bewegung spaltete sich in eine radikale und eine gemäßigte Richtung und gewann bis 1888 die Einheit nicht wieder, obwohl das deutsche Beispiel der Einigung der Lassalleaner und Eisenacher in Gotha(i875) die Herstellung einer einigen Partei in Österreich begünstigen mochte und obwohl die österreichische Regierung 1877/78 das deutsche Beispiel nachahmte und die Sozialisten unter ein Ausnahmegesetz stellte. Die Uneinigkeit wurde verschlimmert durch das Auftreten der Anarchisten, die eine terroristische Taktik verfolgten und unter den verbitterten Arbeitern an Anhang gewannen. Erst dem Wirken von Victor Adler (f 1918) gelang es seit 1886, die Arbeiter zu sammeln und zwei Jahre später auf dem Parteitag zu Hainfeld (1888) die Einigung herzustellen. Seitdem machte die Partei bedeutende Fortschritte, obwohl es an Reibungen zwischen den verschiedenen Nationalitäten nicht fehlte. Planmäßig arbeitete die Partei an der Erziehung der Massen: Demonstrationen, Versammlungen, Presse und Bildungsschulen machten das aus verschiedenen nationalen Elementen (Deutschen, Tschechen, Polen, Slowenen, Kroaten, Serben) zusammengesetzte österreichische Proletariat zu einer der bestdisziplinierten Sektionen der zweiten Internationale. Die Wiener Arbeiterschaft war die einzige, die die Maifeier — gemäß der Pariser Resolution 1889 — am 1. Mai durch Arbeitsruhe feierte. Die Partei war es auch, die durch unausgesetzte Agitation die österreichische Regierung zwang, das allgemeine Wahlrecht zu gewähren (1907). Bei den auf Grund dieser Errungenschaft vorgenommenen Wahlen vereinigte die Partei auf sich 1042000 Stimmen und sandte 87 Abgeordnete in den Reichsrat. Die Partei war auch verhältnismäßig reich an Intellektuellen, darunter Otto Bauer, Rudolf Hilferding, Gustav Eckstein, Karl Renner, Max Adler. In bezug auf Taktik unterschied sich die Partei kaum von ihrer reichsdeutschen Bruderpartei, nur war der Revisionismus dort nicht so ausgesprochen, da die konstitutionellen Zustände in Österreich noch weniger geeignet waren, einen friedlichen proletarischen Sieg zu ermöglichen und da die Lage der österreichischen Arbeiterschaft weniger günstig war als die der reichsdeutschen. Bei der Einflußlosigkeit des Reichsrats in auswärtigen Fragen konnte die österreichische Sozialdemokratie keinen konstitutionellen Druck auf die österreichische Diplomatie zugunsten einer vernünftigen Politik gegenüber Serbien und zugunsten der Aufrechterhaltung des Friedens ausüben.

In Ungarn war die Bewegung nicht viel anders als in Österreich, nur fehlten dort die anarchistisch-terroristischen Elemente. Die Arbeiterbewegung entstand 1867, wurde jedoch durch die rechtlose Lage stark behindert. Trotz aller Kämpfe und Opfer gelang es ihr in der Vorkriegszeit nicht, ein volksfreundliches Wahlrecht oder auch nur die Legalisierung der Gewerkschaften zu erlangen. Das ungarische Proletariat hat keine Ursache, der entschwundenen alten Ordnung auch nur eine Träne nachzuweinen.

5. Großbritannien.

Nach dem Zusammenbruch des Chartismus (1855) wandte sich die englische Arbeiterschaft mit großer Zähigkeit dem Ausbau der Gewerkschaften und Genossenschaften zu. Ihre Beteiligung an der erster Internationale war nur sporadisch und bildete nur eine Episode. Erst im Jahre 1882 machte sich eine sozialistische Bewegung bemerkbar. Ihr Pionier war Henry Myers Hyndman, ein wohlhabender, gebildeter, aber national vorurteilsvoller Engländer (1842 bis 1921), der 1880 Marx aufsuchte, nachdem er dessen „Kapital" in französischer Sprache gelesen hatte. 1882 gründete er die Demokratische Föderation, die vorerst ein sozialreformerisches Programm hatte, aber bald den Namen Sozial-Demokratische Föderation (SDF.) und ein sozialistisches Programm annahm. Die Organisation agitierte viel, verbreitete Marxsche Lehren, führte Arbeitslosendemonstrationen, aber es gelang ihr trotz alledem nicht, Einfluß und Anhang in Arbeiterkreisen zu finden. Mit Hyndman wirkten Belfort-Bax, William Morris und Eleanor Marx, eine Tochter von Karl Marx, die sich zwar auf einige Jahre von der SDF. trennten und eine eigene Organisation, die „Sozialistische Liga", gründeten, aber zu der SDF. zurückkehrten, nachdem die Liga in die Hände der Anarchisten geraten war. — Neben der SDF. entstand 1884 die Fabian Society (Fabier-Gesellschaft), die eine sozialreformerische Propaganda betrieb. Ihre bedeutendsten Vertreter waren Sidney Webb, Beatrice Webb und G. Bernard Shaw. Die Theorie der Fabier ist eine revisionistische: Der Sozialismus ist kein fernes Endziel, sondern eine fortschreitende Reihe sozialpolitischer Maßnahmen, die auf parlamentarisch-staatlichem und vor allem kommunal-politischem Wege durchzusetzen und zu ergreifen sind. In demokratischen Ländern ist eine Anerkennung dieser Maßnahmen zu erreichen durch Beeinflussung der öffentlichen Meinung, insbesondere der Gebildeten, mittels schriftlicher und mündlicher Propaganda. Über die Notwendigkeit einer Arbeiterpartei war die Fabier-Gesellschaft sich nicht klar; aus ihren Prinzipien geht eine solche Notwendigkeit nicht hervor; im besten Falle betrachteten die Fabier die Existenz einer selbständigen Arbeiterpartei als ein Schreckmittel gegen widerspenstige antisozialreformerische Politiker. Die Fabier haben jedoch zur Verbreitung sozialkritischer und sozialpositiver Ideen viel beigetragen und in ihrer guten Zeit recht arbeiterfreundlich gewirkt.

Inzwischen verging ein Jahrzehnt seit der Gründung der SDF., ohne daß es ihren Führern gelungen wäre, eine sozialistische Arbeiterbewegung zu schaffen und die Gewerkschaften zu klassenbewußten Organisationen zu machen. Dieser Mißerfolg der SDF veranlaßte schottische und nordenglische Arbeiter- und Sozialistenführer, eine neue Organisation zu schaffen mit dem Zweck, den sozialistischen Geist in die Gewerkschaften zu tragen und die Arbeiter von den bürgerlichen Parteien loszulösen. Der Mann, der diesen Gedanken vertrat, war der Bergarbeiter James Keir Hardie (1856—1915). Ihm und seinen Freunden gelang es 1893, die Unabhängige Arbeiterpartei (Independent Labour Party =ILP.) zu gründen und sie in enge Fühlung mit vielen Gewerkschaftsführern zu bringen. Gefördert wurden die Pläne Keir Hardies durch die Gerichtsprozesse gegen die Gewerkschaften, deren Existenz bedroht wurde. In dieser Gefahr waren die Arbeiter in wachsendem Maße geneigt, zur selbständigen politischen Aktion zu greifen. 1900 entstand die Labour Party (Arbeiterpartei), die schnell zu einer Millionenpartei wurde, da ihr nach und nach alle großen englischen Gewerkschaften beitraten. Die Labour Party ist eine große gewerkschaftlich-sozialreformerische Arbeiterpartei, die sich bereits den Gedanken der selbständigen Politik angeeignet hat und in klassenversöhnlerischem „kleinbürgerlichen Sozialismus" macht. Der Labour Party gehören außer den meisten Gewerkschaften auch die SDF., die Fabier und die ILP. an. Geführt wird sie — seit dem Tode Keir Hardies — von J. Ramsay Mac Donald, einem gewandten Schriftsteller und Redner und sehr gemäßigten Sozialisten der ILP. Die Parteimitgliedschaft wuchs von 376000 im Jahre 1900 auf 1612000 im Jahre 1914 und war im Parlament durch 70 Abgeordnete vertreten. Seitdem ist das Tempo des Wachstums der Partei rapide geworden, worüber im letzten Abschnitt berichtet wird. Bei Ausbruch des Krieges stellte sich ein großer Teil der SDF., fast die ganze Fabier-Gesellschaft und die Labour Party der Kriegsregierung zur Verfügung. Nur die ILP. hielt sich vom Kriegstaumel einigermaßen fern.

6. Frankreich.

Die ersten Anzeichen der Auferstehung der französischen Arbeiterbewegung nach der Kommune-Niederlage machten sich schon 1876 bemerkbar, als die gewerkschaftlich organisierten Arbeiter zu einem Kongreß in Paris zusammentraten. Gleichzeitig trat Jules Guesde (1846—1920) als Mitarbeiter der Zeitung „Droits de l'homme" mit sozialistischen Artikeln auf und setzte seine Tätigkeit als Chefredakteur der „Egalitd" fort, trat in Verbindung mit der deutschen Sozialdemokratie, schließlich mit Marx und Engels. Seine Tätigkeit wurde unterstützt von Paul Lafargue (1840—1911), dem Schwiegersohn von Marx. Die Rückkehr der Kommunards aus der Verbannung und die Entlassung des alten Blanqui aus dem Gefängnis (1879) trugen zwar zur Belebung der sozialistischen Bewegung, aber auch zur Zersplitterung der organisatorischen Kräfte bei. 1880/81 entstand die Parti Ouvrier Francais (PO F., Französische Arbeiterpartei), deren Programm von Guesde und Lafargue mit Hilfe von Marx zustande kam. 1882 traten die reformistischen Elemente, unter Führung von Paul Brousse und Benoit Malon (1841 bis 1893), aus der POF. aus und gründeten eine besondere Organisation; ihre Mitglieder nannte man „Pos-sibilisten", weil sie annahmen, daß es möglich (französisch: possible) sei, die Befreiung der Arbeiter durch Reformen — also ohne Revolution — zu vollziehen. Die possibilistische Partei bestand bis 1899. Ebenso entstanden besondere sozialistische Organisationen unter Leitung von Jean Allemane, dann von den Blanquisten unter Leitung von Eduard Vaillant (1840—1917). Außerdem gab es seit 1893 eine Organisation unabhängiger Sozialisten (Millerand, Viviani, Briand, Augagneur, Jaures). Bei Kammer- und Gemeindewahlen standen sich die verschiedenen sozialistischen Kandidaten als Rivalen gegenüber und zersplitterten die sozialistische Wählerschaft. Die sozialistische Uneinigkeit in Verbindung mit den alten proudhonistischen und anarchistischen Überlieferungen förderte die antiparlamentarische Richtung unter den revolutionären Arbeitern, so daß die französische sozialistische Bewegung zu Anfang des 20. Jahrhunderts zerrissen war, um so mehr, als auch die Wirren um den Prozeß Dreyfus zersetzend auf die Bewegung wirkten, aus der nur Jaures als zentripetale Kraft hervorragte. Erst nach dem Amsterdamer Internationalen Kongreß (1904), auf dem die Dresdener Klassenkampfresolution als Richtschnur angenommen wurde, vereinigten sich diese Gruppen zu einer einheitlichen Partei, die durch das große Rednertalent von Jean Jaures (18 59—1914) zusammengehalten wurde und zu politischer Bedeutung in Frankreich gelangte.

Die Folge dieser Vereinigung war der Ausschluß von Millerand, Viviani und Briand aus der Partei, da sie den Ministerialismus (das Eintreten von Sozialisten in bürgerliche Regierungen), den die Amsterdam-Dresdener Resolution unmöglich machen sollte, nicht aufgeben wollten. Die Vereinigte Sozialistische Partei machte sodann erhebliche Fortschritte. Bei den Kammerwahlen 1906 erhielt sie 877800 Stimmen und 54 Deputierte; 1910 rund l 100000 Stimmen und 76 Deputierte; 1914 rund 1400000 Stimmen und 110 Deputierte. Dann kam der Krieg: am 31. Juli 1914 wurde Jaures von einem Nationalisten meuchlings ermordet. Die sozialistischen Führer: Guesde und Sembat, traten in die Regierung ein, Vaillant agitierte für Eintritt Italiens in den Krieg auf Seite der Entente. Die Partei zeigte sich stark nationalistisch.

Theoretisch bedeutungsvoller als die sozialistische Partei war im Zeitabschnitt 1892—1908 das französische Gewerkschaftswesen, das unter dem Namen „Syndikalismus" bekannt wurde. Nach französischem Recht waren die Gewerkschaften bis 1884 ungesetzliche Organisationen. Erst 1884 kam die Legalisierung und gab den Gewerkschaften die Möglichkeit der Entfaltung. 1886 wurde der Nationalverband der Gewerkschaften gegründet, der sowohl politische wie gewerkschaftliche und Sozialrevolutionäre Zwecke verfolgte. Aristide Briand spielte auf den Kongressen des Verbandes eine große Rolle und wirkte dort für den Generalstreik als Befreiungsmittel des Proletariats (1892). Da der Verband sich — nach Ansicht der antiparlamentarisch oder anarchisch-kommunistisch gesinnten Arbeiter — zu viel mit Politik beschäftigte, entstand 1892 in Opposition gegen ihn der Verband der Arbeitsbörsen, der von Ferdinand Pelloutier, einem intellektuellen Anarcho-Kommunisten, geleitet wurde, Pelloutier war der eigentliche Begründer des Syndikalismus. 1895 kam es zu einem freundlichen Verhältnis zwischen den beiden Verbänden: es entstand die Confederation general du travail (CGT. = Allgemeiner Bund der Arbeiter), in der sich schließlich (1902) beide Verbände verschmolzen. Unter Einfluß von Pelloutier, Hubert Lagardelle und Georg Sorel — letzterer war ein mitunter unklarer, aber origineller und gelehrter Schriftsteller — entstand die syndikalistische Theorie, die den Klas-senkampfgedanken und die Marxsche Geschichtsauffassung mit der Philosophie Bergsons und der antistaatlichen Lehre Proudhons und Bakunins verband : Abschaffung des Lohnsystems, Entfaltung des Klassenkampfes, Enteignung der Kapitalistenklasse durch revolutionäre Kämpfe und Generalstreik, Übernahme der Produktion durch die Gewerkschaften und dadurch Aufhebung des Staates, der zusammen mit Demokratie, Militarismus, Vaterlandsliebe nur als Unterdrückungs- und Täuschungsmittel der Bourgeoisie dient, um das Proletariat materiell und geistig niederzuhalten. Die syndikalistischen Lehren und Aktionen hatten in der CGT. viele Gegner, so daß es dort zu keiner Einstimmigkeit kam. Übrigens war die Mitgliedschaft der CGT. vor dem Kriege nie stärker als etwa eine halbe Million. Aber sie hatten viel Begeisterung und Kampfeslust und wirkten für den Antimilitarismus; sie hatten in ihren Kämpfen die bittersten Verfolgungen von seilen der Ministerpräsidenten Clemenceau und — Briand, ihrem einstigen Generalstreikprofessor, auszustehen. Seit 1909 ging es mit der syndikalistischen Agitation und Wirksamkeit abwärts, und bei Kriegsausbruch war die große Mehrheit der CGT. für die Union sacrde (Burgfrieden); ihr Organ „Bataille Syndicaliste" (Gewerkschaftsschlacht), das ursprünglich den Klassenkrieg proklamierte, wurde zum Organ des Krieges des französischen Imperialismus gegen den deutschen Imperialismus und nannte sich einfach „Bataille". Der Kampf der Bakunisten gegen Marx in der ersten Internationale und der Ausschluß der Anarchisten aus der zweiten Internationale dienten der „Bataille", die Kriegsflamme gegen Deutschland zu nähren: der letzte Bakunist, Prof. Guillaume (1915 gest.) veröffentlichte kurz vor seinem Tode in der „Bataille" in den ersten Kriegsmonaten eine Artikelserie: „Karl Marx, der Pangermane", während der holländische Anarchist Cornelissen, der auf Grund des Beschlusses des Londoner Internationalen Kongresses (1896) die zweite Internationale verlassen mußte, die antideutschen kriegshetzenden Artikel der „Bataille" schrieb, die eines Mitarbeiters der extremnationalistischen „Action Francaise" würdig gewesen wären.

7. Italien.

Die moderne italienische Arbeiterbewegung entstand 1867 unter dem Einfluß der I. A. A. Es wurden Sektionen begründet in Mailand, Florenz, Genua, Neapel, Catania, aber bei der Spaltung der I. A. A. (1872) schlössen sie sich, geführt von Andrea Costa und Carlo Caffiero, der Bakunistischen Richtung an. Von Anfang an waren sie bitteren Verfolgungen von den Behörden ausgesetzt und brachten große Opfer für ihre Überzeugung. Nach und nach überwand die Bewegung den Anarchismus; die Marxschen Lehren drangen ein; es entstanden festere Arbeiterorganisationen, die sich schließlich 1892 auf dem Kongreß zu Genua zu einer einheitlichen Arbeiterpartei zusammenschlössen, die auf dem folgenden Kongreß in Reggio Emilia 1893 den Namen Italienische Sozialistische Partei annahm. Auch Costa schloß sich ihr an. Die bedeutendsten Führer waren Filippo Turati, Enrico Ferri. Die Entwicklung der Partei und deren Presse und Literatur ging dann rasch aufwärts. Schon 1892 hatte die Partei bei den Kammerwahlen erhebliche Erfolge zu verzeichnen; sie erhielt 26000 Stimmen und 6 Abgeordnete; 1897 135000 Stimmen und 16 Abgeordnete; 1904 175000 Stimmen und 32 Abgeordnete; 1913 883000 Stimmen und 52 Abgeordnete. Aber die Partei, sowohl deutschen wie französischen Einflüssen ausgesetzt, hatte vom Revisionismus wie vom Anarcho-Syndikalismus zu leiden, um so mehr, als die italienische Partei eine Verhältnis mäßig große Zahl von Intellektuellen zählte, also allen theoretischen Kontroversen und taktischen Strömungen zugänglich war. Bissolati, Bonomi, Canepa bildeten die äußerste Rechte; Arturo Labriola, Enrico und Orano vertraten den Anarcho-Syndikalismus, Turati und Treves bildeten das Zentrum, Mussolini und seine Anhänger die Linke. Der Krieg gegen Tripolitanien — ein Teil des Prologs zum Weltkriege — war der Wendepunkt in der Geschichte der Partei: eine heftige imperialistische Welle ergriff viele Parteigenossen, jedoch gelang es auf dem Kongreß zu Modena 1911, die Kriegsbegeisterung zu dämpfen, und ein Jahr später die Kriegsanhänger — darunter Bissolati und Bonomi — aus der Partei zu weisen. Diese Ereignisse kamen der Partei bei Ausbruch des Weltkrieges zugute. Die Partei erklärte sich für die Neutralität und schloß die Interventionisten aus — darunter Benito Mussolini, der gänzlich der Kriegspsychose verfiel und zum fanatischen Nationalisten und Schöpfer des Faschismus wurde.

8. Rußland-Polen.

Die moderne sozialistische Arbeiterbewegung Rußlands begann zu Anfang der achtziger Jahre, aber sie war nicht die erste revolutionäre Bewegung im russischen Reich. Der Kampf gegen den zaristischen Absolutismus machte sich bald nach den napoleonischen Kriegen bemerkbar, vorerst ganz sporadisch. Der bedeutendste Versuch eines solchen Kampfes war der der sogenannten Dekabristen (1826) (4), unter denen sich Pestel und Rylejew auszeichneten, teils durch ihren Republikanismus, teils durch Agrarreformvorschläge. Beide wurden hingerichtet. — Dann kam die Periode, in welcher Saint-Simonistische und Fourieristische Ideen in die russische Literatur Eingang fanden (1830—1850). Der hervorragendste Sozialrevolutionäre Schriftsteller dieser Zeit war Alexander Herzen, der ursprünglich in Moskau wirkte und einsah, daß der Kampf gegen den Zarismus mit dem für den Sozialismus zusammenfallen müsse; sein Standpunkt war jedoch ein verschwommen libertär-agrarsozialistischer. Seine Hauptleistung war die 1857 in London von ihm gegründete Zeitschrift „Kolokol" (Glocke), die in Rußland eingeschmuggelt wurde und dort politisch revolutionierend wirkte. Sein Nachfolger in der Redaktion war Bakunin. Beide hatten in den dreißiger Jahren in Moskau als Linkshegelianer und seit den vierziger Jahren im Auslande als Revolutionäre gewirkt. Das Interesse für soziale Fragen wurde auch in Petersburg 1849 von einer Anzahl von Intellektuellen gepflegt, zu denen auch Dostojewsky in Beziehungen trat; sie wurden verraten, verhaftet, zum Tode verurteilt, aber zur Verbüßunglanger Zuchthausstrafen in Sibirien begnadigt. — Zu Ende der fünfziger Jahre wirkte der Sozialökonom Tschernyschewsky (1829—1889) und der bedeutende Literaturkritiker Dobroljubow an der Zeitschrift „Sowremjennik" („Der Zeitgenosse") im demokratisch-sozialreformerischen Sinne. Ersterer wurde verhaftet (1862) und nach zweijähriger Untersuchungshaft, während welcher er seinen berühmten Roman „Was tun?" verfaßte, zur sibirischen Ka-torga verurteilt. — In dieser Atmosphäre, die noch durch die Probleme der Bauernbefreiung (1861) erfüllt wurde, entstanden geheime Gesellschaften, die dem Volk Land und Freiheit erkämpfen wollten. Hierauf folgte die Periode der Aufklärung: des naturwissenschaftlichen Positivismus und des sogenannten politischen Nihilismus. Auch der Einfluß der ersten Internationale machte sich durch Bakunins geheime „Alliance" unter den russischen Studenten bemerkbar. 1873 wurde Marx' „Kapital" ins Russische von Lopatin übersetzt. Es dauerte jedoch ein Jahrzehnt, bis der Marxismus in Rußland Wurzel schlagen konnte. Von ungefähr 1840 bis 1883 machte der russische Sozialismus die utopische Periode durch. Die Träger des sozialistischen Gedankens waren die Narodniki (Volks-Sozialisten), die annahmen, daß das russische Bauernvolk (Narod) instinktiv sozialistisch sei, da es in Dorfgemeinschaften (Obschtschina, Mir) lebt und da die aus ihm hervorgegangenen Handwerker sich leicht in Artels (Genossenschaften) organisieren. Man brauchte nur — meinten die Na-rodniki — Propaganda auf den Dörfern zu machen, um die Bauern zu bewußten Sozialisten zu machen. Die jungen Studenten gingen dann mit diesen Ideen „ins Volk", fanden jedoch kein Gehör, sondern wurden von den Gendarmen aufgegriffen und zu langjähriger Katorga nach Sibirien verbannt oder in Schlüsselburg lebendig begraben. Die energischsten Elemente der Narodniki, fast sämtlich bakunistisch gesinnt, rächten sich an der hohen Bureaukratie durch terroristische Akte, was wiederum zu Verhaftungen und Hinrichtungen führte. 1876 entstand die revolutionäre Verbindung „Semlja i Wolja" (Land und Freiheit), um den Terrorismus planmäßig zu organisieren. Aber zu welchem Zwecke? Bei der Beantwortung dieser Frage machten sich zwei Richtungen bemerkbar: eine war für den Sturz des Absolutismus und die Errichtung der sozialistischen Gesellschaft, die andere war ebenfalls für den Sturz des Absolutismus, aber mit nachheriger Einberufung einer konstituierenden Versammlung, Erreichung von politischen Freiheiten, um die Volksmassen für den Sozialismus zu gewinnen. Die erstere darf man die terroristisch-agrarsozialistische Richtung nennen, die andere die politisch-sozialistische. Die letztere Richtung spaltete sich 1879 ab und bildete die „Narodnaja Wolja" (Volksfreiheit). Es war diese Organisation, die die entschlossensten Elemente in sich vereinigte, worunter Scheljabow und Sophie Perow-skaja hervorragten. Von Mitgliedern dieser Organisation wurden mehrere hohe Würdenträger durch erfolgreiche Attentate hinweggeräumt und schließlich Zar Alexander II. am I./I3- März 1881 durch Hrynewjezki getötet. — Die Tätigkeit der Narodnaja Wolja (1879—1881) hatte tatsächlich eine demoralisierende Wirkung auf den Staatsmechanismus ausgeübt; nur beging das Exekutivkomitee den Fehler, daß es eine derartige Eventualität nicht in Erwägung gezogen und keine positiven Maßnahmen vorbereitet hatte. Nach dem erfolgreichen Bombenattentat auf Alexander II. herrschte eine derartige Kopflosigkeit in Regierungskreisen, daß das Exekutivkomitee, wenn umsichtig vorbereitet und durch eine stärkere Massenbewegung (Massenpartei) unterstützt, wohl imstande gewesen wäre, die Regierung zu übernehmen und die politische Revolution zu vollenden; auch liberale Elemente Rußlands standen der Tätigkeit der Narodnaja Wolja sympathisch gegenüber. Diese Unterlassungssünde rächte sich schwer: die Mitglieder des Exekutivkomitees wurden prozessiert und hingerichtet.

Nach den Jahren 1880—1881 trat ein Wendepunkt in der Geschichte des russischen Sozialismus ein. Der Bakunismus, der ein Element des Narodni-tschestwo bildete, begann dem Marxismus zu weichen. An dessen Spitze stellten sich Georg Plechanow (gest. 1918), Paul Axelrod (gest. 1928) und Wera Sassulitsch und gründeten 1883 die „Gruppe für die Befreiung der Arbeiter", die in wachsendem Maße den Marxismus propagierte. Die „Narodnaja Wolja" wirkte noch mehrere Jahre; eines ihrer energischsten Mitglieder war Alexander Uljanow, dessen Pseudonym „Lenin" war, — der ältere Bruder Wladimir Iljitsch Uljanows, des Begründers des Bolschewismus und Sowjet-Rußlands. Alexander Uljanow mit noch vier Genossen unternahmen 1887 ein Attentat auf den Zaren Alexander III., den brutalen Despoten und Nachfolger Alexanders II.; das Attentat mißlang. Alexander Uljanow und seine Genossen wurden hingerichtet. Wladimir Iljitsch übernahm das Pseudonym „Lenin" von seinem Bruder und wurde zum Führer der revolutionären Arbeiterbewegung, die den Zarismus endgültig beseitigen sollte. Zwischen 1881 und 1903 liegt die Ära Plechanow, des Bahnbrechers marxistischer Gedanken unter dem russischen Proletariat. Die Ära Plechanow sah die Industrialisierung Rußlands, das Verschwinden der Narodniki (der utopischen Periode). Die Intellektuellen als Träger der Sozialrevolutionären Bewegung traten in den Hintergrund — der Anarcho-Kommunist Krapotkin (1842 bis 1920) ragte noch aus jener Zeit in unsere Periode hinein —, das Proletariat hingegen übernahm die Mission der Umwälzung des russischen Reiches. Auf dem Gründungskongreß der zweiten Internationale in Paris 1889 vertraten Plechanow und Lawrow die russische Arbeiterbewegung und sie konnten ihren Bericht in den Worten zusammenfassen: „die revolutionäre Intelligenz Rußlands konnte nichts gegen den Zarismus ausrichten, da sie von der Masse des Volkes getrennt war. Die russische revolutionäre Bewegung wird nur als Arbeiterbewegung triumphieren". In dem folgenden Jahrzehnt machte die Industrialisierung Rußlands weitere Fortschritte, gefördert durch fremde Kapitalsanlagen und durch militärische Rüstungen. Ende des Jahrhunderts brachen große Streiks in Petersburg aus. 1898 wurde aus den verschiedenen Arbeiterorganisationen die „Russische Sozialdemokratische Partei" gegründet, in der sich jedoch bald zwei Richtungen zeigten, die seit dem Parteikongreß 1903 als Bolschewik! und Menschewiki bekannt wurden. Auf jenem in Brüssel und London abgehaltenen Kongreß, bei der Abstimmung über die Besetzung der Redaktion der „Iskra", erhielten Plechanow und Lenin die Mehrheit (russisch: bolschenstwo),während die von Martow und Axelrod vertretene Richtung in der Minderheit (menschenstwo) blieb. Hiervon stammen die Namen der seitdem allgemein bekannt gewordenen russischen sozialistischen Parteien. Während der ersten russischen Revolution 1905, die infolge der im Kriege gegen Japan erlittenen russischen Niederlage ausbrach und in mancher Beziehung eine „Generalprobe" für 1917 war, kam es zu einem Zusammenschluß der beiden Richtungen, der jedoch nicht lange anhielt. Die Menschewiki sind im großen ganzen Evolutionisten und betrachten die Revolution nur als Endziel eines langen kapitalistischen Entwicklungsprozesses; die Bolschewiki hingegen betrachten die Revolution als Hebel zur Beschleunigung der Evolution. Die Menschewiki gleichen der SPD.

Die russische Revolution 1905 wurde mit allen Mitteln des Bürgerkrieges geführt. Im ganzen Reiche kam es zu Streiks und bewaffneten Aufständen. Besonders die berüchtigten „Schwarzen Hundert" zeichneten sich durch blutige Pogrome unter dem jüdischen Proletariat aus(5). Die Reichsduma (Reichstag) war das einzige Ergebnis der Revolution. In ihr gab es auch eine Arbeiterfraktion, in der die Menschewiki die Mehrheit hatten. In den Arbeiterorganisationen hingegen wog der bolschewistische Einfluß vor. Die Partei unterhielt auch Schulen im Ausland, wohin die begabteren russischen Arbeiter zur revolutionären Ausbildung geschickt wurden.

Eine der energischsten Sektionen der russischen Sozialdemokratie war der um die Mitte der neunziger Jahre entstandene Jüdische Bund, der sich aus den jüdischen Arbeitern und Arbeiterinnen Litauens und zum Teile Polens zusammensetzte und bis 1903 die Vorhut der russischen sozialistischen Bewegung bildete.

Außer der Sozialdemokratischen Partei Rußlands gab es seit 1901 eine Sozialrevolutionäre Partei Rußlands (SRR.), die dem Agrarsozialismus und dem individuellen Terror anhing. Sie hatte vor allem Anhang unter den Bauern.

Bei Kriegsausbruch stellte sich die SRR., sowie Krapotkin, Plechanow und dessen persönliche Anhänger auf patriotischen Boden, während die Bolschewik! und einige Menschewiki den internationalen Standpunkt wahrten. —

Die Geschichte der sozialistischen Bewegung Polens ist bis in die achtziger Jahre hinein mit der der russischen ideel und materiell eng verknüpft. Auch ui Polen gab es einen utopischen Sozialismus, eine agrarsozialistische und eine terroristische Periode. Die Petersburger Organisationen „Land und Freiheit" und „Narodnaja Wolja" hatten unter ihren leitenden Mitgliedern einige äußerst energische polnische Studenten; die Polen betrachten auch Hrynewjezki als einen der Ihren. 1878 entstand die polnische Organisation „Proletariat", in der Kunitzki (früher Exekutivmitglied der „Narodnaja Wolja") durch großes konspiratorisches Talent, Ludwig Warynski, S. Mendelsohn und S. Dickstein durch sozialistisches Wissen sich auszeichneten. Die meisten Pioniere dieser ersten Bewegung starben den Märtyrertod oder litten lange in Gefängnissen oder verkamen im Exil. Nach und nach verlor sich der internationale Standpunkt, die Bewegung wurde national; 1892 wurde die Polnische Sozialistische Partei (Polska Partya Socyalistyczna = PPS.) gegründet, die in wachsendem Maße den Gedanken der Auferstehung Polens mit dem der Sozialreform verband. Die PPS. wurde im Laufe der Jahre die Trägerin der nationalen Idee bei den Massen und geriet in einen Gegensatz zu den russischen und deutschen Sozialisten. Sie erblickte im Kriege ein Mittel zur Befreiung vorerst von Rußland, dann von Deutschland und Österreich. Aus ihren Reihen kamen die Daschinski und Pilsudski, die die polnische Legion bildeten, die Fortsetzung des Krieges bis ans Ende betrieben und zu offenen Faschisten wurden.

Gegen die PPS. wirkte Rosa Luxemburg: sie gründete in Opposition die Sozialdemokratie Russisch-Polens (1893), um die „Sozialpatrioten", wie Luxemburg bald die PPS. charakterisierte, zu bekämpfen. Es gelang ihr nur, den linken Flügel der PPS. abzuspalten (1906), der sich jedoch als selbständige Partei konstituierte. Erst im Kriege vereinigten sie sich mit der Sozialdemokratie, um dann zusammen zum Kommunismus überzugehen.

9. Vereinigte Staaten von Amerika.

Die von Ketzern, Sektierern, Utopisten und Humanitären in Nordamerika gegründeten kommunistischen Kolonien kommen für uns hier nicht in Betracht. Einige von ihnen wurden im III. Teile dieses Werkes behandelt. Zu erwähnen ist noch Brook Farm (bei Boston), die 1841—1847 von amerikanischen Fourieristen, meistens Gelehrten und Schriftstellern: Dr. Channing, Hawthorne, Ripley, Dana usw. geleitet wurde. Auch Brook Farm gehört einer vergangenen Periode in der Geschichte des Sozialismus an. Es handelt sich jetzt um die moderne sozialistische Bewegung, deren Träger das Proletariat ist. Diese entstand dort im dritten Viertel des 19. Jahrhunderts; ihre Begründer waren deutsche Kommunisten, die nach 1848 ihre Heimat verlassen hatten, um sich in Amerika eine neue Heimat, ein neues Wirkungsgebiet zu schaffen. Abgesehen von Wilhelm Weitling, der eine Mittelstellung zwischen utopischem und klassenkämpferisch-proletarischem Sozialismus einnimmt, waren es Freunde und Anhänger von Karl Marx, die dort die Pionierarbeit für den Sozialismus leisteten. Wir nennen: Josef Weydemeyer, Herrn. Meyer, F. A. Sorge, Josef Dietzgen. Die ersten Träger des kommunistischen Gedankens waren die deutschen Turnvereine. Die Bildung einer amerikanischen Sektion der ersten Internationale trug ebenfalls zur Verbreitung des Sozialismus bei. 1877 wurde die „New Yorker Volkszeitung" begründet; im selben Jahre die „Sozialistische Arbeiterpartei" (Socialist Labour Party =SLP.). Diese Bewegung erhielt Verstärkung durch deutsche Einwanderung, die durch das deutsche Sozialistengesetz (1878) veranlaßt wurde, aber auch anarchische und Lassalleanische Elemente nach Amerika brachte. Der unermüdliche Johann Most, der schon seit Ende der sechziger Jahre in Österreich, Deutschland und England im revolutionären Sinne gewirkt hatte, kam ebenfalls nach Amerika und verbreitete hier anarchistisch-terroristische Ideen. 1886 kam es in Chicago aus Anlaß eines Streiks zu einer großen Demonstration und zu Bombenattentaten, die zur Verhaftung und Anklage der Anarcho-Kommunisten August Spies, A. R. Parsons, Louis Lingg, Georg Engel, Samuel Fielden, Adolf Fischer, Oskar Neebe und Michael Schwab führten. Spies, Parsons, Fischer und Engel wurden am 11. November 1887 hingerichtet; Lingg hatte schon einen Tag vorher seinem Leben ein Ende gemacht. — 1886 und 1887 waren noch merkwürdig durch die bodenreformerische Agitation von Henry George in New York und durch die Veröffentlichung von E. Bellamys „Rückblick aus dem Jahre 2000". Georges Agitation, die schon 1879 mit seinem Buch „Fortschritt und Armut" eingesetzt hatte, fand in Großbritannien einen starken Widerhall. Bellamys Buch, das in alle zivilisierten Sprachen übersetzt wurde, wirkte überall fördernd auf den sozialistischen Gedanken: es zeigt die Wunder der modernen Technik im Dienste der sozialisierten Wirtschaft. — In den achtziger Jahren schlössen sich amerikanische Elemente der SLP. an, darunter Daniel De Leon, ein New Yorker Universitätsdozent, und der Schriftsteller Lucien Sanial, beide strenge Marxisten, die gegen jedes Kompromiß waren. Nur beging De Leon den Fehler, daß er eine eigene sozialistische Gewerkschaftsbewegung zu schaffen sich bemühte, anstatt die sozialistischen Gewerkschaftselemente in den allgemeinen Gewerkschaften wirken zu lassen. In Opposition gegen den Amerikanischen Gewerkschaftsbund (American Federation of Labor = AFL.) gründete er die Socialist Trade and Labor Alliance, die den Zweck hatte, die Gewerkschaftsbewegung ins sozialistische Fahrwasser zu bringen und an Stelle der Berufsvereine die Organisation von Industrieverbänden zu setzen. Die amerikanischen Gewerkschaftsführer nahmen die Agitation De Leons zum Vorwand, um den Arbeitern einzureden, daß die Sozialisten antigewerkschaftlich seien. Außerdem waren die meisten deutschen Elemente der SLP. gegen die Taktik De Leons und vertraten ihre Opposition in der „New Yorker Volkszeitung", während De Leon in der Wochenschrift „People" seine eigenen Ansichten propagierte. Schließlich kam es zur Spaltung. Die Opposition trat aus der SLP. aus, gründete 1901 die „Socialist Party of America" (SPA.), die sich bis 1920 gut entwickelte. In den letzten zehn Jahren haben beide Parteien starke Verluste erlitten, so daß sie kaum noch als politische Faktoren zählen, aber auch die 1918—19 entstandene Kommunistische Partei zeigt nur langsame Fortschritte.

In den Jahren 1903—1905 machte sich auch in den Vereinigten Staaten eine syndikalistische Gedankenrichtung bemerkbar; sie entstand dort merkwürdigerweise in der deutschen Gewerkschaft der Bierbrauereiarbeiter. 1905 gründeten De Leon und seine Freunde die Industrial Workers of the World (IWW.), eine gewerkschaftliche Klassenkampforganisation, die die ökonomische Aktion in den Vordergrund stellte, aber die parlamentarische Aktion nicht verwarf. Sie spaltete sich bald, da ein Teil der IWW. alle parlamentarische Aktion für reaktionär hielt; der andere Teil, der dem Programm De Leons treu blieb, nennt sich Workers International Industrial Union. Während des Krieges brachten die Mitglieder der IWW. große Opfer für ihre Überzeugung. Im September 1917 wurden 95 ihrer leitenden Mitglieder verhaftet und zu langen Gefängnisstrafen verurteilt.

Anmerkungen

1)  Wesentlich nach der Resolution Bebel.

2) Zusatzantrag Luxemburg-Lenin-Martoff.

3) Auch die christlichen Gewerkschaften nahmen an Mitgliedern erheblich zu: von 5000 i. J. 1890 auf 218000 i. J. 1914.

4) Die Dezembermänner (russisch: Dekabristen) bestanden aus hohen Adeligen und Offizieren, die im Dezember 1825 einen Aufstand inszenieren wollten, verraten wurden, und deren Führer am 25. Juli 1826 hingerichtet wurden. Eine große Anzahl Dekabristen wurde nach Sibirien verbannt.

5) In seiner Schrift „Der Radikalismus — die Kinderkrankheit des Kommunismus" gibt Lenin (1920) folgende glänzende Analyse der Bedeutung der Revolution von 1905:
„Alle Klassen treten offen auf. Alle programmatischen und taktischen Anschauungen werden durch die Aktion der Massen erprobt. Streiks von nie dagewesenem Umfange, nie dagewesener Heftigkeit. Umschlagen der wirtschaftlichen Streiks in den politischen und des politischen in den Aufstand. Praktische Erprobung der Wechselbeziehungen zwischen dem führenden Proletariat und der geführten, schwankenden, unsicheren Bauernschaft. In der elementaren Entwicklung des Kampfes Entstehung der Sowjets als Organisationsform ... Der Wechsel der parlamentarischen und außerparlamentarischen Kampfesformen, der Taktik des Boykotts des Parlaments und der Taktik der Beteiligung am Parlament, der legalen Kampfesformen und der illegalen, ferner ihrer gegenseitigen Beziehungen und Zusammenhänge — alles das ist von einem erstaunlichen Reichtum des Inhalts... Ohne die .Generalprobe' von 1905 wäre der Sieg der Revolution im Oktober 1917 nicht möglich gewesen."
 

Editorische Anmerkungen

Max Beer, Allgemeine Geschichte des Sozialismus und der sozialen Kämpfe, mit Ergänzungen von Dr. Hermann Duncker, S.581-607

Der Text ist ein OCR-Scan by red. trend vom Erlanger REPRINT (1971) des 1931 erschienenen Buches in der UNIVERSUM-BÜCHEREI FÜR ALLE, Berlin.

Von Hermann Duncker gibt es eine Rezension dieses Buches im Internet bei:
http://www.marxistische-bibliothek.de/duncker43.html

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