Lacht der Saal, oder lacht er nicht ? Glaubt man dem
Journalisten und Filmkritiker Daniel Schneidermann (früher Le
Monde, jetzt Libération und France 5), liegt darin
einer der wichtigsten Unterschiede in der Rezeption des neuen
Kassenschlagers Indigènes an verschiedenen Orten.
Der
Film, dessen Titel « Eingeborene » bedeutet, hatte auf dem
diesjährigen Festival von Cannes stehende Ovationen des
Publikums ausgelöst. Seit dem 27. September ist er in den
französischen Kinos, landesweit wurde er in den ersten Wochen in
nicht weniger als 560 Säalen ausgestrahlt. Schulklassen besuchen
ihn während des Unterrichts, und mancherorts trifft man Leute in
Kinos, die man äuberst
sonst selten dort trifft. In der Trabantenstadt Rosny etwa ist
der Saal rappelvoll, zum Teil mit Opis und Omis – oder Uropis
und Uromis – offenbar nordafrikanischer Herkunft. Am 19.
Oktober, dem Tag der wöchentlichen Änderung des Kinoprogramms
(Mittwoch), hatte der Film bereits 1,89 Millionen Eintritte
verzeichnet und lag damit an der Spitze des derzeitigen
Kinoangebots. Am 26. Oktober waren es dann 2,2 Millionen
Eintritten. In manchen Städten verzeichnete der Film absolute
Rekorde, wie etwa das ‘Lyon Mag’ für die Stadt Lyon
vermeldet: «50.000 Eintritte in 14 Tagen, das ist eine
Rekordzahl. Ein verdienter Rekord, denn dieser Film ist auberordentlich...»
Wo
Jamel ist, da muss es komisch sein... ?
Mancherorts verzeichneten die Kritiker Lachsalven des Publikums
bei jedem Auftritt des Schauspielers Jamel Debouzze. «Jamel»,
wie er oft nur genannt wird, ist so etwas wie der offiziöse
Clown des französischen Kulturbetriebs. Der Schauspieler,
Franzose marokkanischer Herkunft, ist sehr kleinwüchsig und
leicht körperbehindert. Im Alter von 13 Jahren hatte ein
Vorortzug (RER) in der Pariser Banlieue ihm den linken Arm
zerquetscht. Er versteht es, durch clownesques Auftreten und
schnellen Redefluss – mit betontem Akzent – die Aufmerksamkeit
auf sich zu ziehen.
In
dem Film spielt er aber eine Rolle, die alles andere als
lächerlich ist: Jamel alias «Saïd» ist ein Soldat, der aus
bitterstem Elend in einem algerischen Dorf kommt und Frankreich
befreien hilft. Das vom Nazireich besetzte Frankreich im Jahr
1944. Auch in dem Film wirkt er als zunächst körperlich
unbeholfen aussehende Gestalt. Und er wird von einem
Bataillonskamaraden – Messaoud, gespielt von dem prominenten und
grobartigen
Schauspieler Roschdy Zem – gehänselt, als Liebling des Sergents
und «Aischa» (ein Ausdruck für eine Haremsdame oder Gespielin)
verspottet. Aber er regelt das Problem, indem er Messaoud unter
den Augen der halben Kaserne ein Messer an die Kehle hält,
solange, bis es kritisch wird.
«Saïd» ist also gerade keine lächerliche Figur, sondern er
verschafft sich unter schwierigen Umständen Respekt. Erst recht
steht die historische Figur, die er darstellt, für einen äuberst
ernsten Hintergrund. Aber bei der Premiere auf den
Champs-Elysées oder an der Place de Clichy in Paris brach ein
Teil des Publikums, so beobachtete es Schneidermann, bei jeder
Geste und jedem Satz von Jamel Debbouze in Gelächter aus. Wo
Jamel ist, da hat es in ihren Augen offenkundig einfach komisch
zu sein. Anderorts dagegen: kein Lacher im Publikum, so bei den
sonstigen Premieren, denen Schneidermann beiwohnte. Auch bei den
eigenen Kinobesuchen des Autors dieser Zeilen gab es kein
Gekicher, stattdessen zogen viele im Publikum bei Filmende die
Taschentücher.
Objektiv können manche Szenen, an denen Debbouze mitwirkt,
durchaus Anlass zum Lächeln bieten. Nehmen wir die Szene bei der
Befreiung der Provence. Die Demoiselles eilen auf die Strabe
und in die Kasernen, als die Truppen der Befreier einrücken.
Eine von ihnen kümmert sich auch um «Saïd», der aber – im
Gegensatz zu seinem Kameraden Messaoud... – nicht so richtig weib,
was er mit dem Fräulein anfangen soll. Also erzählt er ihr,
ordentlich radebrechend, seine militärischen Heldentaten:
«Deutschland war oben, und wir waren unten. Deutschland hat auf
uns geschossen. Ich werfe Handgrante. Dann waren wir oben...»
Verheizt am Monte Cassino
Die
vom Soldaten Saïd nacherzählte Szene stammt aus dem ersten 15
Minuten des Films, in denen als Orts- und Zeitangabe «Italien
1943» eingeblendet wird. Allem Anschein nach stellen sie die
berüchtigte Schlacht am Monte Cassino nach, einige Kilometer
südlich von Rom, bei der sich monatelang die Truppen der
Achsenmächte und die zäh vorrückenden alliierten Streitkräfte
gegenüber lagen. Und bei der gleichzeitig Zehntausende von
«eingeborenen Soldaten» und afrikanischen tirailleurs der
französischen Kolonialtruppen aufgeopfert worden sind. Man sieht
es im Film sehr gut: Die französischen Kommandeure schicken
die «eingeborenen» Soldaten, Welle um Welle, immer wieder den
Berg hoch. Ohne wirkliche Deckung, sind sie schutzlos dem
Maschinengewehrfeuer der Deutschen ausgesetzt. Die unterhalb des
Gipfels sitzenden Nazitruppen mähen ein ums andere Mal die
hochkletternden Truppen nieder. Aber ihr Dauerfeuer verrät ihre
Position. Aus der sicheren Deckung, in der Ebene am Fube
des Berges, geben die mit Zielferngläsern bewaffneten
französischen Offiziere im Sitzen die Koordinaten für den
Artilleriebeschuss durch. Und so grob
die Freude ist, zu beobachten, wie die Nazitruppen in ihren
MG-Nestern ganz gewaltig auf die Mütze bekommen, so grauenhaft
ist der Gedanke daran, wieviele Menschenleben dafür verheizt
wurden. Bevorzugt jene von Soldaten aus den französischen
Kolonien oder Protektoraten in Nord- und Westafrika.
Wer
hat uns befreit... ?
Wer
hat Frankreich befreit, und unter welchen Umständen? Diese Frage
ist geeignet, dem lange gehegten heroischen Geschichtsbild von
einem «Volk voller Widerstandskämpfer» einige Risse zuzufügen.
Man wusste ja, dass es die Lage im besetzten Frankreich
unzulässig beschönigt: Auch wenn die verschiedenen Bewegungen
der Résistance und ihr Umfeld zeitweise bis zu vier Millionen
Menschen umfassten, so gab es auch zahllose Anpasser und
Kollaborateure während der Nazibesatzung. Aber dass Frankreich
sich auch dank des Bluts von Tausenden der von ihm Kolonisierten
befreit hat – das war bisher nur ungenügend ins öffentliche
Bewusstsein gedrungen. Wer sich jemals mit französischem
Kolonialismus im Maghreb beschäftigt hat, kam um dieses Wissen
nicht umhin. Aber in der breiten Öffentlichkeit war es bislang
kaum Thema.
Die
Motivationen der «eingeborenen» Soldaten waren unterschiedlich.
Manchen, aus bitterarmen Verhältnissen in einem Kolonialsystem
stammend, engagierten sich für den Sold und die Hoffnung auf
sozialen Aufstieg. Andere, wie die Hauptfigur im Film –
Abdelkader – lieben
sich auch aus politischem Bewusstsein rekrutieren. Sie erhofften
sich einen längerfristigen politischen Effekt: Wir helfen den
Franzosen, ihre Unterdrücker zu vertreiben, dann wird man danach
auch unsere Forderungen nach «Freiheit auch für die
nordafrikanischen Völker, wie für die europäischen» anhören
müssen. Bekanntlich kam es in der Geschichte anders, und der
französische Kolonialismus trat alles andere als freiwillig ab.
Auch
in dem Film sind die Bemühungen des gebildetesten unter den
Soldaten, Abdelkader, der für eine Beförderung zum Offizier
büffelt, vergeblich. Während die Pieds Noirs, also die in
Algerien wohnenden Europäer, in seinem Kolonialbataillon
befördert werden, wird er ständig übergangen. In der
historischen Wirklichkeit gab es eine ungeschriebene aber
eiserne Regel: Ein «soldat musulman» musste konvertieren, um
Anwärter auf einen Offiziersposten sein zu können. Denn im
offiziell laizistischen Frankreich wurde die religiöse
Zugehörigkeit zur Legitimation von Hierarchien benutzt. Den
«musulmans» wurde ein Rechtsstatus zugestanden, der ihnen
angeblich helfen sollte, das koranische Familienrecht für sich
beizubehalten – der sie aber daran hinderte, in der
laizistischen Republik irgend eine Verantwortung zu übernehmen.
Die konfessionelle Barriere diente als soziale Schranke in einem
Apartheidsystem, das auf Religionsgruppen basierte. Zu den
interessanten Details des Films gehört, dass sich dem Soldaten
Saïd enthüllt, dass auch der Pied Noir-Offizier Martinez in
Wirklichkeit ein «Eingeborener» ist, oder jedenfalls eine
moslemische Mutter hat – dies aber panikartig verbirgt.
Äuberst nüchtern
dargestellt, aber sehr bewegend ist die Schlussszene. Man sieht,
was später aus Abdelkader geworden ist. Seine engeren Kameraden
sind alle gefallen. Denn in dem Film rückt die kleine Gruppe als
erste französische Soldaten als Befreier in das Elsass ein –
Ende 1944 -, wird dort aber durch die Übermacht der Naziarmee
massakriert. Zuvor konnten sie noch einige Minuten lang
heldenhaft widerstehen und einige Stahlhelmträger ins Jenseits
schicken. 60 Jahre danach besucht er ihre Gräber, und man erahnt
die ausgedehnte Weite des Soldatenfriedhofs, auf dem Franzosen
wie «Eingeborene» ruhen. Dann sieht man Abdelkader, alt,
gebrechlich und vereinsamt, in sein winziges Zimmer in einem
Immigrantenwohnheim zurückkehren. Man bekommt eine Vorstellung
von dem materiellen Elend, in dem er lebt, während für die
Zuschauer eingeblendet wird, mit welch lächerlichen Pensionen
die ehemaligen «eingeborenen» Befreier abgespeist werden.
Die
grobe
Unverschämtheit
Tatsächlich entspricht dies der Realität. Von 350.000
«Eingeborenen» in den französischen Truppen bei den Alliierten,
die die Zweiten Weltkrieg überlebten, sind heute noch 84.000 am
Leben. Ihre Pensionen sind zum letzten Mal vor 50 Jahren
angehoben und dem Preisanstieg angepasst worden, dann fror ein
Gesetz vom Dezember 1959 die Beträge ein. Im Durchschnitt
erhalten sie ein Drittel der Bezüge ihrer
«herkunftsfranzösischen» Mitkämpfer. Konkret bedeutet das, für
jene unter ihnen, die nach 1945 keine militärische Karriere
einschlugen, für die Franzosen einige hundert Euro im Jahr, für
die «Eingeborenen» ein paar –zig Euro jährlich. Diese
historische Ungerechtigkeit war seit langem bekannt, 2001
verurteilte der Oberste Gerichtshof deswegen sogar die
Regierung.
Offenkundig musste erst der Film Indigènes in die
französischen Kimos kommen, um daran zu rütteln. Die politische
Legende will jedenfalls, dass Präsident Jacques Chirac – der
einer Vorpremiere Seite an Seite mit dem Darsteller Jamel
Debbouze beiwohnte – derart emotional bewegt war, dass er im
Anschluss beschlossen habe, jetzt müssten endlich die
Soldatenrenten der «Eingeborenen» angehoben werden. Seine
Ehefrau Bernadette soll ihm demnach bei der Aufführung ins Ohr
geflüstert haben: «Jacques, man muss etwas tun!»
In
Wirklichkeit war der Beschluss aber schon vorher vorbereitet
worden, durch den amtierenden Veteranenminister Hamlaoui
Mekachera – selbst ein ehemaliger Soldat, allerdings nicht im
Zweiten Weltkrieg, sondern im französischen Kolonialkrieg in
Algerien. Die algerische Presse argwöhnt deshalb, es handele
sich um eine emotional gut verpackte Publicity-Show, zumal der
Beschluss sich natürlich in einem finanziellen Rahmen bewegt,
der den französischen Staatshaushalt nicht eben zu sprengen
droht. In Wirklichkeit, so kritisieren jedenfalls der ‘Quotidien
d’Oran’ und die algerische Tageszeitung ‘La Tribune’,
wolle Chirac 6 Monate vor seinem definitiven Abtritt von der
politischen Bühne noch einmal mit einem positiven Akt in die
Geschichte eingehen. Rund um dieses, nun ja, inszenierte
Rührstück (auch wenn die materielle Verbesserung für die
Betroffenen natürlich uneingeschränkt zu begrüben
ist !) versuchte man von bürgerlicher Seite in den vergangenen
Wochen, in Ansätzen einen neuen Kuschelkonsens zu kreieren.
Chirac und Jamel, Seite an Seite in bestem Einverstädnis, und
Jamel bekennt auf der Titelseite des sozialliberalen
Wochenmagazins « Le Nouvel Observateur »: « Warum ich Frankreich
liebe »... Doch sollte man sich an solchen störenden
Oberflächlichkeiten wohl tatsächlich nicht aufhalten.
Fundamentaler und wichtiger erscheint das Stück historische
Realität, das bislang aus den Köpfen sehr vieler Franzosen
verdrängt war und aus diesem Anlass nun zum Vorschein gekommen
ist.
Neben dem Auftritt Chirac kritisieren algerische Presseorgane,
dass der Film des –- selbst ebenfalls aus Algerien stammenden –-
Regisseurs Rachid Bouchareb nur einen Auszug der historischen
Realität wiedergebe und daher verzerrend wirke. Er zeigt nämlich
solche Soldaten, die sich aus welchen Motiven auch immer
freiwillig verpflichteten. Dabei gab es aber in Algerien auch
ein erhebliches Mab
an Zwangsrekrutierung. Nicht zuletzt scheint aber auch die alte
algerisch-marokkanische Rivalität eine Rolle zu spielen: Der
Film sei durch das marokkanische Königshaus mit gesponsert
worden, das sich damit ein schöneres Image zulegen wolle, zumal
auch Jamel Debbouze marokkanischer Herkunft ist. In dem Film
spielt er allerdings einen Algerier, und er spielt ihn gut.
Winziges störendes Detail am Rande: Der unwahrscheinliche
arabisch-maghrebinische Dialekt, den die Protagonisten sprechen
und der wohl eine Art Algerisch darstellen soll (tatsächlich
aber von Menschen marokkanischer und tunesischer Herkunft
gesprochen wird) dürfte in Algerien Seltenheitswert haben...
Editorische Anmerkungen
Der Text wurde uns vom Autor am 3.11.06 zur
Verfügung gestellt.