Marxistische Lehrbriefe
Die marxistische Auffassung der Erkenntnis (Erkenntnistheorie)
11/06

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Können wir die uns umgebende Welt erkennen? Wahrscheinlich wird jeder "normal" denkende Mensch über eine solche Frage erstaunt sein und sinngemäß antworten: "Natürlich können wir das! Wenn diese Welt ein Buch mit sieben Siegeln wäre, wie könnten wir wissen, wann wir säen und ernten oder wie wir Häuser bauen, Maschinen herstellen und Krankheiten bekämpfen können?"

Führen wir diesen richtigen Gedankengang zu Ende. Wir können nur leben, weil und insofern wir die uns umgebende natürliche und gesellschaftliche Wirklichkeit hinreichend genau erkennen. In allen Fällen, in denen es - etwa durch Fehlentwicklungen in der Geschichte der Lebewesen, durch Geburtsfehler, Unglücksfälle und dergleichen - dazu kommt, daß die Wahrnehmungsfähigkeit von Lebewesen beeinträchtigt oder gar zerstört wird, wird die Existenz dieses Lebewesens selbst bedroht. Ein Tier, das - statt dem Feuer auszuweichen - sich in die Flammen stürzt, verbrennt. Ein Lebewesen, das nicht die Fähigkeit besitzt, sich in seiner Umwelt richtig zu orientieren, für sein Leben bedeutungsvolle Veränderungen in dieser Umwelt wahrzunehmen und darauf zweckentsprechend zu reagieren, geht im Kampf ums Dasein unter.

Die Geschichte des Lebens bewirkt also, daß im Daseinskampf nur besteht, was fähig ist, biologisch zweckentsprechend, also hinreichend genau die Umwelt und die von ihr ausgehenden Wirkungen zu erkennen und sich entsprechend zu verhalten. Da der Mensch die höchste Stufe in der Geschichte des Lebens erklommen hat, ist bei ihm diese Fähigkeit, seine Umwelt richtig zu erkennen und darauf zweckentsprechend zu reagieren, am höchsten ausgebildet.

Hier treten jedoch eine Reihe von Fragen auf:

Zugegeben, daß wir unsere Umwelt erkennen, daß solche Erkenntnis Bedingung des Lebens ist: aber wie weit und wie gründlich können wir erkennen? Gibt es nicht doch eine Schranke für unsere Erkenntnisfähigkeit? Wie können wir wirklich wissen, ob unsere Erkenntnis wahr ist? Was ist das überhaupt, Erkenntnis und wie entsteht sie?

Unsere erste Frage lautet also:

Was ist Erkenntnis?

Die Erkenntnis ist dos Ergebnis der Tätigkeit unserer Sinnesorgane, der Nerven, die diese Sinnesorgane mit dem Gehirn verbinden und schließlich dieses Gehirnes selbst. Diese Tätigkeit, der Erkenntnisprozeß, wird ausgelöst durch unser Wirken in der Welt, durch die Einwirkungen, die dabei von den Dingen und Erscheinungen in Natur und Gesellschaft auf unseren Organismus ausgeübt werden. Wir haben gesehen, daß wir uns im Daseinskampf nur bewähren können, weil unsere Sinnesorgane (Auge, Ohr, Nase, Haut usw.) und unser Gehirn die uns umgebende naturliche und gesellschaftliche Welt zureichend genau widerspiegeln. Diese Reproduktion der Wirklichkeit in unserem Gehirn, das ist die Erkenntnis, oder - genauer gesogt: Erkenntnis ist Widerspiegelung, Abbildung der außerhalb unseres Bewußtseins und unabhängig von ihm existierenden Wirklichkeit, der objektiven Realität, in unserem Bewußtsein.

In welchem Sinn spricht der dialektische Materialismus von Widerspiegelung oder Abbildung?

Die marxistische Philosophie unterscheidet genau zwischen Materiellem und Geistigem und geht davon aus, daß unsere Erkenntnis eine geistige Widerspiegelung von Materiellem ist. Der Widerspiegelungsvorgang selbst ist kompliziert und durchläuft - der Hauptsache nach - zwei Stufen, eine sinnliche und eine gedankliche.

Auf der ersten Stufe, der Stufe der Sinneswahrnehmungen, haben wir sinnlich-konkrete Abbilder der Wirklichkeit. Diese sinnlich-konkreten Abbilder gleichen nicht fotografischen Kopien, bauen sie sich doch nicht aus nur optisch vermittelten Elementen wie Formen, Farben, räumlichen Verhältnissen auf, sondern es gehen in sie auch akustische Wahrnehmungen wie Töne sowie Geruchs- und Tastempfindungen usw. ein. Außerdem ist etwa die Farbempfindung "rot" eine subjektive Übersetzung von Licht bestimmter Wellenlänge. Kurzum: selbst für das sinnlichkonkrete Abbild gilt nicht die dem Marxismus bisweilen unterschobene (und danach "kritisierte") Ansicht, Abbildung bedeute fotografische Kopie.

Vor allem aber ist die höhere Stufe des Abbilds erst auf der gedanklichen Ebene der Widerspiegelung erreicht, also im Begriff, Urteil, Schluß, der Theorie usw. Niemand wird jedoch annehmen, daß ein Begriff die Fotokopie dessen ist, was in der Wirklichkeit existiert und von ihm, dem Begriff, abgebildet wird. Es handelt sich hier vielmehr darum, daß unsere Sinnesorgane, Nerven und das Gehirn die Wirklichkeit in einem komplizierten Prozeß in ein geistiges Abbild dieser Realität Übersetzen. Dabei sprechen wir deshalb von Abbild, weil zwischen dem Abgebildeten (dem Ding, der Eigenschaft) und dem Abbild (dem Begriff usw.) eine eindeutige Beziehung besteht. (Die Wissenschaftler sprechen von "Isomorphie").

Versuchen wir, uns das an einem Beispiel zu verdeutlichen.

Unsere Sinnesorgane vermitteln und zunächst vom (reinen) Wasser das Abbild: färb-, geruch- und geschmacklose Flüssigkeit, keine Säure, keine Lauge. Dieses Abbild wird durch unsere Sinnesorgane vervollständigt: zwischen 0 und - 1°C verwandelt sich Wasser in Eis. Es ist nun fest und von weißlicher Farbe, ansonsten jedoch unverändert. Andererseits verwandelt sich das Wasser der Form nach ab +100°C in Dampf (Wir vermerken der Vollständigkeit halber, daß das nur bei normalem Luftdruck so ist).

Dieses sinnlich-konkrete Abbild des Wassers war den Menschen nicht von allem Anfang an gegeben. Zunächst nahmen die Menschen nur wahr, daß Wasser, wenn es sehr kalt wurde, "aufhörte", "Wasser" zu sein. Denn, daß auch Eis Wasser ist, dazu mußte erst eine gewisse Erfahrung gewonnen werden. Ebenso nahmen die Menschen zunächst auch nur wahr, daß Wasser, wenn es sehr erhitzt wird, "verschwindet". Den Zusammenhang von flüssigem und gasförmigem Wasser lernten sie erst sehr spät kennen. Die Temperatur messen können wir erst seit einigen Hundert Jahren. Seitdem auch wissen wir um den Gefrier- und Siedepunkt des Wassers. So ist in unseren Abbildern auch die Geschichte unseres Wissens, unseres Kampfes um Wissen enthalten. Das gilt selbst für die sinnlich-konkreten Abbilder.

Dieses Abbild vom Wasser, das uns die Sinnesorgane liefern, ist schon von großer Wichtigkeit für unser Wissen und Handeln. Dennoch ist es nicht bereits das volle Abbild der Wirklichkeit. Erstens kann jeder Körper in den drei Zustandsformen fest, flüssig oder gasförmig auftreten. Unter den Flüssigkeiten gibt es färb-, geruch- und geschmacklose, die weder Säuren noch Laugen und dennoch kein Wasser sind. Freilich gehen diese weder bei 0° in den festen noch bei +100° in den gasförmigen Zustand Über. Unser von den Sinnesorganen vermitteltes Abbild des Wassers ist also in gewissem Sinne genau, eindeutig. Dennoch ist hierin noch nicht widergespiegelt, abgebildet, was im wissenschaftlichen Begriff des Wassers, H2O, ausgesagt wird: Wasser besteht aus Grundbestandteilen, so genannten Molekülen; diese setzen sich ihrerseits jeweils aus zwei Atomen Wasserstoff und einem Atom Sauerstoff zusammen. Dem liegen dann wiederum Kenntnisse über den Aufbau des Wasserstoff- und Sauerstoffatoms zugrunde usw. usf. Diese gedankliche, begriffliche Abbildung der Realität stellt erst die wirkliche, wesentliche Erkenntnis dar. Halten wir also fest: Abbild bedeutet sinnliche und gedankliche Reproduktion der Realität durch unser Gehirn.

Nun sagen Theologen: was Ihr Marxisten Materie nennt, ist durch eine unüberbrückbare Kluft vom Bewußtsein, vom Geist getrennt. Wie soll der Geist, etwas prinzipiell anderes als die Materie, diese Materie abbilden können? Und sie sogen weiter: Nur wir Christen können mit Recht die Erkenntnis als Widerspiegelung des Seins in unserem Bewußtsein erklären. Denn nach unserer Meinung ist die Welt Gottes Werk. Also sind ihre Grundlagen, ihre Ordnung, ihre Struktur göttlichen, geistigen Wesens (also in Wahrheit gar nicht Materie; ihre "Materialität" ist nur Hülle, nur Schein). Da aber unser Geist der "göttliche Funke" in uns, eine Art Miniaturausgabe des göttlichen Geistes ist, können wir mit ihm die (letztlich geistige Natur) der Außenwelt abbilden. Geist spiegelt sich in Geist wider.

Was ist dazu zu sagen?

Der göttliche Geist ist - nach Ansicht selbst der Jesuiten - nur zu "verstehen" als die "Verneinung der entsprechenden geschöpflichen Seinsweise" (Philosophisches Wörterbuch", Herder-Verlag, 1947, S. 143): Ist der Mensch sterblich, so Gott nichtsterblich oder unsterblich usw. Der göttliche Geist ist also eine Sammlung von Verneinungen. Aber man mag noch so viele Verneinungen, noch so viele Nichts summieren, heraus könnt doch immer nur: das Nichts. X mal O ist eben = O. Dieses Nichts machen die Theologen in doppelter Weise zum "Fundament" der Erkenntnis.

Erstens: Was ist unser Geist, mit dem wir erkennen? Ein Teil des göttlichen Geistes, des Nichts! Zweitens: Was ist das, was wir in der Welt erkennen, in unserem Geist abbilden? Den Niederschlag des göttlichen Geistes, des Nichts!

Also: mit Nichts nehmen wir Nichts wahr.

Was die behauptete unüberschreirbare Kluft zwischen Materie und Bewußtsein angeht, liegen die Dinge so: Das Bewußtsein ist nichts anderes als eine Eigenschaft hochorganisierter Materie, des Gehirns. In der Geschichte der Lebewesen ist die Höherentwicklung untrennbar mit der Herausbildung und Entwicklung des Gehirns und des Nervensystems verbunden. Davon abhängig entwickelten sich die "geistigen" Fähigkeiten bei den Tieren. Je höher bei einer Tierart Nerven und Gehirn entwickelt sind, desto größer sind dessen geistige Leistungen, desto höher ist seine Stellung in der Naturordnung. Am höchsten entwickelt ist das alles beim Menschen. Nerven, Gehirn, Bewußtsein sind Naturprodukte und folglich fähig, eine solche Verbindung unseres Bewußtseins zur Natur aufrechtzuerhalten, wie sie in Gestalt unserer Erkenntnis, unserer geistigen Widerspiegelung der Natur durch unser Gehirn, vorliegt. Schließlich entwickelte sich das Gehirn im Dienste des Lebens genau zu diesem Zweck.

Der dialektische Materialismus versteht also unter Widerspiegelung, Abbildung des Seins, die sinnlich und gedankliche Reproduktion dieses Seins in unserem Bewußtsein. Diese Abbilder geben uns hinreichend eindeutige, hinreichend genaue Kenntnisse von den Dingen und ihren Eigenschaften und ermöglichen so unser sachgemäßes Handeln.

Wir sagten eben, es handele sich um "hinreichend genaue" Kenntnisse. Das ist so zu verstehen: Wir dringen nicht mit einem Mal in die "Geheimnisse der Natur" ein und erlangen kein ein für allemal gültiges Abbild. Vielmehr handelt es sich hier um einen Prozeß, der von vielen Bedingungen abhängig ist. Zum Beispiel von unseren Sinnesorganen. Es läßt sich nachweisen, daß diese und ihre Leistungen sich im Laufe der Geschichte veränderten. Der Primitive sieht z.B. beim Fährtenlesen Dinge, die wir nicht mehr sehen, wofür wir Dinge wahrnehmen, die ihm verschlossen sind. Sodann können wir unsere natürlichen Sinnesorgane durch künstliche - Teleskop, Mikroskop, Radiotechnik usw. - vervollständigen, erweitern, verlängern. Der Genauigkeitsgrad unserer Widerspiegelung der Welt ist also auch von technischen Bedingungen abhängig. Der Grad unseres Eindringens in die Natur, ihrer Abbildung in unserem Bewußtsein, ist auch abhängig von den sich ständig verfeinernden gedanklichen, logischen Verfahren und von unserer Bildung. Damit sind unmittelbar gesellschaftliche Verhältnisse ins Spiel gebracht.

Das alles bedeutet, daß unsere Abbilder der Wirklichkeit nicht, sobald wir sie gewonnen haben, ein für allemal gelten. Sie werden verbessert, entwickeln sich. Doch darauf wollen wir später genauer eingehen.

Ursprung und Ziel unserer Erkenntnis

Unser Denken, unser Geist erwachte in der Arbeit, in der zur Fristung des Lebens notwendigen Tätigkeit, in der Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur. Diese lebensnotwendige Praxis schafft den Zusammenhang des Menschen mit seiner natürlichen und gesellschaftlichen Umwelt. In der er seine Umwelt verändert, offenbaren sich ihm deren Eigenschaften. Erst durch die Arbeit erfährt der Mensch, was er zuvor noch nicht wußte. Die Dinge gebrauchen heißt, sie zu erkennen. Nicht zufällig bringt unsere Muttersprache die Erkenntnis, den Begriff, mit dem Er- und Begreifen, mit dem Handhaben in unmittelbaren Zusammenhang.

Selbst die höchste Form der Erkenntnis, die Wissenschaft, entspringt der Arbeit, der Praxis. Die beiden ältesten bekannten Wissenschaften sind Geometrie und Astronomie. Ersrere hat ihren Namen von der Erd-Vermessung (geo = Erde, metrie = Vermessung) und auch die Astronomie entsprang keinesfalls dem Müßiggang, sondern dem Bestreben, das Wetter vorhersagen zu können. In den Flußniederungen zwischen Euphrat und Tigris oder am Nil war solche Kenntnis lebensnotwendig, weil sich danach die Regenzeiten und die damit zusammenhängenden Überschwemmungen bestimmen ließen. Besonders deutlich ist der Zusammenhang von Praxis und Erkenntnis in der Periode des aufkommende^ Kapitalismus wahrzunehmen: die Bedürfnisse der Industrie wirken als

stärkste Triebkraft für den wissenschaftlichen Fortschritt. Für die Naturwissenschaften liegt das auf der Hand. Aber der Kapitalismus hat auch die ökonomische Wissenschaft und in deren Gefolge überhaupt die Wissenschaft von den gesellschaftlichen Beziehungen zwischen den Menschen stark vorangetrieben. Wissenschaft, Erkenntnis überhaupt ist also aus den Erfordernissen der Praxis geboren.

Der Ursprung unserer Erkenntnis, das ist die Praxis.

Es waren Marx und Engels, die die entscheidende Rolle der Praxis fUr die Erkenntnis und Wissenschaft entdeckten. Sie zeigten, daß die tägliche Produktionspraxis des Menschen nicht nur die materiellen Existenzbedingungen der Gesellschaft erzeugt, sondern zugleich die Grundlage ihrer Erkenntnis ist. Praxis weist der Erkenntnis die Aufgaben, lenkt ihre Aufmerksamkeit auf zu lösende Probleme. Praxis korrigiert falsche Wege unseres Erkenntnisstrebens. Praxis erweitert ständig unsere Erkenntnismöglichkeiten, indem sie unsere natürlichen Erkenntnisorgane durch künstliche wie Mikroskop, Teleskop, Radiotechnik usw. erweitert. Andererseits wirkt die Wissenschaft machtvoll auf die Praxis zurück, wird sie heute immer unmittelbarer zur Produktivkraft, erweist sie sich in Gestalt des Marxismus gleichsam als der Scheinwerfer, der den Weg in eine bessere Zukunft der Menschheit erleuchtet.

Es liegt ein wechselseitiger Zusammenhang von Theorie und Praxis vor, wobei die Praxis die letzten Endes bestimmende Seite darstellt. Im Unterschied zum früheren Materialismus bezieht der Marxismus die Praxis allseitig in den Erkenntnisprozeß ein. Sie ist Grundlage und Ziel der Erkenntnis. Sie ist auch, wie noch zu zeigen sein wird, der Prüfstein für die Wahrheit unserer Erkenntnis.

Der Weg der Erkenntnis

Wir erkennen, bilden die Welt nicht durch einen einmaligen Akt in unserem Bewußtsein ab. Vielmehr durchläuft unsere Erkenntnis mehrere zusammenhängende Stufen. In der Praxis, die uns unmittelbar mit der Außenwelt verbindet, entstehen zunächst Empfindungen und Wahrnehmungen als Ausgangspunkt der Erkenntnistätigkeit, die sodann in eine weitere, die gedankliche Stufe einmündet, worauf dann die Erkenntnis wieder zur Praxis zurückkehrt.

Die sinnliche Erkenntnisstufe

Empfindungen und Wahrnehmungen sind die unmittelbare Verbindung des Bewußtseins mit der Außenwelt. Sie sind also die erste Stufe unserer Erkenntnis, gewissermaßen die erste, noch rohe Form der Widerspiegelung der Außenwelt in unserem Bewußtsein. Die Empfindungen verwandeln die Energie des von der Außenwelt auf uns ausgeübten Reizes in eine Bewußtseinstatsache.

Damit stellt sich folgendes Problem: die Richtigkeit unserer Erkenntnis hängt von der Richtigkeit ihrer ersten Stufe ab. Denn Demokrit hatte völlig recht, als er feststellte, daß unser Denken Über kein anderes Quellenmaterial verfügt als über das, welches ihm die Sinne vermitteln. Also könnten wir nichts erkennen wenn unsere Sinnesorgane uns nur täuschende Abbilder von der Umwelt liefern wurden. Es ist aber bekannt, daß unsere Sinnesorgane solche täuschenden Bilder liefern. So sehen wir die Sonne als eine Scheibe, obgleich wir heute wissen, daß sie eine Kugel ist. Oder ein aus dem Wasser herausragender Stock erscheint als gebrochen, obwohl er es gar nicht ist. Dazu kommt noch, daß in unseren Sinneswahrnehmungen ohne Zweifel auch noch sehr persönliche Abweichungen von der Wirklichkeit möglich sind (z.B. bei Farbenblindheit). Die Frage ist: sind unsere sinnlichen Abbilder von dem, was sie wirklich abbilden, so verschieden - oder: sind die Abweichungen des Abbildes vom Abgebildeten so groß und nicht zu überwinden -, daß wir im Endergebnis die Welt eben doch nicht wirklich erkennen können?

Die Antwort hierauf ist ,gar nicht so schwer. Fehler einzelner Sinnesorgane werden oft schon durch das Zusammenwirken mehrerer Sinnesorgane beseitigt. So können wir durch Betasten des aus dem Wasser herausragenden Stockes feststellen, daß er nicht gebrochen ist.

Erfahrungen und Verallgemeinerungen aus einer Unzahl von Empfindungen und Wahrnehmungen helfen uns, unsere Sinnesdaten zu berichtigen. Darum wissen wir ja - trotz des täuschenden Bildes unseres Auges - daß die Sonne eine Kugel ist. Vor allem aber stoßen wir immer wieder auf dos grundlegende Argument: Wenn wir die Welt nicht hinreichend richtig erkennen wurden, wenn im Laufe der Geschichte, der Praxis, unsere Fehler nicht berichtigt wurden, so daß wir die Welt stets genauer erkennen, so wären wir nicht imstande zu arbeiten, unserer Arbeitsverfahren, die Technik höherzuentwickeln, ja, wir wären schon längst ausgestorben.

Die Sinnesorgane haben sich im Verlaufe der biologischen Entwicklung bereits im Tierreich in der ständigen Wechselwirkung zwischen Organismus und Umwelt so weit vervollkommnet, daß sie -trotz unbezweifelbarer subjektiver Verzerrungen - uns die Umwelt im wesentlichen zureichend genau abbilden und uns so die richtige Orientierung in unserer Umwelt ermöglichen, der Mensch würde sich nicht biologisch seiner Umwelt anpassen können, wenn seine Empfindungen ihm nicht eine objektiv-richtige Vorstellung von dieser Umgebung gäben. Unser Denken, also die höhere Erkenntnisstufe ist nur wahr, weil die Empfindungen, auf die allein sich das Denken stützt, die Wirklichkeit im wesentlichen richtig abbilden. Trotz allem Subjektivem widerspiegeln unsere Empfindungen und Wahrnehmungen dem Wesen der Sache nach Objektives!

Die sinnliche Erkenntnisstufe umfaßt Empfindungen, Wahrnehmungen und Vorstellungen. Letztere sind eine Art Bindeglied zwischen sinnlicher und gedanklicher Erkenntnis. Vorstellungen entstehen durch die ständige Wiederholung und Vergleichung von Empfindungen. Sie vereinigen solche Empfindungen schon zu einem Ganzen. So entsteht aus der Summe unserer Empfindungen und Wahrnehmungen die Vorstellung eines bestimmten Hauses. Die Vorstellung enthält bereits gewisse Keime von Verallgemeinerung, wenn auch noch auf der Stufe der unmittelbar sinnlichen Eindrücke. Denn während die Empfindung einer Farbe nur vorhanden ist, sobald Licht entsprechender Wellenlänge auf unser Auge wirkt - also ein unmittelbarer Kontakt mit der Umwelt besteht - können wir uns Vorstellungen auch bei Abwesenheit des vorgestellten Gegenstandes (zum Beispiel des genannten Hauses) bilden. Wir haben die Vorstellung von diesem Haus in unserem Bewußtsein, obgleich dieses Haus vielleicht abgebrannt ist, gar nicht mehr existiert. Wir sehen also, daß die Vorstellung bereits gewisse Wege öffnet zu einer nicht mehr unmittelbar sinnlichen Erkenntnis. Das ist dann die zweite, die gedankliche Erkenntnisstufe.

Die gedankliche Erkenntnisstufe

Über der sinnlichen erhebt sich die gedankliche Erkenntnisstufe. Obgleich beide untrennbar verbunden sind, stellt die gedankliche Erkenntnisstufe dennoch eine völlig neue, wesentlich höhere Qualität dar. Die Möglichkeiten, die Realität unmittelbar sinnlich zu erfassen, sind begrenzt. Die Lichtgeschwindigkeit von 300 000 km je Sekunde oder die Kleinheit eines Elektrons sind "Größen", die unseren Empfindungs- und Vorstellungsbereich überschreiten. Oder man denke an die Weiten des Weltenraumes! Ein einziges Lichtjahr, das heißt, die Strecke, die ein Lichtstrahl in einem Jahr durcheilt, beträgt 9,5 Billionen km. Wir wissen aber von Sternensystemen, die nicht ein Jahr, nicht ein paar Dutzend Jahre, auch nicht ein paar Tausend oder gar Zehntausend Jahre entfernt sind, sondern Millionen und sogar Milliarden Jahre. Das Lichtjahr verhält sich zu solchen Entfernungen wie ein Sandkorn in der Wüste. Das alles übersteigt unser sinnlich-anschauliches Vorstellungsvermögen. Dennoch ist das alles wirklich so. Wir wissen darum und besitzen in unserem Erkenntnisvermögen einen "Apparat", um das zu erfassen. Dieser Apparat, das ist unsere gedankliche Erkenntnisstufe. Er umfaßt Begriffe, Urteile, Schlüsse, Hypothesen (wissenschaftliche Vermutungen, Annahmen), Theorien usw. Dieses gedankliche Eindringen in die tieferen Geheimnisse der Welt gestattet uns sogar, Geräte zu konstruieren, um die Lichtgeschwindigkeit, das Elektron, die Weiten des Weltraumes gleichsam künstlich "wahrzunehmen".

Die Geschwindigkeit des Lichtstrahles sehen wir nicht, aber unsere Instrumente "sehen" sie für uns und ermitteln sie mit großer Genauigkeit.

Nehmen wir ein Beispiel. Newton (1643 - 1727) entdeckte das Gesetz der Schwerkraft (der Gravitation). Das Gesetz verallgemeinert unsere Erfahrung, daß die Körper im erdnahnen Raum von der Erde angezogen werden, auf dem kürzesten Wege zur Erde fallen. Newton hat das allerdings nicht nur für die Erde formuliert, sondern ganz allgemein festgestellt, daß Massen eine solche Anziehungskraft aufeinander ausüben. Er hat die Größe dieser Kraft errechnet und uns so befähigt, zum Beispiel beim Weltraumflug genau zu wissen, wie groß die Erdanziehungskraft ist, die eine Mondrakete beim Verlassen des erdnahen Raumes überwinden muß bzw. mit welcher Anziehungskraft beim Eintritt dieser Rakete in das Schwerefeld des Mondes zu rechnen ist. Natürlich haben die Menschen in der runden Million Jahre, die sie wohl unsere Erde bevölkern, täglich unzählige Male die Tatsache des Fallens von Körpern wahrgenommen, ohne auf das Gravitationsgesetz zu kommen. Kein Wunder, denn das von Newton formulierte Gesetz, das alle solche Fall-Vorgänge regiert, stellt selbst keine solche unmittelbar sinnliche Wahrnehmung dar. Es ist vielmehr eine wissenschaftliche Verallgemeinerung aus einer Unzahl solcher Fälle. Mit dieser Verallgemeinerung war jedoch mit einem Schlag eine neue, wirklich wesentliche Erkenntnis gewonnen, deren Auswirkung bis in die fernste Ferne menschlichen Wirkens anhalten wird. Aber diese Verallgemeinerung war erst auf einer hohen Stufe gedanklicher Entwicklung möglich. So mußte die Menschheit zum Beispiel bereits den Begriff eines "allgemeinen Gesetzes" aus der Fülle ihrer Erfahrungen herausgearbeitet haben. Und selbst dann war wohl noch ein wissenschaftliches Genie, eben Newton, zur Entdeckung dieses Gesetzes nötig.

Die Frage ist nun, wie sich solche gedanklichen Formen der Erkenntnis - Begriff, Urteil, Schluß usw. - zur Wirklichkeit verhalten. Sind sie wahr, objektiv wahr, obwohl sie doch keine unmittelbar sinnliche Abbildung der Realität darstellen?

Halten wir zunächst fest, daß wir unter objektiver Wahrheit die Übereinstimmung unserer Erkenntnis mit der objektiven Realität verstehen. Diese Übereinstimmung bedeutet, daß in jeder Wahrheit Objektives widergespiegelt wird. Objektive Wahrheit ist also jener Inholt der Erkenntnis, der vom Subjekt unabhängig, der weder vom Menschen noch von der Menschheit abhängig ist.

Wir haben gesagt, daß sinnliche und gedankliche Formen der Erkenntnis Widerspiegelungen der Realität sind. Aber während die sinnliche Widerspiegelung es mit einzelnen , konkreten Seiten und Erscheinungen, mit ihrer äußeren Natur zu tun hat, faßt die gedankliche Form diese einzelnen Seiten zusammen. Sie tut das jedoch nicht im Sinne einer Summierung, bei der auch das Zufällige mitzählt, sondern im Sinne einer Verallgemeinerung, die vom Nebensächlichen absieht. Dabei werden gewisse tiefere, innere, hintergründige Seiten und Erscheinungen herausgearbeitet. Die gedankliche Widerspiegelung sucht innere Ordnung, wesentliche Zusammenhänge, kurz: das Wesen der Dinge und Erscheinungen selbst aufzudecken. Während zum Beispiel die Sinnesorgane wahrnehmen, daß auf den Blitz der Donner folgt, verallgemeinert die gedankliche Erkenntnis das zu dem Gesetz: auf jeden Blitz folgt ein Donner. Sie erklärt, warum der Donner entsteht, wie er innerlich mit dem Blitz zusammenhängt: der Blitz zerteilt Luftschichten, die danach wieder zusammenstoßen und dabei den Donner erzeugen. Weiter dringt die gedankliche Erkenntnisform zur Erklärung der Ursachen des Gewitters vor. Oder - um ein anderes Beispiel zu wählen, die gedankliche Erkenntnisweise begnügt sich nicht mehr damit, das Verhältnis zwischen dem einzelnen Arbeiter und seinem kapitalistischen Ausbeuter zu untersuchen, sondern sie sieht die Beziehung der Klasse der Arbeiter zur Klasse der Kapitalisten, sieht von unwesentlichen Seiten ab (ob dieser oder jener Kapitalist persönlich ein guter, untadeliger Mensch ist oder nicht und dieser oder jener Arbeiter ein ehrenwerter Charakter oder nicht). Gedankliche Erkenntnisstoffe sieht, daß die Klasse der Arbeiter - zu der auch die Angestellten gehören - die Gesamtheit der Menschen ist, die keine Produktionsmittel besitzt und darum ihre Arbeitskraft, wenn sie leben will, an die Klasse der Produktionsmittelbesitzer, das heißt, an die Kapitalistenklasse verkaufen muß usw. usf.

Die gedankliche Erkenntnisstufe ist also gekennzeichnet durch die Fähigkeit, von den zufälligen Einzelerscheinungen zur allgemeinen Gesetzlichkeit, vom Schein zum Eigentlichen, zum Wesen vorzudringen,die Grenzen der Gegenwort zu sprengen und die Dinge in ihrer Entwicklung, in ihrem Werden und Vergehen, in ihrer Vergangenheit und Zukunft zu sehen.

Das alles vermag die gedankliche Erkenntnisstufe, weil sie nicht unmittelbar mit der objektiven Welt verbunden ist. Diese Bindung "überläßt" sie vielmehr der sinnlichen Erkenntnisstufe. Das Verhältnis der gedanklichen Erkenntnis zur Realität ist indirekt, nämlich durch die sinnliche Erkenntnisstufe vermittelt. Darum ist die gedankliche Erkenntnis gegenüber den Sinnesdaten unabhängiger. Das Denken muß sich nicht an bestimmtes Sinnesmaterial halten. Es kann davon absehen, kann allseitiger, verallgemeinernd vorgehen und damit viel tiefer- und weiterreichende Erkenntnisse gewinnen.

Allerdings liegt hierin auch eine große Gefahr, die, sich vom Leben, von der Wirklichkeit zu lösen, phantastisch, in einem lebensfremden Sinne abstrakt zu werden. Davor bewahrt nur die ständige Verbindung mit der Praxis, mit dem Leben, mit der Produktion, mit gesellschaftlicher Praxis und dem Kampf der Massen. Hier liegt der tiefere, erkenntnistheoretische Grund dafür, daß die ständige Wechselwirkung zwischen Erkennen und Praxis zwischen Theorie und Praxis die Grundlage unseres Wissens und seiner Höherentwicklung bildet.

Begrenztheit und Unbegrenztheit unserer Erkenntnis

In der Philosophie gibt es eine Richtung, die argumentiert etwa folgendermaßen: "Die einzige Brücke zwischen unserem Bewußtsein und dem, was wir Außenwelt nennen, das sind unsere Empfindungen. Wenn wir prüfen wollen, ob das, was in unsereren Empfindungen ist, diese Außenwelt richtig wiedergibt, wenn wir also unsere Abbilder mit jener Außenwelt vergleichen wollen, die sie abbilden, so haben wir dazu stets nur wieder Empfindungen. Denn wir haben keinen anderen Zugang zur Außenwelt. Das ist die berühmte Schlange, die sich selbst in den Schwanz beißt. Aus dem Gefängnis unserer Empfindungen kommen wir nie heraus. Was ihr die Außenwelt nennt, ist in Wahrheit nur die Summe unserer Empfindungen. Die Welt ist mein Geist." Das sagt der subjektive Idealismus. Großzügigerweise gesteht er bisweilen noch zu: Es mag sein, daß unsere Empfindungen die Außenwelt richtig wiedergeben. Nur wissen können wir das nicht. Darum heißt diese Richtung auch Agnostizismus (a = nicht, gnoscere = wissen).

Es scheint so, als ob der Agnostizismus mit Argumenten schwer zu widerlegen sei. In Wirklichkeit widerlegt unsere Praxis ihn ständig. Sobald wir, je nach den Eigenschaften, die wir von einem Gegenstand erfahren haben, diesen Gegenstand selbst erzeugen und diesen noch dazu bringen können, sich entsprechend von uns vorher festgelegten Zielen und Zwecken zu verhalten, ist praktisch bewiesen, daß unsere Erkenntnis dieses Gegenstandes genau ist. Wie weit wir dabei mit unserer Erkenntnis in Bereiche vorgedrungen sind, die bis vor kurzem noch scheinbar unenthüllbares Naturgeheimnis waren, das zeigen Weltraumfahrt und Atomphysik. Die moderne Technik und Industrie liefern täglich neue Beweise für die Kraft unserer Erkenntnis. Und auch unser Agnostiker vertraut im Alltagsleben dieser Kraft: Er setzt sich ohne Zögern in ein Flugzeug, zweifelt nicht daran, daß wir die Gesetze der Aerodynamik und des Flugzeugbaus genau kennen. So fliegt er zum nächsten Philosophenkongreß, auf dem er gegen die marxistische Erkenntnistheorie sein Verslein von der Unerkennbarkeit der Welt vortragen wird.

Der Agnostizismus tritt uns in verschiedenen Spielarten entgegen. Die ganz radikalen Agnostiker, die jede Erkenntnis leugnen, sind äußerst selten. Häufiger ist die Richtung, die eine gewisse, mehr vordergründige Erkenntnis der unmittelbar gegebenen Naturdinge, des positiv Vorhandenen, zugesteht, jedoch das Eindringen in ursächliche Zusammenhänge zwischen den Dingen und Erscheinungen, das Aufdecken allgemeiner Gesetze, für sinnlos hält. Diese Richtung heißt "Positivismus". Insbesondere im Hinblick auf Geschichte und Gesellschaft leugnet diese Richtung das Vorhandensein oder die Erkenntnis von Gesetzen.

Marx hebt einmal geschrieben: Rührten die allgemeinsten Sätze der Geometrie an menschliche Interessen, so fänden sich auch Menschen, die diese Grundgesetze der Geometrie bestritten. Ebenso ist es mit der Frage der Erkennbarkeit der Welt. Einerseits braucht der Kapitalismus für die Entwicklung der Industrie ein Höchstmaß an Erkenntnis von Naturgesetzen. Andererseits steht er aber vor dem Gebot, die Erkenntnis der Natur und - vor allem - der Gesellschaft einzuschränken oder ganz zu leugnen, weil der Kapitalismus an der Erhaltung des Bestehenden zutiefst interessiert ist. Was man nicht erkennen kann, kann man auch nicht verändern.

Sofern in der Natur und Gesellschaft keine Gesetze herrschten oder wir unfähig wären, diese zu erkennen, wäre es unmöglich, wissenschaftlich genaue Aussagen über die Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung zu machen. Niemand könnte dann sagen, daß der Kapitalismus vom Sozialismus abgelöst wird. Eine wissenschaftliche Politik zur Beseitigung des Kapitalismus, für eine bessere, sozialistische Zukunft des Menschengeschlechts, wäre dann nicht möglich.

Die Leugnung unserer Erkenntnisfähigkeit oder deren Begrenzung auf nächstliegend praktische und technische Dinge liegt also im Klassen Interesse des Kapitals und wird darum eifrig von seinen Ideologen betrieben. Dagegen ist die Arbeiterklasse, die die Welt sozialistisch verändern will, an der Erkenntnis der Welt brennend interessiert. Darum ist sie der Feind jeder Beschränkung unserer Erkenntnisfähigkeit, erfolge diese nun durch Philosophen oder durch Bildungspolitiker, die den Kindern des Volkes den Zugang zum Wissen erschweren.

Allerdings hat das Auftreten des Agnostizismus außer gesellschaftlichen auch gewisse Ursachen in der Kompliziertheit unseres Erkenntnisprozesses und der Beschaffenheit der Welt selbst. Es ist eine Tatsache, daß sich das Wissen der Menschheit entwickelt. Die alten Griechen glaubten, unsere Erde ende an den Pforten des Atlas, das heißt westlich der Straße von Gibraltar. Der altgriechische Philosoph Demokrit (460 - 370 v.u.Zt.) hielt die (angenommenen) Atome für die kleinsten Materiebausteine. Wir wissen es heute besser und wissen zugleich, daß unser Wissen hierüber nicht vollendet, nicht abgeschlossen ist. Mehr noch: wir wissen, daß die Welt in räumlicher und zeitlicher Hinsicht und in die Tiefe ihrer "Bausteine" unendlich ist, weiter, daß sie sich in ständiger Bewegung und Veränderung befindet.

Daraus ergibt sich, daß das Wissen eines jeden Einzelnen, aber auch das Wissen einer jeden Zeit, nicht vollständig ist, daß es bei allem Wissen auch immer Nichtwissen gibt.

Manche.kapitulieren angesichts dieser Sachlage und sagen: alles Wissen sei eitel una nicnrig. Oder sie sagen: Ihr seht, daß unser Wissen begrenzt ist, daß wir niemals alles wissen können.

Ist das ein richtiger Schluß?

So richtig es ist, daß unser jeweiliges Wissen begrenzt ist, so richtig ist es auch, daß der Mensch diese Grenzen stets erweiterte und erweitert. Die Menschheit arbeitete durch die ganze Geschichte hindurch an der fortwährenden Vervollkommnung ihres Wissens. Die Produktion, die Technik schafft ihr ständig neue Möglichkeiten des tieferen Eindringens in die "Geheimnisse der Natur." Darum ist nicht Resignation der richtige Schluß, sondern die Erkenntnis, daß zwar die Welt unendlich ist, und wir folglich nie mit der Erkenntnis zu Ende gelangen werden. Aber zugleich wird auch unser Erkenntnisvermögen, das Erkenntnisvermögen des ganzen Menschengeschlechts, stets vervollkommnet, erweitert, vertieft, so daß unser Wissen stets vervollkommnet wird.

Die marxistische Erkenntnistheorie drückt diesen Sachverhalt aus durch die Begriffe relative und absolute Wahrheit sowie durch die Beziehung zwischen beiden.

Die eine Seite, die Unvollkommenheit und Unvollständigkeit unseres Wissens, nennt der Marxismus relative Wahrheit.

Nun darf man nicht Übersehen, daß bei aller Unvollständigkeit und Unvollkommenheit auch die relative Wahrheit einen objektiven Wahrheitsgehalt besitzt. Wenn zum Beispiel der alte griechische Philosoph Anaximander (585 - 525 v.u.Z.) sagte, daß das Leben aus dem Meeresschlamm entstanden ist und der Mensch von den Fischen abstamme, so steckte darin - trotz aller später notwendig gewordenen Verbesserungen an dieser Ansicht - wie wir seit Darwin (1809 - 1882) wissen, eine wesentliche Wahrheit. Ebenso stand es um Demokrits Atomtheorie. Der objektiv wahre Gehalt solcher relativer Wahrheiten bleibt in aller Veränderung erhalten, wird durch den Fortschritt des Wissens vermehrt, während andere unrichtige Teile beseitigt, Irrtümer ausgemerzt werden. Der Grad objektiver Wahrheit, der in diesen relativen Wahrheiten enthalten ist, wird immer größer. Diese Wahrheit nähert sich immer mehr der Vollkommenheit, der Vollendung, der absoluten endgültigen Wahrheit an.

Die Menschheit kennt viele solcher endgültiger, absoluter Wahrheiten. Darunter befinden sich nicht nur banale Wahrheiten, wie jene, daß Napoleon am 5. Mai auf St. Helena gestorben ist, sondern auch solche wesentlichen wie jene, daß die Gesellschaft nur existieren und sich entwickeln kann, wenn sie arbeitet und materielle Güter erzeugt.

Dennoch wird es immer noch Unbekanntes geben, das der Mensch erst noch erkennen muß und auch erkennen wird. "Das menschliche Denken ist also seiner Natur nach fähig, uns die absolute Wahrheit, die sich aus der Summe der relativer. Wahrheiten zusammensetzt, zu vermitteln, und es tut dies auch. Jede Stufe der Wissenschaft fügt dieser Summe der absoluten Wahrheit neue Körnchen hinzu; aber die Grenzen der Wahrheit jedes wissenschaftlichen Satzes sind relativ und können durch die weitere Entwicklung des Wissens entweder weiter oder enger gezogen werden." (Lenin, Werke Bd. XIV, S. 129).

Was ist der Prüfstein für die Wahrheit unserer Erkenntnis?

Wir hoben von relativen und absoluten Wahrheiten gesprochen, haben gesagt, daß die absolute Wahrheit eine solche ist, die nicht mehr verändert, nicht vervollkommnet werden kann, was für die relative Wahrheit jedoch nicht gelte. Wie aber wollen wir überhaupt feststellen, ob ein Bewußtseinsinhalt wahr, richtig ist?

Diese Frage, die Frage nach dem Prüfstein oder Kriterium der Wahrheit, ist ein altes Problem der Philosophie. In früheren Zeiten meinten Philosophen, das Kennzeichen der Wahrheit bestehe darin, daß eine Erkenntnis klar, einleuchtend ("evident") sei. Allenfalls fügten sie dem noch ein mengenmäßiges" Merkmal hinzu: eine solche Erkenntnis müsse möglichst vielen oder gar allen Menschen einleuchtend sein. Auf dem Boden dieses Kriteriums der "Evidenz" stehen heute noch die katholischen Philosophen, wie man anhand des "Philosophischen Wörterbuchs" des Herder-Verlags (Ausgabe 1947) feststellen kann.

Das Kriterium der Evidenz ist jedoch nichts wert. Während des Mittelalters erschien es den meisten Menschen als einleuchtend, daß es Gott, Engel und Teufel, Himmel und Hölle gebe, weil davon in der Bibel, die Rede ist. Man hielt es damals für evident, daß die Erde keine Kugel ist, weil sonst unsere Antipoden (das sind die Menschen auf der uns genau entgegengesetzten Seite der Erdkugel) in den leeren Weltraum fallen müßten. Zu dieser Zeit erschien nahezu allen das geozentrische Weltbild (die Erde = geo ist der Mittelpunkt = Zentrum, um den sich die Sonne dreht), als klar. Die Mathematik weiß heute, daß es anscheinend einleuchtend klare Sätze gibt, die dennoch falsch sind.

Die Evidenz ist also kein Wahrheitskriterium. Das ist darum so, weil Klarheit eine Eigenschaft unseres Bewußtseins, also etwas völlig Subjektives ist. Was klar ist, das hängt von verschiedenen Bedingungen ab, zum Beispiel vom Grad unserer Kenntnisse, vom Verbreitungsgrad abergläubiger oder anderweitig unwissenschaftlicher Vorstellungen, von der Verdummung durch die herrschende Meinungsmaschinerie usw.

Ein wirklich wissenschaftliches Kriterium der Wahrheit muß eine subjektunabhängige Überprüfung unserer Erkenntnisse ermöglichen. Die Praktiker, die Techniker gingen bereits seit langer Zeit den Weg, die Richtigkeit oder Falschheit ihrer Einsichten durch Experimente, durch die Überprüfung anhand der Praxis festzustellen. Der dialektische Materialismus hat dies verallgemeinert und die Praxis als Prüfstein für die Wahrheit unserer Erkenntnis herausgearbeitet. Nur in der Praxis wird unser Wissen der Probe der Wirklichkeit und ihrer Prozesse unterworfen. Nur so gelangen wir zu Einsichten über den Wahrheitsgehalt vorhandener Erkenntnisse, Einsichten, die von unserem Willen und Bewußtsein unabhängig sind. Hierbei zeigt sich, ob jene Ergebnisse eintreten, die auf Grund unserer Kenntnis eines Gegenstandes eintreten müßten, ob also unsere Erkenntnis richtig, ausreichend oder unvollständig bzw. falsch war.

Dabei umfaßt das Wahrheitskriterium der Praxis die Produktion, das Experiment und den Klassenkampf.

Eine Erkenntnis kann unmittelbar oder durch Zwischenstufen vermittelt der praktischen Prüfung unterworfen werden. Friedrich Engels verweist in seiner Arbeit "Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie" auf ein berühmtes Beispiel dieser Art. Aus dem Kopernikanischen Weltbild, (die Sonne ist der Mittelpunkt unseres Planetensystems) den Kepplerschen Gesetzen der Planetenbewegungen und dem Gravitationsgesetz Newtons konnte rein rechnerisch festgestellt werden, daß es in unserem Sonnensystem mehr Planeten geben mußte, als bis zu einem bestimmten Zeitpunkt bekannt waren. Leverrier (1811 - 1877) berechnete den möglichen Standort eines dieser Planeten und Galle (1812 - 1910) entdeckte ihn, den Planeten Neptun, im Jahre 1846. Damit war ein großartiger Beweis für die Richtigkeit der Ansichten von Kopernikus und Keppler erbracht.

Es gibt auch Fälle, wo wir zur Überprüfung einer Auffassung uns nicht mehr an die Praxis wenden, weil diese Auffassung allgemeinen, unumstößlichen Naturgesetzen widerspricht. Niemand wird auf den Gedanken kommen, heute noch irgendwelche Auffassungen über ein perpetuum mobile praktisch zu erproben, weil es grundlegenden Naturgesetzen widerspricht.

Es gibt noch andere Fälle, in denen wir zur Überprüfung einer Wahrheit nicht unmittelbar an die Praxis appellieren, sondern uns mit einer logischen Überprüfung zufriedengeben können. Die logischen Regeln und Gesetze sind jedoch nur richtig, weil und insofern sie gewisse allgemeinste Gesetze und Strukturen der realen Wirklichkeit abbilden und insofern die Prüfung der Praxis Milliarden Mal bestanden haben. Die Überprüfung einer Kenntnis mittels logischer Gesetze ist also auch in diesem Fall eine mittelbare Anwendung des Praxiskriteriums. Weil die logischen Regeln aus der Wirklichkeit abgeleitet sind, weil sie allgemeine Gesetzmäßigkeiten der Wirklichkeit richtig abbilden, darum, nur darum, kann ihre sachgemäße Anwendung in bestimmten Ausmaß den unmittelbaren Appell an das Praxiskriterium ersetzen.

Andererseits spielt die Logik auch innerhalb de« Praxiskriteriums selbst eine wichtige Rolle. Wir müssen das Ergebnis einer jeden Anwendung des Praxiskriteriums genau untersuchen. Es ist keinesfalls so, daß etwas unbedingt falsch ist, weil es sich bei der Überprüfung durch die Praxis nicht bewährt. Das Praxiskriterium ist kein Automat, dessen Zeiger einfach "wahr" oder "falsch" anzeigt. Es kann sein, daß die Versuchsanordnung nicht richtig war, daß die Bedingungen für die Überprüfung verkehrt gewesen waren usw. Das Ergebnis einer Überprüfung durch die Praxis muß also seinerseits durchdacht und begriffen werden.

Im Verlauf der Geschichte erweitert sich unsere Praxis ständig. Damit erweitert sich auch der Raum der Anwendung des Praxiskriteriums. Um zu erkennen, was auf der Mondoberfläche wirklich für Verhältnisse herrschen, können wir heute Mondsatelliten aussenden, was noch vor wenigen Jahren kaum denkbar schien.

Erwähnt soll hier ein trügerisches Verfahren werden, mit dem manche gegen das Praxiskriterium zu Felde ziehen. Der Theologe Wetter sagt: Der Faschismus triumphierte lange Jahre. Also wäre er nach dem Praxiskriterium wahr? Das sei auch nach Ansicht der Marxisten Unsinn. Also wäre ihr Praxiskriterium falsch. (Wetter: "Sowjetideologie heute", Fischer-Bucherei, Band 460/61, S. 23).

Hier v/ird einfach etwas umgedreht. Aus dem Satz: Was wahr ist, bewährt sich in der Praxis, wird der Setz gemacht: Was praktisch da ist, ist wahr. Aber darf man denn einen Satz einfach umdrehen? Darf ich, weil das Urteil wahr ist, jeder Hund ist ein Säugetier, auch umgedreht sagen, jedes Säugetier sei ein Hund? Natürlich nicht!

Wir wollen abschließend davor warnen, das Praxiskriterium als einen einfachen und bequemen Anzeiger f'ür Wahres und Falsches zu deuten. Die Kürze des zur Verfügung stehenden Raumes und die Kompliziertheit einiger Probleme des Praxiskriteriums lassen es nicht zu, auf diese Dinge hier und noch andere Probleme der Erkenntnislehre genauer einzugehen. Wer sich näher unterrichten möchte, der sei auf folgende Literatur verwiesen:

  • Engels, "Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie", Teil II
  • Lenin, "Materialismus und Idealismus", in Lenins Werke Bd. XIV
  • Lehrbuch "Grundlagen der marxistisch-leninistischen Philosophie", Berlin 1964, S. 282-330
  • Lehrbuch "Grundlagen des Marxismus-Leninismus" Berlin, 1963, S. 102-134
  • "Philosophisches Wörterbuch", Leipzig 1965

Editorische Anmerkungen

Marxistische Lehrbriefe, Serie E. Das moderne Weltbild, Nr. 3, Frankfurt a. M.  1968; Herausgeber: August-Bebel-Gesellschaft e. V.

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