Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

« Alles Gute zum Geburtstag, liebe Riots...! »

11/06

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Genau ein Jahr nach dem Ausbruch der Unruhen in den französischen Trabantenstädten, die am Abend des 27. Oktober 2005 in Clichy-sous-Bois ihren Anfang nahmen, beherrschte eine angespannte Erwartung die französischen Medien. Würde es zum ersten Jahrestag, pünktlich, wieder losgehen?

Am Ende hätten sie das Ereignis beinahe herbeischreiben oder durch äuberst geballtes Auftreten von Fernsehkameras herbeisuggerieren können. Abseits des Medienhypes allerdings blieb auch richtig, was die Renseignements Généraux (RG), die eine für Staatsschutz und politische Entwicklung zuständige Abteilung der Polizei bilden und sehr entfernt den deutschen Verfassungsschutämtern ähneln, in einem Bericht vom 11. Oktober dieses Jahres feststellen. Darin heibt es: « Der Grobteil der Bedingungen, die vor einem Jahr einen Ausbruch kollektiver Gewalt auf einem bedeutenden Teil des Staatsgebiets ausgelöst haben, ist nach wie vor beisammen. » Ein Überblick aus Anlass des Jahrestages der dreiwöchigen Riots vom vergangenen Herbst. 

Knallt es genau zum Jahrstag am 27. Oktober wieder? Einige Medienvertreter hätten es wohl gar zu gern gehabt, wäre es genau so eintreten. Hätte ihnen der Ablauf einer solchen angekündigten und erwarteten Revolte doch erlauben, von der ersten Minute an live dabei zu sein. Die linksliberale Satirezeitung ‘Charlie Hebdo’ zeichnete in ihrer Ausgabe vom 25. Oktober entsprechende Szenen. In einer Karikatur sieht man ein dreiköpfiges Kamerateam, das sich an spielende Kinder offenbar migrantischer Herkunft vor den typischen Hochhauskulissen -– wie sie in bestimmten Banlieues, aber nicht in allen Banlieues vorherrschen -– wendet. Und zwar mit den Worten: « Wir schenken Euch ein Auto zum Abfackeln. Wenn Ihr uns verprecht, es vor den 20 Uhr-Nachrichten zu machen! » In einer anderen Zeichnung sieht man ein grobes Baustellenschild am Strabenrand, vor einer Silhouette von Plattenbauten, das folgende Aufschrift trägt: « Hier entsteht demnächst: Die Krawallnacht. Grobes pyrotechnisches Spektakel. Unter Teilnahme der Chöre des Innenministeriums. Flambierte Autos – Tränengas – Molotowcocktails. Unsicherheit garantiert ab 24 Uhr, Eintritt kostenlos. » 

Fiebrige Erwartung  

Vergangene Woche in Clichy-sous-Bois (10 Kilomter nordöstlich von Paris): Es fällt schon schwer, nicht auf die Medienvertreter zu stoben. Zum Beispiel hier, am Eingang des « Espace 93 ». Der Veranstaltungsraum beherbergt gerade eine von Einwohnern organisierte Fotoausstellung, die ein Stück Realität des Bezirks Nummer 93 abbilden soll. Dieser Bezirk ist das Département Seine-Saint-Denis, das die nördlich und östlich von Paris liegenden Vorstädte umfasst und frankreichweit mit die höchsten Armutsraten, Arbeitslosenanteile, Immigrantenanteile und die niedrigste Ärztepräsenz (8,8 pro 10.000 Einwohner)  aufweist. Der Titel der Ausstellung lautet « Clichy sans Cliché », also die Stadt ohne Klischees. Sie zeigt ein Stück Lebensrealität der Vorstadt, die in den Augen der Bewohner der bürgerlichen Kernstädte nichts als ein verrufenes Ghetto darstellt. Die in Wirklichkeit aber sehr weit entfernt davon ist, Zustände wie in der Bronx zu kennen, wie ein US-amerikanischer Fotograph ausdrücklich notiert hat, dessen Bilder einen Teil der Ausstellung ausmachen. Tote durch Gewalteinwirkung, Alltag in den Schwarzenghettos US-amerikanischer Grobstädte (wo Schusswaffen legal zirkulieren und ihr Einsatz die erste Todesursache für männliche erwachsene Schwarze unter 40 bildet), hat es etwa in Clichy-sous-Bois nicht gegeben. Und sie bleiben generell in den französischen Banlieues eine schreckliche, aber wirklich seltene Ausnahme. Man sieht fröhliche Schulkinder, Luftaufnahme von Hochhausvierteln, Portraitsfotos von Einwohnern mit Aufnahmen aus ihrer Wohnung und handgeschriebenen Kommentaren, aus denen man über die wirklichen sozialen Probleme ungleich mehr erfährt als aus den meisten Fernsehberichten. Dazwischen immer wieder Schulklassen, die die Ausstellung besuchen. 

Clichy ohne Klischees. Auf der Suche nach Klischees scheinen unterdessen eine Menge Leute zu sein: Mal eben auf einen Sprung nach Clichy-sous-Bois fahren und die Reportage des Monats eintüten. Meine Gesprächspartner, zu denen ich in den letzten sechs Monaten allmählich Kontakte aufgebaut habe, zeigen sich zur Hälfte befremdet und zur Hälfte versucht, vielleicht doch noch eine Message platzieren zu können. Drei Leute mit dicker Kamera und US-amerikanischem Akzent kommen mir am Eingang der Ausstellung entgegen und löchern den freundlichen Herrn am Empfang mit Fragen. Ich gehe nach drauben und setze mich auf eine Bank. Prompt baut sich zehn Meter daneben ein Kamerateam auf und befragt einen jungen Schwarzen, der eine verkehrt herum aufgesetzte Baseballkappe mit der Aufschrift « New York » trägt. Ein paar hundert Meter weiter betrete ich einen Imbiss und platziere mich unauffällig an einen Tisch, um zu speisen. Nach ein paar Minuten kommen Leute mit einer dicken Kamera unter dem Arm herein. « Die werden noch so lange rummachen, bis es wieder knallt wie im letzten Jahr, nur weil sie es offensichtlich interessant machen » meint der Mann vom Imbiss, mit dem ich auf Türkisch zu diskutieren begonnen hatte. 

Sollte es also tatsächlich genau an dem Ort und an dem Tag, wo sich die Kamerateams aus aller Welt drängeln und sich im Moment gegenseitig die Fübe platt treten, zu spektakulären Ereignissen kommen – man müsste davon ausgehen, dass das Medienspektakel sie selbst produziert hat. Dessen ungeachtet trifft es zu, dass die französischen Trabantenstädte sich nicht « beruhigt » haben. Es nähme auch Wunder, nachdem die gesellschaftlichen Ursachen dafür, dass es im vergangenen Jahr so weit kommen konnte, offenkundig nicht beseitigt worden sind. 

Polizeieinsatz als Spektakel 

Vor kurzem hat der französische Innenminister und erklärte konservative Präsidentschaftskandidat für die Wahl im April, Nicolas Sarkozy, nunmehr die Presse ermahnt, « aufzuhören, die Dinge anzuheizen. All der mediale Aufruhr rund um diesen Pseudo-Jahrestag  hat überhaupt keinen Sinn. » Nicht zu Unrecht merkte die sozialdemokratische Tageszeitung ‘Libération’ am 24. Oktober zu dieser Aufforderung oder diesem Vorwurf an: « Wenn es von jemandem kommt, der selbst die Fernsehkameras zu seinen Grobdurchsuchungs-Spektakeln einlädt, dann wirkt das Argument zutiefst komisch. »   

In den letzten 6 Wochen kam es in mehreren französischen Trabantenstädten zu grob angelegten Polizeieinsätzen, die regelmäbig mit vorausgegangenen Angriffen auf Beamte gerechtfertigt wurden. Bei den beiden wichtigsten Grobaufgeboten dieser Art, am 25. September in der Hochhaussiedlung Les Tarterêts in Corbeil-Essonnes (rund 20 Kilometer südlich von Paris) und am 4. Oktober in Les Mureaux westlich der Hauptstadt, hatte das Innenministerium zuvor rund 30 überregionale Medien eingeschaltet. Deren Repräsentanten waren um 6 Uhr morgens live dabei, als Wohnungstüren eingetreten oder mit Rammböcken aus Gusseisen aufgestoben, zahlreiche Leute aus den Betten gescheucht und einige Verdächtige festgenommen oder aber vergeblich gesucht wurden.  

Die Rede war dabei von « Hinterhalten »  gegen die Polizeikräfte, bei denen es zuvor zu Gewalttaten gegen Beamte gekommen sei. Tatsächlich waren am 19. September, bei tätlichen Auseinandersetzungen in der Siedlung Les Tarterêts zwischen Polizeikräften und Jugendlichen, zwei Beamte der Bereitschaftspolizei CRS attackiert worden. Der CRS-Hauptmann Ludovic Aubriot wurde am Kopf verletzt und musste stationär behandelt werden. Am 1. Oktober ereignete sich ein erneuter Zwischenfall in der Siedlung Quartier des Musiciens in der Trabantenstadt Les Mureaux.  

Offizielle Version steht in Frage 

Allein über dessen Ausmab variieren die Informationen allerdings bereits erheblich. Die daran beteiligten Polizisten behaupteten zunächst, von einer Menge von « 150 bis 250 Personen » angegriffen worden zu sein. Im Nachhinein ergibt sich allerdings aus Zeugenaussagen ein anderes Bild, und auch ein per Handy gedrehter Videofilm tauchte auf.  

Demnach waren nur 20 Jugendliche beteiligt, und auch die Verantwortung für die Zwischenfälle scheint durchaus nicht allein bei ihnen zu liegen, sondern vielmehr zu erheblichen Teilen bei der Polizei selbst angesiedelt.  Ein Journalist von ‘Libération’, der das Handy-Video ansehen konnte, berichtet in der Ausgabe vom 5. Oktober:  « ‘Du willst sehen, was passiert ist?’ fragt ein Junge, der den Bildschirm seines Handys herzeigt. Der Film zeigt ein Auto, das ein ihm entgegen kommendes Polizeifahrzeug streift. Der Fahrer wird, am Boden liegend, von Beamten geschlagen. Auseinandersetzungen brechen (darum herum) aus. ‘Er war ein Drogenabhängiger, die keufs (Polizisten im Jugendjargon der Banlieues) kannten ihn sehr gut, und sie hätten ihn in aller Ruhe am nächsten Tag festnehmen können. Sie haben begonnen, ihn zusammenzuschlagen. Ein Jugendlicher ist hingegangen, um sie zu beruhigen. Er wurde mit Tränengas besprüht. Danach sind die Dinge aus dem Ruder gelaufen’, erzählt Vincent, der mit seinen Kumpels am Fube eines Hochhauses sitzt. Sie betrachten zum wiederholten Male die Bilder der Polizisten, die an Bord eines zweiten Wagens (Anm: nicht des beschädigten) fliehen und ihre drei Kollegen, die noch vor Ort sind, im Stich lassen. ‘Sie haben Panik bekommen. Sie hatten Angst um ihr Leben.’ Sie erzählen, wie ‘Pioupiou’, ihr Kumpel, ‘einen anständigen Polizisten, den er kannte’, beschützt hat und ihm hinter den Zaun des Kindergartens Jacques Prévert eine Zuflucht verschafft hat. Pioupou wird heute polizeilich gesucht. Seine Wohnung ist durchsucht, seine Frau vorgeladen worden. ‘Ich dachte, dass sie ihn auszeichnen werden’, empört sich Mohammed Hocine, der in einer Bürgeriniative aktiv ist. ‘Hinterher wird niemand mehr einem Beamten  zu Hilfe kommen.’ »     

Der Grobeinsatz von Les Mureaux hat übrigens nicht viel erbracht. Rund 100 Wohnungen wurden unter Einsatz von Prellböcken aufgebrochen, auf der Suche nach insgesamt fünf « Verdächtigen ». Aber nur eine Person konnte festgenommen, und nach dem Stand der Ermittlungen scheint sie zudem nichts mit den Zwischenfällen vom 1. Oktober zu tun zu haben. 

Der sozialdemokratischen ‘Libération’ fällt es umso leichter, kritische Informationen zu veröffentlichen, die den offiziellen Ablauf der Ereignisse in Frage stellen, als die Zeitung dadurch ohnehin nichts zu verlieren hat. Über einen privilegierten Zugang zu Informationen (aus offizieller Sicht) und damit in Prime-time, wie er manchen anderen Medien gewährt wird, die dadurch –- um ihn zu bewahren –- zu einer konzilianten Haltung motiviert werden, verfügt die Redaktion nämlich nicht. Denn Sarkozy hat nicht nur aus den von ihm angeordneten Polizeieinsätzen vorab ein Medienspektakel bereitet; sondern er filtert zusätzlich noch die Presseorgane, denen er vorab Mitteilungen über bevorstehende Ereignisse zukommen lässt. Rund 30 Medien waren im Morgendunkel der Einsätze vom  25. September und 4. Oktober dabei. Aber ‘Libération’ war in keinem der beiden Fälle benachrichtigt worden, im Gegensatz etwa zu Boulevardzeitungen wie ‘Le Parisien’, anderen Printmedien oder dem Fernsehen. Offenkundig sollen möglichst wenige Einzelheiten von den Einsätzen, die die offizielle Darstellung der Geschehnisse zumindest relativieren oder gar zu Kritik Anlass bieten könnten, nach auben dringen.  

Allerdings hat das offenkundige Fiasko des Einsatzes von Les Mureaux inzwischen zu heftigen selbstkritischen Debatten in den Medien bis hinein in die Fernsehsender Anlass gegeben. Viele Medienschaffende stellen ihre « Instrumentalisierung » zu Zwecken der Showpolitik von Innenminister Sarkozy in Frage. Der Personalrat beim Radiosender Franc Inter schlägt eine ethische Selbstverpflichtung vor. Ihr zufolge solle Journalisten im Falle, dass sie live von solch einem Einsatz berichten, ihren Zuhörern stets auch Informationen über die Umstände ihrer Arbeit -– die Dichte der sonstigen Medienpräsenz, die Anzahl der eingesetzten Beamten, die Vorabinformation aus dem Staatsapparat --  mitteilen müssen. Die Pose jener Journalisten, die aus einem gröberen Pulk heraus filmen und gleichzeitig den Eindruck zu vermitteln versuchen, sie befänden sich todesmutig an vorderster Front in einem Kriegsgebiet, soll künftig etwas schwerer fallen. 

Polizeitaktik provoziert oftmals Zusammenstöbe 

Auch zu den Zusammenstöben von Les Tarterêts, bei denen tatsächlich erhebliche Gewalt gegen den verletzten CRS-Hauptmann ausgeübt worden ist, stellen sich die Ereignisse im Nachhinein anders dar als zunächt vom Innenministerium präsentiert.  

Dort war die offizielle These vom bandenmäbig organisierten Angriff darauf gestützt worden, dass in der Nähe des Orts der Auseinandersetzungen mit der Polizei Pizzareste gefunden worden waren. Also, so lautete die Vermutung, hätten die Jugendlichen auf die Beamten in einem Hinterhalt gewartet. DNA-Tests ergaben jedoch, dass die Speisen gar nicht durch die Beteiligten verzehrt worden waren. Vielmehr geht aus den Testergebnissen hervor, dass die DNA-Besitzer zwei Pizzaesser waren, die inzwischen auch durch die Polizei und durch die Justiz als an den Zusammenstöben völlig unbeteiligt bezeichnet werden. Tatsächlich zugetragen hat sich allem Anschein nach eher folgendes: Ein Einsatzfahrzeug der CRS war von « zwei oder drei Individuen », so der Ergebnisbericht des Untersuchungsverfahrens, mit Kieselsteine (cailloux : Kieselsteine, nicht Steine) beworfen worden. Daraufhin stiegen zwei Bereitschaftspolizisten aus, um die Verfolgung der Kieselsteinattentäter aufzunehmen. Dabei trafen sie auf eine gröbere Gruppe von Jugendlichen, die aber nicht auf sie warteten, sondern am Fubballspielen waren und durch ihre Ankunft überrascht worden. Der Zusammenstob bahnte sich an ; wohl auch deshalb, weil die jugendlichen Bewohner dieser Trabantenstädten mit Uniformträgern, solange diese in der Überzahl sind, regelmäbig negative Erfahrungen machen. Was nicht ausschliebt, dass auch die dort eingesetzten Polizisten sich häufig deshalb aggressiv verhalten, weil sie verunsichert sind und Angst haben. Werden doch häufig Berufsanfänger, die direkt von den Polizeischulen kommen, in Gegenden eingesetzt, von denen sie keine Ahnung haben und die ihnen als besonders verrufen präsentiert werden. 

Inzwischen wurden noch andere Zwischenfälle ähnlicher Natur aus den letzten Wochen bekannt, deren Häufung die Presse im allgemeinen schreiben lässt, dass die Spannungen in den Trabantenstädten und sozialen Brennpunkten zunehmen. Am 13. Oktober kam es zu einem gewalttätigen Übergriff einer Gruppe junger Männer auf einen Polizisten in Epinay-sur-Seine, das nordwestlich von Paris liegt. Er steht offenbar im Zusammenhang mit der Verhaftung eines 19jährigen Kleindealers eine Woche zuvor, die von dessen Milieu « gerächt » werden sollte.  

Das letzte Ereignis dieser Art spielte sich am vorigen Sonntag in der Siedlung La Grande-Borne ab. Diese befindet sich in Grigny, rund 15 Kilometer Luftlinie südlich der Pariser Stadtgrenze (manche Zeitungen schreiben kurioserweise, die Stadt sei 30 Kilometer von Paris entfernt). Jugendliche und junge Erwachsene lieferten sich Auseinandersetzungen mit Polizeikräften, die sie einen Teil des Sonntagnachmittags über mit Wurfgeschossen attackierten. Dabei gingen auch ein Bus, dessen Passagiere die Beteiligten vorher hatten aussteigen lassen, sowie drei Privatfahrzeuge in Flammen auf. Vor allem die Bilder des ausgebrannten Busses machten in den Medien die Runde.  

Voraus ging folgendes: Am vorigen Samstag Abend stürmten und umstellten gröbere CRS-Einheiten einen Teesalon, La Chicha (Die Wasserpfeife), in Grigny. Wie der Name andeutet, wird dieser vorwiegend von nordafrikanischen Immigranten aufgesucht. Der Teesalon war vor einem Jahr von zwei jungen Männern, den 23- und 17jährigen Brüdern Fatihi, eröffnet worden. Mit finanzieller Hilfe ihres Vaters, der ihnen Arbeitslosigkeit und die Versuchung, « auf dumme Ideen zu kommen », ersparen wollte. Der Erfolg der Jugendlichen aus einer Immigrantenfamilie war bei manchen Beamten allem Anschein nach nicht gern gesehen. Die Kontrollen ihrer Gewerbescheine häuften sich, so dass die Familie zwei mal eine Kopie davon direkt beim Kommissariat von Grigy hinterlegte. An diesem Samstag abend kam es erneut zu einer Kontrolle – dieses Mal angeführt von Beamten, die nicht aus Grigny selbst kamen, sondern aus der Nachbarstadt Juvisy. Der junge Geschäftsführer griff zum Telefon, um das Kommissariat zu kontaktieren, wurde jedoch durch einen Beamten daran gehindert. Ein junger Mann stellte sich dazwischen und wurde von einem Bereitschaftspolizisten geschubst, der jenen daraufhin seinerseits schubste. Als daraufhin ein Jugendlicher die Szene mit seinem Handy zu filmen versuchte, erteilte der Einsatzleiter laut Augenzeugen, die in ‘Libération’ zitiert werden, seinen Untergebenen eine Anordnung mit den Worten : « Virez-moi tout ça du café » (« Schmeibt mir all das aus dem Kaffee raus », das Neutrum benutzend).  

Im weiteren Verlauf der Ereignisse explodierte eine Tränengasgranate inmitten der zum Teil älteren Männer, die auf dem Vorplatz des Teesalons saben. Daraufhin wurde der Platz grobflächig durch Polizeieinheiten umstellt. In der Folge schworen die Jugendlichen der Siedlung Rache, « weil man sich an unseren Vätern vergriffen hat ». 

Rückblick auf die Ereignisse von Clichy-sous-Bois 

Ähnliche Erfahrungen machen zahlreiche Bewohner der sozialen Brennpunkte in den Trabantenstädten häufig. Deshalb auch konnten sich die Unruhen im vergangenen Herbst, kurz nachdem die Nachricht von zwei Todesfällen aus Clichy-sous-Bois die Runde gemacht hatte, ähnlich einem Lauffeuer auf Vorstädte und (ehemalige) Arbeiterviertel auf fast dem gesamten Staatsgebiet ausbreiten. Gar zu viele junge Bewohner französische Banlieues schienen sich in den Ereignissen wieder zu erkennen. 

Was war noch mal passiert, damals in Clichy-sous-Bois ? Am Nachmittag jenes Donnerstag, 27. Oktober 2005 gegen 17 Uhr nahm das Verhängnis auf einem Fubballplatz an der Grenze zwischen Livry-Gargan und Clichy-sous-Bois seinen Ausgang. Dort ging eine Gruppe von Jugendlichen auf den Nachhauseweg. Nichts lag gegen sie vor. Dann tauchte die BAC (Brigade Anti-Criminalité) auf, ein Sondereinsatzkommando der Polizei, und wollte eine Personenkontrolle vornehmen. Die BAC nahm die Verfolgung auf. Drei der Jugendlichen waren so erschreckt, dass sie in einem elektrischen Umspannhäuschen Zuflucht nahmen. Ihr Versteck sollte ihnen zum tödlichen Verhängnis werden. Die Polizisten wussten, dass ihnen Gefahr drohe, so klagen die Anwälte ihrer Familien – Jean-Paul Mignard und Emmanuel Tordjman – an, die in diesem Jahr ein Buch zur « Affaire Clichy » herausgegeben haben. Sie unternahmen nichts, es war ihnen egal. Am Ende starben Bouna Traoré (15) und Zyed Benna (17) an einem Stromschlag, ein dritter erlitt schwere Verbrennungen. Sein Name wurde zuerst in allen Zeitungen mit « Metin » wiedergegeben. Er heibt in Wirklichkeit Mühittin Altun und war damals ebenfalls 17. Die drei widerspiegeln ein Bild der Einwohnerschaft von Clichy-sous-Bois: Die Eltern des einen stammen aus Mali, die des anderen aus Tunesien, jene des dritten aus der Türkei. Und während sie zu fünft gewesen, hätte sich sicherlich auch noch ein Herkunftsfranzose unter ihnen befunden. Denn die französischen Banlieues sind keine « ethnischen Ghettos », sondern solche sozialer Natur. Ausschlaggebend dafür, wer dort wohnt, ist nicht die Abstammung, sondern die Finanzkraft. 

Aber es waren vor allem auch die offenkundigen Lügen, die hoch- und höchstrangige Staatsvertreter noch Tage nach dem Todeszeitpunkt von Bouna und Zyed öffentlich verbreiteten, die beträchtlich zur Eskalation beitrugen. Die Wochenzeitung ‘Le Canard enchaîné’ fasst in ihrer aktuellen Ausgabe unter dem Titel « Révisons Clichy » (Gehen wir Clichy noch mal durch) zusammen : " -  Kinder oder Gangster ?"

Bouna war nicht polizeibekannt. Zyed war nicht ‘im Jahr 2005 wegen Raubes aufgefallen’, wie (Innenminister) Sarkozy wörtlich behauptete. Nach einem Streit mit einem anderen Jugendlichen um ein Fahrrad hatte sein Vater einen Sozialarbeiter eingeschaltet, der einen positiven Bericht über ihn abgab. 

-          An jenem Tag kamen sie von einem Einbruch zurück, behauptete  (Premierminister) de Villepin. Originalton: ‘Es handelt sich nach mir vorliegenden Informationen um Einbrecher, die am Werk waren.’  

Falsch: Sie kamen von einem Fubballspiel zurück, mit ihren Freunden, insgesamt zehn (Jugendliche)

-          Es wurde behauptet, dass sie gesehen worden seien, wie sie eine Hütte auf einer Baustelle aufbrachen.

Falsch. Eine Person hat das Kommissariat angerufen und behauptet, es könne sein, dass die Jugendlichen sich an der Hütte auf der Baustelle zu schaffen machen würden. Aber, so der Rechtsanwalt Jean-Paul Mignard, das Ermittlungsverfahren hat ergeben, dass es keinerlei Einbruchsversuch gegeben hat, nicht einmal die kleinste Sachbeschädigung. Die Jugendlichen hatten schlicht und einfach Fubball gespielt. (Anm. des Verf.: Die fragliche Baustelle liegt auf einem Brachgelände an der Stadtgrenze von Livry-Gargan und Clichy-sous-Bois. Die Jugendlichen durchquerten die paar hundert Meter Brachgelände, weil es sich um den mit Abstand kürzesten Rückweg nach Clichy handelte. Nach ihrem Tod betrachteten sich Reporter von ‘Le Parisien’ und ‘Libération’ die angebliche Baustelle. Sie fanden nichts als ein paar Rohre, die an einer Stelle am Boden herumlagen, wo aber seit längerem nicht gearbeitet worden war. Ende der Anm.)             

-          Warum also sind sie weggelaufen, als die Polizisten ankamen? 

Sobald sie eintrafen, nahmen die Polizisten sechs von den Jugendlichen fest. Sie wurden später freigelassen. Die anderen flohen, weil sie minderjährig waren und ihre Papiere nicht bei sich hatten. Sie fürchteten eine Festnahme, auf die mehrere Stunden auf der Wache folgen würden. Dabei kamen sie von einem Fubballspiel, hatten Durst und aufgrund des Ramadan tagsüber nichts gegessen. Es ist ganz einfach: Sie hatten Lust, nach Hause zu kommen. 

-          Aber niemand hat sie verfolgt! Sarkozy jedenfalls hat am Tag danach auf TF1 (Anm.: dem Fernsehsender mit der höchsten Einschaltquote) behauptet: ‘Die Polizisten haben diese Jugendlichen nicht verfolgt.’

Falsch. Sie wurden durch mindestens vier Mannschaften von Polizisten verfolgt, von denen manche Flashballs (Anm.: Gewehre, aus denen Gummigeschosse verschossen werden und mit denen Sarkozy die Polizei in den Trabantenstädten seit 2002 ausgerüstet hat) trugen. Sie wurden erst in einem Wäldchen (Anm: auf dem Brachgelände) umstellt, dann auf einem Friedhofsgelände, das direkt neben dem Trafohäuschen von EDF (Electricité de France) liegt. Aus diesem Grund sind Bouna, Zyed und Mühittin über den Absperrzaun und dann über die hohe (Anm.: circa 3,50 m hohe) Umfassungsmauer des Umspannhäuschens geklettert, um sich zu verstecken. 

-          Die Polizisten wussten nichts davon

Doch, sie wussten es. Aufzeichnung aus dem Polizeifunk von 17.36Uhr: ‘Die beiden Individuen sind verortet worden und sind dabei, zu überklettern, um auf das EDF-Gelände zu gehen. Man müsste Verstärkung herholen, damit man ein bisschen das Viertel umstellen kann, sie werden wohl wieder rauskommen.’ Dann, eine Minute später, ein anderer Beamter, der sich der Gefahr wohl bewusst ist: ‘Gleichzeitig, wenn sie auf dem EDF-Gelände bleiben, dann verwette ich nicht viel auf ihre Haut.’ »    

Dem ist nicht mehr viel hinzuzufügen. Gegen 18 Uhr wurde ein örtlicher Stromausfall vermeldet, der zeitlich mit dem Tod der beiden Jugendlichen Bouna und Zyed zusammenfiel. Der dritte erlitt schwere Verbrennungen. Die Polizei hatte nichts unternommen, um die gegenwärtige Gefahr abzustellen, beispielsweise durch einen simplen Telefonanruf bei Electricité de France. Ferner muss berücksichtigt werden, welche vorausgegangenen Erfahrungen offenkundig das Bild der Polizei in den Köpfen dieser Jugendlichen beeinflusst haben -- aufgrund dessen sie es für dringend angeraten hielten, bei deren Ankunft davon zu laufen. 

Polizeigewalt war nur Katalysator 

Aber das Wirken der Polizei in Clichy-sous-Bois, und dessen fatale Konsequenzen, waren ihrerseits nur auslösende Momente für die im Anschluss ausbrechenden Riots. Nicht ihre tiefer liegenden Ursachen, die woanders sitzen. Sie müssen in den sozialen Verhältnissen gesucht werden. Also in der Konzentration des Elends der französischen Gesellsschaft in den Trabantenstädten, wohin alle diejenigen aus den kernstädtischen Zonen ‘abgeschoben’ werden, die dort unerwünscht sind und sich vor allem das Wohnen dort unmöglich leisten können. Man könnte von einer Form der Territorialisierung von Klassenverhältnissen sprechen. Andernorts erfüllt zum Beispiel das (Schwarzen-) Ghetto diese Funktion, das sich aber nochmals deutlich von den Trabantenstädten französischer urbaner Ballungsräume unterscheidet. In US-amerikanischen Grobstädten macht sich die Trennung zwischen ‘schwarzer’ und ‘weiber’ Wohnbevölkerung oftmals ganz unmittelbar an der Hautfarbe fest, und es kommt zur Bildung oft weitgehend ‘ethnisch’ homogenerWohnbezirke. Dagegen leben in den französischen Banlieues überall Menschen sehr unterschiedlicher Herkunft, Hautfarbe und Religion zusammen, die aber eine gemeinsame Situation nach sozialen Kriterien miteinander teilen.  

Tatsächlich ist aber der Anteil von Einwanderern oder Franzosen migrantischer Herkunft (vor allem aus dem Maghreb und Westafrika) unter ihnen überdurchschnittlich hoch, aufgrund der Tatsache, dass diese Menschen oftmals auf der untersten Rangstufe der sozialen Hierarchie angesiedelt worden sind. Aber diese Feststellung ist nicht auf alle französischen Regionen zu übertragen. Im Nord-Pas de Calais (dem Grobraum rund um Lille, Tourcoing, Roubaix) etwa ist das Proletariat oder Subproletariat überwiegend weib. Und dort waren es auch mehrheitlich junge ‘Weibe’, die im Zusammenhang mit den Riots vom vorigen Jahr den Richter vorgeführt worden sind. Die Höchststrafe in ganz Frankreich im Zusammenhang mit diesen Unruhen erhielt ein 20jähriger Zeitarbeiter, Jérémy Van G., aus einem Unterschichtsviertel im nordfranzösischen Arras. Er erhielt 4 Jahre Haft dafür, dass er ein Möbellager in Flammen aufgehen lieb (bei zwölf Millionen Versicherungsschaden). Sohn französischer und flämischer Eltern, könnte er weiber kaum sein. Der gröbere Teil des französischen Publikums allerdings dürfte sich die Teilnehmer an den Riots wohl eher ausnahmslos als « arabisch » oder « schwarz » vorstellen. 

Die ungeheure Zusammenballung von Problemen in den Trabantenstädten (sozialer, ökologischer, städtebaulicher Art zuzüglich einer realen Zunahme von Straftaten und Gewalt untereinander, wobei vor Fantasmen in diesem Zusammenhang zu warnen ist)  sorgt dafür, dass es dort lebenden Menschen schwer fällt, eine Strategie zu ihrer Überwindung vorzustellen. Hinzu kommt das politische und gesellschaftliche Vakuum, das der Niedergang der traditionellen französischen Arbeiterbewegung und namentlich der Kommunistischen Partei in den früher meist « rot » regierten Trabantenstädten hinterlassen hat. Früher versprachen diese Akteure eine gewisse Hoffnung auf ein besseres Morgen und eine Strategie dahin, gemäb ihren Vorstellungen von einer Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums. Zusammen mit den traditionellen Arbeitsformen und Industrien ist auch ihr Einfluss in den Banlieues zurückgegangen. Aber er wurde in der Regel nicht durch eine andere Form kollektiver Perspektiven ersetzt.  

Deshalb sucht sich die soziale Frustration oftmals auf in anderen Form einen Weg zum Ausbruch. In den letzten 25 Jahren, seit den Unruhen in den Trabantenstädten von Lyon von 1981, war es oftmals der Zyklus von « Polizeigewalt – Riot ohne explizite Forderungen und Strategie – zusätzliche Entsendung von Polizei zur Niederschlagung der Riots – Beruhigung der Lage ohne Veränderungen », der immer wieder von vorne los ging. Nur brachen die Unruhen, für die regelmäbig Erfahrungen mit Polizeigewalt als Auslöser wirkten, in räumlich begrenzten Zonen aus. Sie blieben lokal zersplittert und zeitlich begrenzt. Im vergangenen Herbst aber kam es zum allerersten Mal zu einem ebenso flächendeckenden wie länger (insgesamt drei Wochen) anhaltenden « Aufflammen der Banlieues ». 

Kam es seitdem zu einem Umdenken, zu einer Veränderung der Situation ? Nein, sagt der bereits oben zitierte Bericht der RG, der politischen Abteilung der französischen Polizei. Hinzu gefügt sei übrigens, dass die Zentraldirektion der Renseignements Généraux (DCRG) in einem Bericht, der im Dezember 2005 breit in der französischen Presse zitiert wurde, die These vom « ethnischen » oder konfessionnellen Charakter, von der « islamischen » Steuerung der Riots dezidiert verworfen hat. In ihrem Rapport werden die Unruhen als « Unterschichtsrevolte » qualifiziert. 

Nein, meinen auch die meisten meiner Gesprächspartner in Clichy-sous-Bois. Manche führen als real eingetretene Verbesserung an, dass Clichy nun nicht mehr so völlig abgeschnitten von den öffentlichen Transportmitteln sei wie vor den Unruhen. Die Stadt hat keinen Bahnhof, weder für überregionale Züge noch für Regional- und S-Bahnen. Man muss über die übernächste Nachbarstadt anreisen und dann einen Bus nehmen. Bis zu den Unruhen im Oktober/November 2005 verkehrte sie täglich nur bis 21 Uhr, dann war Schluss. Wer danach noch nach Clichy wollte, musste entweder durch zwei Städte zu Fub marschieren oder aber ein Taxi nehmen. Das kostete 30 Euro, wenn der Chauffeur überhaupt einverstanden war. Die Tour galt bei manchen Fahrern als verrufen. Seitdem die Unruhen vorbei sei, verkehrt die Linie 601 jetzt plötzlich bis ein Uhr morgens – obwohl der Bürgermeister von Le Raincy, der ehemalige Städtebau- und Integrationsminister Eric Raoult, strikt gegen den Busverkehr war. Er wollte nicht, dass zu viele potenzielle Unruhestifter aus der ungeliebten Nachbarschaft seine schöne Stadt durchqueren. Auch ein Verständnis von Integration. Nach dem Herbst 2005 konnte er sich damit nicht länger durchsetzen. Mehrere Einwohner geben zu Protokoll, insofern hätten die Riots doch etwas gebracht. Das sei aber auch die einzige positive Veränderung seit « den Ereignissen », die ihnen einfalle. 

Die Anstrengungen des Kollektiv AC le feu ! 

Die Ereignisse als Ausgangspunkt für einen positiven Prozess nehmen dagegen möchte die Vereinigung AC le feu!, die sich im November 2005 unmittelbar nach den Unruhen gegründet hat. Der Name steht für Association du collectif liberté, égalité, fraternité ensemble et unis (Vereinigung des Kollektivs Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit, zusammen und vereint). Das Kürzel spricht sich zugleich wie « assez le feu », genug vom Feuer. Vom März dieses Jahres bis in den Sommer hinein waren die Mitglieder der Vereinigung ununterbrochen quer durch Frankreich unterwegs, besuchten 120 Städte und sammelten rund 20.000 Zeugnisse in einem « Cahier des doléances ». Diesen Namen, ungefähr : Beschwerdeheft, trugen in der Geschichte ursprünglich die Forderungen an den König, die 1789 am Ausgangspunkt der bürgerlichen Revolution standen. Aus Besançon, Marseille, Tours oder Nantes kommen die Zeugnisse. Jeder Teilnehmende füllte ein Formular von AC le feu! aus, konnte ein Thema auswählen – etwa Prekarität, Einwanderung, Diskriminierung, Umwelt, « Praktiken der Polizei » - und dazu Festellungen und Forderungen formulieren. Immer wieder kehren die Forderungen nach dem kommunalen Wahlrecht für alle, die in einer Kommune wohnen und Steuern zahlen – ob mit oder französischen Pass -, nach einem Ende von Diskriminierungen bei der Einstellung oder Wohnungssuche, nach einer die späteren sozialen Rollen nicht so früh festlegenden Schule.  

Am 25. Oktober, so hatten es die Organisatoren angekündigt, wollten sie mit einer Demo durch Paris ziehen und die Forderungen anschliebend im französischen Parlament übergeben. Statt einer Demonstration hatte der Umzug allerdings eher den Charakter einer gröberen Delegation. An jenem Nachmittag waren wohl 200 bis höchstens 400 Leute unterwegs, darunter die Hälfte, die aus den Pariser Banlieues oder auch aus « sozialen Brennpunkten » in anderen Bezirken angereist waren. Eine zehnköpfige Frauengruppe kam etwa aus den Trabantenstädten von Lyon, eine junge Frau berichtete, sie käme aus einem Unterschichtsviertel im südwestfranzösischen Pau. Viele von ihnen trugen dickleibige Schnellhefter, die in Plastik eingewickelt waren und jeder die Nummer eines französischen Départements (Verwaltungsbezirks) trugen: Es waren die « Cahiers de doléance ». Die andere Hälfte bestanden aus Angehörigen der Pariser Linken, politisch oder gewerkschaftlich Aktive. Umringt waren alle von einem riesigen Aufgebot an Fernsehteams und Journalist. Am Ende des Marschs, gegen 17 Uhr, konnten die Forderungshefte tatsächlich an den Senat und an die Nationalversammlung, die beiden Kammern des französischen Parlaments, übergeben werden. 

Die Organisatoren legt Wert darauf, in ihrem Auftreten etwa in Gestalt von Transparenten und ihrer Abschlussreden den Akzent stark auf den positiven, staatstragenden Charakter ihrer Initiative zu legen. Die marginalisierten Bewohner der Trabantenstädte und ihre Jugend wurden dazu aufgerufen, sich in die Wählerlisten einzutragen, damit sie künftig nicht mehr länger übergangen werden könnten. Die jungen Teilnehmer, die aus den Banlieues angereist waren, wurden vom Lautsprecherwagen aus aufgefordert, mit ihren Wählerkarten zu wedeln, und ein Transparent affimierte: « Wählen bedeutet existieren ». Dies mag durchaus ein Fortschritt sein aus der Sicht von Menschen in einer Trabantenstadt, die bis dahin nicht nur kaum wahrgenommen wurden, sondern die auch selbst keinerlei Bezug zu den « öffentlichen Angelegenheit » hatten.  

Dennoch bleibt ein leichter Nachgeschmack des Unzureichenden zurück: Wenn als alternative Handlungsmöglichkeiten nur das Riot oder das Setzen auf die vorhandenen institutionalisierten Formen der Politik übrigbleiben, dürfte der positive Ansatz rasch steckenbleiben. Denn auch auberhalb der sozialen Krisenzonen und Trabantenstädten haben viele Menschen aufgehört, noch an tiefgreifende Verbesserungen durch die institutionelle bürgerliche Politik zu glauben. Das aktuelle Auftreten der französischen Sozialdemokraten und ihrer wahrscheinlichen Spitzenfrau für die kommenden Wahlen, Ségolène Royal, erweckt alles andere als den Eindruck, dass man sich von einem Regierungswechsel im kommenden Frühjahr irgendwelche gröberen Veränderungen erwarten dürfte. Über die Rathäuser in Trabantenstädten wie Clichy-sous-Bois (wo der sozialistische Bürgermeister Claude Dilain sich nach Ansicht vieler Einwohner um eine relativ offene Politik bemüht), die den Organisatoren des Marschs Infrastruktur und Material zur Verfügung stellt, und die Schicht dort beschäftigter Animateure und Sozialarbeiter beeinflusst die parlamentarische Oppositionspartei aber notwendig Initiativen wie die vom 25. 10.  

Deren Organisatoren müssten aber längerfristig ein Interesse haben, nach Ansätzen und Wegen irgendwo jenseits von etablierter Politik einerseits und Riots ohne artikulierte Forderungen und Strategie andererseits Ausschau zu halten. Immerhin: Durch ihr Sammeln von Bestandsaufnahmen und Forderungen, durch den Versuch eines Bewusstwerdungsprozesses, durch Kommunikation über die Grenzen der einzelnen Trabantenstädte hinweg haben sie einen wichtigen Anfang gesetzt. Hoffentlich bleibt er nicht irgendwo stecken.     

Der Fortgang... mit fatalen Folgen: Attacken auf Busse und ihre Konsequenzen 

In den 8 Tagen, die dem Jahrestag der Ausbruchs der letztjährigen Riots am 27. Oktober folgten, kam es zu neuartigen Vorkommnissen in manchen Banlieues. Aber auch am Rande von Marseille, wo es keine Banlieues gibt, sondern die Unterschichtsviertel innerhalb der Stadt liegen. Dabei schien es zu einem neuen « Qualitätssprung der Gewalt » zu kommen. 

Was genau ist passiert ?

Innerhalb einer Woche wurden -- so die Pariser Abendzeitung ‘Le Monde’ in ihrer Ausgabe vom Donnerstag, 2. November -- neun Busse der öffentlichen Verkehrsbetriebe in mehreren Städten attackiert. Ihren Anfang nahmen die Ereignisse in der Nacht vom Mittwoch zum Donnerstag der vergangenen Woche. Bereits tagsüber war ein Brandsatz in einen Bus in Athis-Mons im weiteren Umland südlich von Paris geworfen worden, aber der Fahrer hatte eingreifen und die Ausbreitung eines Feuers verhindern können.  In der Pariser Vorstadt Nanterre stiegen dann am späteren Abend des 25. Oktober sechs vermummte Personen in einen Bus der Linie 258 ein, verschütteten eine brennbare Flüssigkeit und suchten das Weite. Der Fahrer und die zehn Passagiere konnten sich rechtzeitig, wenngleich zum Teil knapp, vor den Flammen retten. Am selben Abend wurde ein geparkter Bus in Vénissieux bei Lyon angezündet. 

Gegen ein Uhr früh in derselben Nacht kam es zum schwersten Zwischenfall, an der Grenze zwischen den beiden Vorstädten Montreuil und Bagnolet, die östlich an Paris angrenzen. Dieses Mal handelte es sich um (Berichten zufolge) fünf oder sechs Personen, von denen manche Faustfeuerwaffen trugen. Sie stiegen in den letzten abendlichen Bus der Linie 122. Bisher konnte nicht ermittelt werden, ob es sich um Nachbildungen oder um echte Waffen handelte. Sie forderten den Fahrer und die Passagiere zum Aussteigen auf und steuerten sodann selbst den Bus einige Dutzend Meter weiter. Dann hielten sie ihn inmitten einer Hochhaussiedlung an und zündeten den Bus an. Die herbeigerufene Polizei und Feuerwahr konnte das Feuer alsbald löschen. Der Fahrer wies jedoch einen Schockzustand auf und musste für mindestens eine Woche krankgeschrieben werden. Am darauffolgenden Tag traten alle Fahrer der Linie 122 aus Solidarität und Protest in den Streik, kein Bus verlieb das Depot in der Nachbarstadt Les Lilas.  

Der dramatischste Zwischenfall ereignete sich dann zwei Abende später in Marseille. Es passierte in Saint-Jérôme, einem Quartier am Stadtrand, hinter dem nur noch Brachfläche kommt. Mehrere vermummte junge Leute, wahrscheinlich fünf, stiegen durch eine Hintertür in den Bus der Linie 32. Sie schütteten eine brennbare Flüssigkeit aus, die noch nicht näher identifiziert ist, setzten sie in Brand und suchten das Weite. Dieses Mal schaffte es eine Passagierin nicht, rechtzeitig den Bus zu verlassen. Die 26jährige französisch-senegalesische Studentin Mama Galledou fing Feuer.  Die junge Frau wurde auf 60 bis 70 Prozent ihrer Körperoberfläche verbrannt und wurde nach ihrer Einlieferung ins Krankenhaus in ein künstliches Koma versetzt, um ihr unnötige Leiden zu ersparen. Obwohl sie die besonders kritischen ersten 36 Stunden überlebt hat, stand auch an diesem Freitag noch nicht fest, ob sie mit dem Leben davon kommt. Aber falls ja, so wird sie den Ärzten zufolge lebenslange Folgeschäden davontragen.   

Die mutmablichen Urheber der Tat wurden am Dienstag in Marseille festgenommen. Es handelte sich zunächst um fünf Jugendliche im Alter von 15 und 17 Jahren, von denen einer der jüngeren inzwischen wieder freigelassen wurde, da er doch über ein stichfestes Alibi zu verfügen scheint. Sie waren durch Anwohner- und Augenzeugenberichte idenfiziert worden. Laut jüngsten Medienberichten vom Freitag haben inzwischen drei der Festgenommenen ihre Beteiligung zugegeben, aber bisher hat noch keiner gestanden, selbst das Feuer gelegt zu haben. Die Jugendlichen, die in Untersuchungshaft genommen wurden, waren bereits zuvor wegen kleinkrimineller Delikte polizeibekannt. 

Weitere Festnahmen erfolgten am Dienstag (31. Oktober) im nordfranzösischen Lille. Vier Minderjährige und ein 18jähriger gestanden mittlerweile, am Sonntag Abend eine Flasche voll Benzin auf der Rückbank eines Busses ausgeschüttet zu haben. « Wir wollten es machen wie in Marseille! » sollen sie gegenüber den Ermittlern angegeben haben. Der Staatsanwalt Philippe Lemaire, der ihre Inhaftierung beantragt hat, erklärt, sie hätten « überhaupt kein Bewusstsei über die möglichen schweren Folgen ihrer Tat ».   

Ort und Zeitpunkt, und gesellschaftlicher Hintergrund 

Eine Reihe von Beobachtern zeigten zunächst Verwunderung darüber, dass diese Vorfälle sich fast alle an Orten abspielten, wo es im Herbst 2005 weitestgehend ruhig geblieben war. Die Attacken schienen in zeitlichem Zusammenhang zum Jahrestag der damaligen Unruhen zu stehen, der durch die Medien seit Wochen aufgewertet worden war (gl. http://www.heise.de/tp/r4/artikel/23/23839/1.html ). Aber an den Schauplätzen der jetzigen Angriffe war damals so gut wie nichts passiert.  

Besonders in Marseille war es damals ausgesprochen ruhig geblieben, was schon damals zu einem ganzseitigen Artikel über die Gründe in ‘Le Monde’ Anlass gab. Viele Beobachtern erklärten es dadurch, dass die Grobstadt am Mittelmeer nicht die Kluft zwischen «Kernstadt » und « Peripherie» kennt, die andere städtische Ballungsräume mit ihren jeweiligen Banlieues auszeichnet. «Im Gegensatz zu anderen Städten liegen die (Unterschichts-)Viertel in Marseille nicht auberhalb, sondern innerhalb der Stadt», erläutert auch der dortige Präfekt Bernard Squarcini in einem am Freitag veröffentlichten Interview  des Wochenmagazins ‘Valeurs actuelles’. Squarcini begründet darin, dass es sich seiner Auffassung nach bei der Brandstiftung vom Samstag Abend mit den verhängnisvollen Folgen um einen «brutalen, aber isolierten Akt ohne vorherige Anzeichen» gehandelt habe. An diesem Samstag sei «die Lage absolut ruhig (gewesen), vor wie nach dieser Aggression». Der hohe Staatsbeamte widerspricht damit der Vision des sehr rechtslastigen Wochenmagazins, das Marseille im daneben stehenden redaktionellen Artikel als einen «Dampfkochtopf, der nur zu explodieren verlangt» beschreibt, und das dabei auch noch einen direkten Zusammenhang zu der Einwanderung herstellen möchte. Die Hafenstadt Marseille hat seit ihrer Gründung durch Griechen vor 2.500 Jahren schon immer von und mit Zuwanderung gelebt hat.        

Nicht nur dort, sondern auch in Nanterre und in Montreuil passierte im vergangenen Herbst so gut wie nichts. Deshalb verstanden viele Anwohner auch nicht, dass sich die jüngsten Zwischenfälle gerade dort abspielen konnten.  

In einer Reportage, die am vorigen Samstag in ‘Le Monde’ erschien, kommen eine Reihe von Anwohnern aus Nanterre zu Wort. Keine einzige Person unter ihnen, die nicht auf den fehlenden (örtlichen) Zusammenhang zu den «Brennpunkten» vom Herbst 2005 hinwiese und das Aufkommen solcher Zwischenfälle vor diesem Hintergrund. Ein paar von ihnen suggerieren deshalb, dass man nachgeholfen habe. Auszüge aus der Reportage der liberalen Pariser Abendzeitung im Originalton: «Also, was war mit diesem Bus? <Das waren keine Jugendlichen von hier!>, meint (die 43jährige alleinerziehende Mutter) Houria <Und wer sagt Ihnen denn, dass hinter den Vermummungen nicht eher Erwachsene steckten? Erwachsene, die ein Interesse daran hätten, Öl ins Feuer zu gieben und die Situation aufzuheizen!> In welchem Ziel? <Den Franzosen Angst einzujagen> meint ein junger Arbeitsloser, der in Begleitung einiger Freunde vor dem Einkaufszentrum ausharrt. <Um das Wahlergebnis zu beeinflussen, zugunsten von (Innenminister Nicolas) Sarkozy oder (des Rechtsextremen Jean-Marie) Le Pen!> (...) Es sei denn, wirft ein junger Mann ein, dass es darum gehe, das niedere Volk aus dem Wohnbezirk auszutreiben und die Stadt, die so nahe an den Hochhaustürmen von (der Pariser Banken-, Geschäfts- und Konzernsitz-Vorstadt) La Défense und an der Hauptstadt liegt... » 

Doch es ist unwahrscheinlich, dass daraus eine Erklärung der Ereignisse ableitbar ist. Es würde voraussetzen, dass Akteure bewusst im Rahmen einer «Strategie der Spannung» handeln und dabei in der Lage sind, verdeckt vorzugehen. Sie müssten, ohne aufzufallen, in der Nacht in einer Hochhaussiedlung verschwinden können. Nicht nur den Staatsorganen, sondern vor allem den Einwohnern selbst dürfte nichts Verdächtiges oder komisch Wirkendes auffallen. Dass Polizeikräfte, die sich in den Pariser Banlieues oft eher wie eine fremde Armee auf Strafexpedition bewegen, dazu in der Lage wären, darf als unwahrscheinlich gelten.            

Dennoch sind diese Aussagen von Anwohnern interessant, denn sie belegen vor allem die gesellschaftliche Isolation und den neuartigen Charakter der Kleingruppen oder Gangstrukturen, die da offensichtlich am Werk waren. Darin liegt ein wesentlicher Unterschied zu den Ereignissen im Herbst 2005. Damals wäre wohl niemand, der selbst in einer Banlieue wohnt, auf die Idee gekommen, ernsthaft zu behaupten, sämtliche damaligen Ereignisse gingen auf das Konto von Ortsfremden.

Nachahmung oder gezielte Aktion?

Wahrscheinlich ist, dass zwei Elemente beim Zustandekommen der jüngsten Ereignisse eine wichtige Rolle spielten: Erstens der Versuch relativ kleiner Gruppen, das im vorigen Jahr schon einmal Dagewesene noch auf der Ebene der militanten Aktionsform zu «toppen». Zweitens aber spielte in nicht unerheblichem Mabe auch ein schlichter achahmungseffekt eine Rolle. Stimmen diese Annahme, so belegt die Situation, in welche Sackgasse der Versuch läuft, durch rein spektakuläre Aktionen noch etwas bewegen zu wollen. Also durch Aktionen ohne Strategie und ohne Forderungen; aber vor allem mit negativen Konsequenzen für einen Grobteil der armen Bevölkerung. Solches Vorgehen mag kurzfristig die Aufmerksamkeit  der Medien sichern und die Kameras anziehen, aber in dieser Hinsicht ist das Ergebnis vom Herbst 2005 eben wirklich kaum noch zu übertreffen. Oder wie möchte man 10.000 angezündete Autos in drei Wochen noch übertreffen ? 

Vielleicht, indem man statt Autos lieber Busse brennen lässt, mögen sich manche Gruppen oder Gangs gedacht haben. Das könnte die Medien noch einmal aufwecken. Dass solch eine Steigerung nicht mehr möglich ist, ohne auf massivste Ablehnung zu stoben, dürfte nach den grauenhaften Folgen der Busattacke von Marseille klar geworden sein.  

Bereits im vorigen Jahr hatte es Anfang November einen Brandanschlag auf einen Bus in Sevran (nordöstlich von Paris) durch mehrere 15- oder 16jährige gegeben, bei der eine 56jährige gehbehinderte Frau schwer verletzt worden ist. Aber dieses Vorkommnis am Rande der Riots blieb damals isoliert.

Spiegelbild Fernsehen

Der Nachahmungseffekt ist offenkundig ein mächtiger Handlungsmotor. Er spielte wohl auch eine wichtige Rolle bei den jüngsten Attacken. Ihr Auslöser war ein Ereignis vom vorletzten Sonntag (22. Oktober) in der Pariser Vorstadt Grigny, bei dem ebenfalls ein Bus ausbrannte. (Siehe oben) Damals ging es aber hauptsächlich um Zusammenstöbe zwischen Jugendlichen, die gegen einen schikanösen und brutalen Polizeieinsatz vom Vortag protestierten, und Polizeikräften. Das Ausbrennen eines Busses – dessen Passagiere vorher zum Aussteigen aufgefordert worden waren –  dabei eher als Mittel zum Zweck: Um die Bereitschaftspolizei (CRS), auf die man es abgesehen hatte, zum Anrücken zu zwingen. Es bildete wohl keinen Selbstzweck und stand nicht im Vordergrund. 

Aber die Medien berichteten wenig über die Hintergründe dieses Zwischenfalls, mit Ausnahme etwa der Tageszeitung <Libération>, und arbeiteten sehr viel mit dem spektakulären Bild des ausgebrannten Busses. Die Festgenommenen von Marseille erzählten laut ‘Le Figaro’ von diesem Freitag, sie hätten « die Pariser Ereignisse nachahmen wollen ». Und die am selben Tag Festgenommen in Lille erklärten ihrerseits: « Wir wollten es wie die in Marseille machen! » 

Wenn dies zutrifft, dann ist die Verantwortung der Medien dabei erdrückend. Allerdings gibt es inzwischen nicht mehr nur das Fernsehen. Denn inzwischen setzen die Jugendlichen auch Blogs und die Verbreitung von Videos ber Youtube ein, um sich gegenseitig anzufeuern und eine Art von Wettbewerb zwischen Wohnorten zu lancieren... Aber am Anfang war es hauptsächlich das Fernsehen, das ihnen den Eindruck vermittelte, endlich einmal wichtig zu sein.

Autosabfackeln, ein Selbstläufer...

Ursprünglich hatte vor allem das Abfackeln von Autos einen solchen Effekt. Aber dieses Mittel scheint inzwischen wohl abgestumpft und abgenutzt. Ursprünglich kam es um 1982 in Mode. Anfänglich hatte es mal einen konkreten Hintergrund gehabt. Zwischen den Lyoner Banlieues und der Kernstadt verkehrte damals am Abend keinerlei öffentliches Verkehrsmittel mehr. Um aber wenigstens ab und zu abends aus ihren Hochhaussiedlungen nach drauben und auch nachts wieder zurück zu kommen, entwendeten die dortigen Jugendlichen hin und wieder ein Auto oder auch mal einen Bus. In der Siedlung angekommen, setzten sie das Fahrzeug dann mitunter in Brand, um keine Spuren zu hinterlassen. Daraus machte das Fernsehen dann ein Symbol, was wiederum andere Trabantenstadtbewohner animierte. Denn das Mittel wirkte offenkundig, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen.  

Doch inzwischen ist es in vielen Trabantenstädten zum Selbstläufer geworden, auch ohne Riots. Le Monde publizierte am 20. Oktober dieses Jahres eine Studie, die mit einem neuen Polizei-Computerprogramm erstellt worden ist. Demnach wurden im laufenden Jahr in der Region von Lille, die (mit rund 1.500 ausgebrannten Auto jährlich) am stärksten betroffen ist, 30 Prozent der Fahrzeuge durch ihre Besitzer angesteckt, um einer teuren Entsorgung eines schrottreifen Autos zu entgehen. In 20 Prozent der Fälle handelt es sich schlicht um Versicherunbetrug. Bei 40 Prozent der abgefackelten Autos werden Spuren von Straftaten anderer Natur verwischt. Nur 5 Prozent zählen zu den berühmten « Violences urbaines », also Riots oder Jugendgewalt. Damit wird eine verbreitete Wahrnehmung sehr stark relativiert.  

Das  Mittel, das einmal Ausdruck einer bestimmten Jugendrevolte war, hat sich davon offenkundig abgekoppelt und ist zum Selbstläufer geworden. Damit wird es aber auch irgendwann für die Medien uninterssant. Autos abfackeln kann inzwischen jeder, da muss es schon mal ein Bus sein, damit es wieder interessant wird. Nur stöbt das Ganze hier total an seine Grenzen. 

Reaktionen der Regierung 

Die Reaktionen von offizieller Seite auf  die Gewalt sind ansonsten vor allem dadurch geprägt, dass ganz unterschiedliche Formen von Gewalt und Verhaltensweisen in einen Topf geworfen werden. Etwa die Menschen gefährdenden Attacken auf öffentliche Verkehrslinien einerseits und die Auseinandersetzungen mit uniformierten Sicherheitskräften (deren Gründe nicht immer völlig unnachvollziehbar sind) auf der anderen Seite. 

Dass Angriffe auf Transportmittel, in denen Menschen sitzen, kriminelle Handlungen sind und eine Strafverfolgung rechtfertigen, wird kein vernünftiger Mensch bestreiten. Dafür genügen die bestehenden französischen Gesetze im übrigen vollauf: Trägt das Opfer eine lebenslange Behinderung davon, so können die Urheber bis zu 30 Jahre Haft erhalten. Stirbt das Opfer, so droht ihnen lebenslängliche Haft wegen Brandstiftung mit Todesfolge. Nach dem geltenden Jugendstrafrecht kann den jungen Tätern ihre Minderjährigkeit als mildernder Umstand angerechnet werde: Kann, aber muss nicht. Der zuständige Richter kann auf das volle Strafmab verhängen, muss dann aber begründen, warum er das Alter nicht in Betracht gezogen hat. Auch nach bestehendem Strafrecht können die Brandstifter von Marseille also zu schweren Strafen verurteilt werden. 

Aber dem konservativen Innenminister Nicolas Sarkozy und seinem Kollegen im Justizressort Pascal Clément  scheint es eher darum zu gehen, ihre Spektakel-Politik weiter voranzutreiben und zudem die gefährlichen Unterschichten in den Banlieues weiter zu stigmatisieren. Nicolas Sarkozy etwa profiliert sich mit seiner Forderung nach einer generellen Abschaffung des Jugendstrafrechts für Wiederholungtäter: Wer bereits straffällig geworden ist, soll automatisch nur noch nach Erwachsenenstrafrecht und ohne Berücksichtigung altersspezifischer Umstände veurteilt werden.  

Diese Forderung hatte Sarkozy bereits im Juni dieses Jahres im Zusammenhang mit dem neuen « Gesetz zur Kriminalitätsprävention » erhoben, das im September bereits in erster Lesung vom Senat (dem Oberhaus des französischen Parlaments) angenommen worden ist. Damals hatte er damit aber nicht durchdringen können, da dem amtierenden Premierminister Dominique de Villepin dies zu radikal ausfiel. Ab Mitte November wird das neue Gesetz, das auf anderen Gebieten eine Reihe von Verschärfungen bringt und etwa das Berufsgeheimnis von Sozialarbeitern im Umgang mit ihren Klienteln aushöhlt bzw. gegenüber der Polizei und dem jeweiligen Bürgermeister unwirksam macht, nun auch in der Nationalversammlung diskutiert. Ein Anlass für Sarkozy, erneut lautstark nach jenen neuen Drehungen an der Schraube des Strafrechts zu rufen, mit denen er vorab nicht durchdringen konnte. Sollte die Nationalversammung das von der anderen Parlamentskammer bereits angenommene Gesetzesvorhaben noch abändern, also verschärfen, dann muss ein Vermittlungsausschuss eingesetzt werden. Der Fraktionsvorsitzende der Regierungspartei UMP in der Nationalversammlung, Bernard Accoyer, möchte den Vorstob Sarkozys allerdings gern abgebügelt wissen. Er hält das Jugendstrafrecht für ein ernstes Thema, über das man diskutieren müsse, aber ohne die Dinge übers Knie zu brechen. Ob er damit durchdringt oder ob Sarkozy genügend Verbündete unter den Parlamentariern findet, wird sich erweisen müssen. 

Zudem wetteifern Sarkozy und Justizminister Pascal Clément (selbst ein Scharfmacher, der 1981 gegen die Abschaffung der Todesstrafe stimmte) derzeit um neue Gesetzesbestimmungen, mit denen Zusammenstöbe zwischen Jugendlichen und Sicherheitskräften stärker sanktioniert werden können. Dabei werden Polizei, Feuerwehr und Beschäftigte der öffentlichen Transportbetriebe von ihnen in einer Kategorie zusammengefasst. Clément möchte dem Straftatbestand der Körperverletzung gern mehrere verschärfende Umstände beifügen, die jeweils greifen, wenn eine Attacke auf Sicherheitskräfte oder Staatsangestellte « bandenförmig », « aus dem Hinterhalt », mit schweren Folgen usw. herbeigeführt worden ist. Jeder einzelne dieser Tatumstände soll das Strafmab, mit dem die Körperverletzung belegt wird, erhöhen, im Extremfall bis auf 15 Jahre. Dagegen möchte Sarkozy gleich einen eigenständigen Tatbestand der Körperverletzung eines « Repräsentanten der öffentlichen Autorität » einführen. Dabei stünde dann nicht mehr im Vordergrund, dass dem Menschen, der hinter der Uniform steht, eine Verletzung zugefügt worden ist, die sanktioniert werden muss. Entscheidend wäre demnach, dass jemand die Hand gegen die Uniform erhob, und die Verletzung des darin steckenden Menschen würde für den Tatbestand zweitrangig werden. Die neue Strafbestimmung würde zu dem ohnehin bestehenden Straftatbestand des Widerstands gegen die Staatsgewalt (französisch : acte de rebellion) hinzukommen. Die Uniform zählt mehr als der Mensch, und mehr als die Gründe, die manche Jugendlichen ursprünglich zum «Rebellieren» gebracht haben: Das ist die exakte Widerspiegelung eines autoritären Staatsverständnisses.    

Editorische Anmerkungen

Der Text wurde uns vom Autor am 4.11.06 zur Verfügung gestellt.