Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

«Indigènes»
Ein erfolgreicher französischer Film mit ernstem politischem Hintergrund

11/06

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Lacht der Saal, oder lacht er nicht ? Glaubt man dem Journalisten und Filmkritiker Daniel Schneidermann (früher Le Monde, jetzt Libération und France 5), liegt darin einer der wichtigsten Unterschiede in der Rezeption des neuen Kassenschlagers Indigènes an verschiedenen Orten.

Der Film, dessen Titel « Eingeborene » bedeutet, hatte auf dem diesjährigen Festival von Cannes stehende Ovationen des Publikums ausgelöst. Seit dem 27. September ist er in den französischen Kinos, landesweit wurde er in den ersten Wochen in nicht weniger als 560 Säalen ausgestrahlt. Schulklassen besuchen ihn während des Unterrichts, und mancherorts trifft man Leute in Kinos, die man äuberst sonst selten dort trifft. In der Trabantenstadt Rosny etwa ist der Saal rappelvoll, zum Teil mit Opis und Omis – oder Uropis und Uromis – offenbar nordafrikanischer Herkunft. Am 19. Oktober, dem Tag der wöchentlichen Änderung des Kinoprogramms (Mittwoch), hatte der Film bereits 1,89 Millionen Eintritte verzeichnet und lag damit an der Spitze des derzeitigen Kinoangebots. Am 26. Oktober waren es dann 2,2 Millionen Eintritten. In manchen Städten verzeichnete der Film absolute Rekorde, wie etwa das ‘Lyon Mag’  für die Stadt Lyon vermeldet: «50.000 Eintritte in 14 Tagen, das ist eine Rekordzahl. Ein verdienter Rekord, denn dieser Film ist auberordentlich...» 

Wo Jamel ist, da muss es komisch sein... ?  

Mancherorts verzeichneten die Kritiker Lachsalven des Publikums bei jedem Auftritt des Schauspielers Jamel Debouzze. «Jamel», wie er oft nur genannt wird, ist so etwas wie der offiziöse Clown des französischen Kulturbetriebs. Der Schauspieler, Franzose marokkanischer Herkunft, ist sehr kleinwüchsig und leicht körperbehindert. Im Alter von 13 Jahren hatte ein Vorortzug (RER) in der Pariser Banlieue ihm den linken Arm zerquetscht. Er versteht es, durch clownesques Auftreten und schnellen Redefluss – mit betontem Akzent – die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.  

In dem Film spielt er aber eine Rolle, die alles andere als lächerlich ist: Jamel alias «Saïd» ist ein Soldat, der aus bitterstem Elend in einem algerischen Dorf kommt und Frankreich befreien hilft. Das vom Nazireich besetzte Frankreich im Jahr 1944. Auch in dem Film wirkt er als zunächst körperlich unbeholfen aussehende Gestalt. Und er wird von einem Bataillonskamaraden – Messaoud, gespielt von dem prominenten und grobartigen Schauspieler Roschdy Zem – gehänselt, als Liebling des Sergents und «Aischa» (ein Ausdruck für eine Haremsdame oder Gespielin) verspottet. Aber er regelt das Problem, indem er Messaoud unter den Augen der halben Kaserne ein Messer an die Kehle hält, solange, bis es kritisch wird.  

«Saïd» ist also gerade keine lächerliche Figur, sondern er verschafft sich unter schwierigen Umständen Respekt. Erst recht steht die historische Figur, die er darstellt, für einen äuberst ernsten Hintergrund. Aber bei der Premiere auf den Champs-Elysées oder an der Place de Clichy in Paris brach ein Teil des Publikums, so beobachtete es Schneidermann, bei jeder Geste und jedem Satz von Jamel Debbouze in Gelächter aus. Wo Jamel ist, da hat es in ihren Augen offenkundig einfach komisch zu sein. Anderorts dagegen: kein Lacher im Publikum, so bei den sonstigen Premieren, denen Schneidermann beiwohnte. Auch bei den eigenen Kinobesuchen des Autors dieser Zeilen gab es kein Gekicher, stattdessen zogen viele im Publikum bei Filmende die Taschentücher.  

Objektiv können manche Szenen, an denen Debbouze mitwirkt, durchaus Anlass zum Lächeln bieten. Nehmen wir die Szene bei der Befreiung der Provence. Die Demoiselles eilen auf die Strabe und in die Kasernen, als die Truppen der Befreier einrücken. Eine von ihnen kümmert sich auch um «Saïd», der aber – im Gegensatz zu seinem Kameraden Messaoud... – nicht so richtig weib, was er mit dem Fräulein anfangen soll. Also erzählt er ihr, ordentlich radebrechend, seine militärischen Heldentaten: «Deutschland war oben, und wir waren unten. Deutschland hat auf uns geschossen. Ich werfe Handgrante. Dann waren wir oben...» 

Verheizt am Monte Cassino 

Die vom Soldaten Saïd nacherzählte Szene stammt aus dem ersten 15 Minuten des Films, in denen als Orts- und Zeitangabe «Italien 1943» eingeblendet wird. Allem Anschein nach stellen sie die berüchtigte Schlacht am Monte Cassino nach, einige Kilometer südlich von Rom, bei der sich monatelang die Truppen der Achsenmächte und die zäh vorrückenden alliierten Streitkräfte gegenüber lagen. Und bei der gleichzeitig Zehntausende von «eingeborenen Soldaten» und afrikanischen tirailleurs der französischen Kolonialtruppen aufgeopfert worden sind. Man sieht es im Film sehr gut: Die französischen Kommandeure schicken die «eingeborenen» Soldaten, Welle um Welle, immer wieder den Berg hoch. Ohne wirkliche Deckung, sind sie schutzlos dem Maschinengewehrfeuer der Deutschen ausgesetzt. Die unterhalb des Gipfels sitzenden Nazitruppen mähen ein ums andere Mal die hochkletternden Truppen nieder. Aber ihr Dauerfeuer verrät ihre Position. Aus der sicheren Deckung, in der Ebene am Fube des Berges, geben die mit Zielferngläsern bewaffneten französischen Offiziere im Sitzen die Koordinaten für den Artilleriebeschuss durch. Und so grob die Freude ist, zu beobachten, wie die Nazitruppen in ihren MG-Nestern ganz gewaltig auf die Mütze bekommen, so grauenhaft ist der Gedanke daran, wieviele Menschenleben dafür verheizt wurden. Bevorzugt jene von Soldaten aus den französischen Kolonien oder Protektoraten in Nord- und Westafrika. 

Wer hat uns befreit... ? 

Wer hat Frankreich befreit, und unter welchen Umständen? Diese Frage ist geeignet, dem lange gehegten heroischen Geschichtsbild von einem «Volk voller Widerstandskämpfer» einige Risse zuzufügen. Man wusste ja, dass es die Lage im besetzten Frankreich unzulässig beschönigt: Auch wenn die verschiedenen Bewegungen der Résistance und ihr Umfeld zeitweise bis zu vier Millionen Menschen umfassten, so gab es auch zahllose Anpasser und Kollaborateure während der Nazibesatzung. Aber dass Frankreich sich auch dank des Bluts von Tausenden der von ihm Kolonisierten befreit hat – das war bisher nur ungenügend ins öffentliche Bewusstsein gedrungen. Wer sich jemals mit französischem Kolonialismus im Maghreb beschäftigt hat, kam um dieses Wissen nicht umhin. Aber in der breiten Öffentlichkeit war es bislang kaum Thema. 

 Die Motivationen der «eingeborenen» Soldaten waren unterschiedlich. Manchen, aus bitterarmen Verhältnissen in einem Kolonialsystem stammend, engagierten sich für den Sold und die Hoffnung auf sozialen Aufstieg. Andere, wie die Hauptfigur im Film – Abdelkader – lieben sich auch aus politischem Bewusstsein rekrutieren. Sie erhofften sich einen längerfristigen politischen Effekt: Wir helfen den Franzosen, ihre Unterdrücker zu vertreiben, dann wird man danach auch unsere Forderungen nach «Freiheit auch für die nordafrikanischen Völker, wie für die europäischen» anhören müssen. Bekanntlich kam es in der Geschichte anders, und der französische Kolonialismus trat alles andere als freiwillig ab. 

Auch in dem Film sind die Bemühungen des gebildetesten unter den Soldaten, Abdelkader, der für eine Beförderung zum Offizier büffelt, vergeblich. Während die Pieds Noirs, also die in Algerien wohnenden Europäer, in seinem Kolonialbataillon befördert werden, wird er ständig übergangen. In der historischen Wirklichkeit gab es eine ungeschriebene aber eiserne Regel: Ein «soldat musulman» musste konvertieren, um Anwärter auf einen Offiziersposten sein zu können. Denn im offiziell laizistischen Frankreich wurde die religiöse Zugehörigkeit zur Legitimation von Hierarchien benutzt. Den «musulmans» wurde ein Rechtsstatus zugestanden, der ihnen angeblich helfen sollte, das koranische Familienrecht für sich beizubehalten – der sie aber daran hinderte, in der laizistischen Republik irgend eine Verantwortung zu übernehmen. Die konfessionelle Barriere diente als soziale Schranke in einem Apartheidsystem, das auf Religionsgruppen basierte. Zu den interessanten Details des Films gehört, dass sich dem Soldaten Saïd enthüllt, dass auch der Pied Noir-Offizier Martinez in Wirklichkeit ein «Eingeborener» ist, oder jedenfalls eine moslemische Mutter hat – dies aber panikartig verbirgt.  

Äuberst nüchtern dargestellt, aber sehr bewegend ist die Schlussszene. Man sieht, was später aus Abdelkader geworden ist. Seine engeren Kameraden sind alle gefallen. Denn in dem Film rückt die kleine Gruppe als erste französische Soldaten als Befreier in das Elsass ein – Ende 1944 -, wird dort aber durch die Übermacht der Naziarmee massakriert. Zuvor konnten sie noch einige Minuten lang heldenhaft widerstehen und einige Stahlhelmträger ins Jenseits schicken. 60 Jahre danach besucht er ihre Gräber, und man erahnt die ausgedehnte Weite des Soldatenfriedhofs, auf dem Franzosen wie «Eingeborene» ruhen. Dann sieht man Abdelkader, alt, gebrechlich und vereinsamt, in sein winziges Zimmer in einem Immigrantenwohnheim zurückkehren. Man bekommt eine Vorstellung von dem materiellen Elend, in dem er lebt, während für die Zuschauer eingeblendet wird, mit welch lächerlichen Pensionen die ehemaligen «eingeborenen» Befreier abgespeist werden. 

Die grobe Unverschämtheit 

Tatsächlich entspricht dies der Realität. Von 350.000 «Eingeborenen» in den französischen Truppen bei den Alliierten, die die Zweiten Weltkrieg überlebten, sind heute noch 84.000 am Leben. Ihre Pensionen sind zum letzten Mal vor 50 Jahren angehoben und dem Preisanstieg angepasst worden, dann fror ein Gesetz vom Dezember 1959 die Beträge ein. Im Durchschnitt erhalten sie ein Drittel der Bezüge ihrer «herkunftsfranzösischen» Mitkämpfer. Konkret bedeutet das, für jene unter ihnen, die nach 1945 keine militärische Karriere einschlugen, für die Franzosen einige hundert Euro im Jahr, für die «Eingeborenen» ein paar –zig Euro jährlich. Diese historische Ungerechtigkeit war seit langem bekannt, 2001 verurteilte der Oberste Gerichtshof deswegen sogar die Regierung. 

Offenkundig musste erst der Film Indigènes in die französischen Kimos kommen, um daran zu rütteln. Die politische Legende will jedenfalls, dass Präsident Jacques Chirac – der einer Vorpremiere Seite an Seite mit dem Darsteller Jamel Debbouze beiwohnte – derart emotional bewegt war, dass er im Anschluss beschlossen habe, jetzt müssten endlich die Soldatenrenten der «Eingeborenen» angehoben werden. Seine Ehefrau Bernadette soll ihm demnach bei der Aufführung ins Ohr geflüstert haben: «Jacques, man muss etwas tun!» 

In Wirklichkeit war der Beschluss aber schon vorher vorbereitet worden, durch den amtierenden Veteranenminister Hamlaoui Mekachera – selbst ein ehemaliger Soldat, allerdings nicht im Zweiten Weltkrieg, sondern im französischen Kolonialkrieg in Algerien. Die algerische Presse argwöhnt deshalb, es handele sich um eine emotional gut verpackte Publicity-Show, zumal der Beschluss sich natürlich in einem finanziellen Rahmen bewegt, der den französischen Staatshaushalt nicht eben zu sprengen droht. In Wirklichkeit, so kritisieren jedenfalls der ‘Quotidien d’Oran’ und die algerische Tageszeitung ‘La Tribune’, wolle Chirac 6 Monate vor seinem definitiven Abtritt von der politischen Bühne noch einmal mit einem positiven Akt in die Geschichte eingehen. Rund um dieses, nun ja, inszenierte Rührstück (auch wenn die materielle Verbesserung für die Betroffenen natürlich uneingeschränkt zu begrüben ist !) versuchte man von bürgerlicher Seite in den vergangenen Wochen, in Ansätzen einen neuen Kuschelkonsens zu kreieren. Chirac und Jamel, Seite an Seite in bestem Einverstädnis, und Jamel bekennt auf der Titelseite des sozialliberalen Wochenmagazins « Le Nouvel Observateur »: « Warum ich Frankreich liebe »... Doch sollte man sich an solchen störenden Oberflächlichkeiten wohl tatsächlich nicht aufhalten. Fundamentaler und wichtiger erscheint das Stück historische Realität, das bislang aus den Köpfen sehr vieler Franzosen verdrängt war und aus diesem Anlass nun zum Vorschein gekommen ist. 

Neben dem Auftritt Chirac kritisieren algerische Presseorgane, dass der Film des –- selbst ebenfalls aus Algerien stammenden –- Regisseurs Rachid Bouchareb nur einen Auszug der historischen Realität wiedergebe und daher verzerrend wirke. Er zeigt nämlich solche Soldaten, die sich aus welchen Motiven auch immer freiwillig verpflichteten. Dabei gab es aber in Algerien auch ein erhebliches Mab an Zwangsrekrutierung. Nicht zuletzt scheint aber auch die alte algerisch-marokkanische Rivalität eine Rolle zu spielen: Der Film sei durch das marokkanische Königshaus mit gesponsert worden, das sich damit ein schöneres Image zulegen wolle, zumal auch Jamel Debbouze marokkanischer Herkunft ist. In dem Film spielt er allerdings einen Algerier, und er spielt ihn gut. 

Winziges störendes Detail am Rande: Der unwahrscheinliche arabisch-maghrebinische Dialekt, den die Protagonisten sprechen und der wohl eine Art Algerisch darstellen soll (tatsächlich aber von Menschen marokkanischer und tunesischer Herkunft  gesprochen wird) dürfte in Algerien Seltenheitswert haben...      

Editorische Anmerkungen

Der Text wurde uns vom Autor am 3.11.06 zur Verfügung gestellt.