MODELLE DER
MATERIALISTISCHEN DIALEKTIK

BEITRÄGE DER BOCHUMER DIALEKTIK-ARBEITSGEMEINSCHAFT

herausgegeben von
HEINZ KIMMERLE
11/06

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onlinezeitung

KAPITEL I
VORAUSSETZUNGEN
Heinz Kimmerle

Zur Kapitelübersicht

A. ALLGEMEINE VORAUSSETZUNGEN:
VORAUSSETZUNGEN VON MARX - MARX ALS VORAUSSETZUNG

Die Geschichte des materialistisch-dialektischen Denkens bildet keine ein­fache einlinige Entwicklung. Sie weist zahlreiche Verzweigungen auf; und es gibt keine verbindliche Festlegung darüber, welches die hauptsächliche, auch für die Zukunft maßgebende Entwicklungslinie ist. Karl Marx^ Friedrich Engels und die daran anschließenden theoretischen Konzeptionen haben eine Vielzahl eigenständiger Modelle des materialistisch-dialektischen Den­kens hervorgebracht. Das grundlegende Modell ist zweifellos im Rahmen der Marxschen Theorie entwickelt worden, auf das sich Engels und die fol­genden marxistischen Philosophen immer wieder zurückbeziehen. Die Position von Marx bildet eine entscheidende Voraussetzung für die späteren ma­terialistischen Dialektik-Modelle. 

In welchem Sinn diese Voraussetzung zu verstehen ist, soll im folgenden noch genauer erörtert werden. Unabhängig davon, welches die Ergebnisse dieser Erörterung im einzelnen sein werden, können wir bereits an dieser Stelle festhalten: die inhaltliche Darstellung der Marxschen Position, die im II. Kapitel dieses Buches gegeben wird, muß zum Aufweis der Vorausset­zungen für die übrigen Modelle der materialistischen Dialektik gerechnet werden; sie gehört von daher mit den hier behandelten Fragen eng zusam­men. 

Zunächst einmal stellt sich im Rahmen dieses Kapitels das Problem: wel­ches sind die Voraussetzungen der Dialektik-Konzeption von Marx? In erster Linie muß man davon ausgehen, daß bei Marx gewissermaßen ein Neuanfang vorliegt, so etwas wie ein neues „Paradigma" in der Geschichte der philoso­phischen Wissenschaft, ein „Bruch" mit der gesamten bisherigen Philosophie und den darin enthaltenen Formen der Dialektik. Die These von der Auf­hebung der Philosophie durch ihre Verwirklichung gilt auch und gerade für die Dialektik. Das philosophische Denken (mit den darin enthaltenen dialek­tischen Elementen: Gegensätze und ihre Aufhebung, Entwicklung, Totalität usw.) verliert bei Marx seine übergeordnete systematische Stellung. Es ist nicht mehr die Universal Wissenschaft, aus der jede andere Form von Wissen­schaft oder Theorie und auch die Prinzipien des praktischen Handelns abgeleitet werden. Für das Marxsche Denken ist die Theorie ein Bestandteil der Praxis. Die grundlegende Bestimmung des dialektischen Denkens, der Kampf der Gegensätze und ihre Einheit, findet sich nicht nur auf der Seite der Theorie bzw. der Seite der Praxis; sie gilt für das Verhältnis dieser beiden Seiten selbst.           

Über den Bruch hinweg, in einer neuen Konstellation finden sich indessen in der Marxschen Theorie und der damit verbundenen Dialektik-Konzeption Bedingungen seines Denkens, die die „gesamte gesellschaftliche und geistige Entwicklung Europas" in sich aufnehmen.(1) Seine Theorie gehört in den Prozeß der Bewußtwerdung dieser Entwicklung als einer Einheit, der im 18. und 19. Jahrhundert vor sich geht. Für die Geschichte der Philosophie z.B. ist die Aufnahme der Tradition weitgehend durch Hegel vermittelt. Dieser beansprucht, in seiner Philosophie die Geschichte der gesamten vorausgehenden philosophischen Entwicklung seit der griechischen Antike zusammenzufassen. Wenn nun Marx eine „Umkehrung" der Hegelschen Philosophie vollzieht, was auch immer der genaue Sinn dieser Metapher sein mag, kann man annehmen, daß in der Umkehrung Wesentliches von dem erhalten bleibt, was im Ausgangsprodukt zusammengefaßt war. 

Es ist jedoch entscheidend, daß die gesellschaftliche und geistige Entwicklung Europas, mit ihren universellen Integrationsbemühungen, im Marxschen Denken kritisch aufgenommen, in einen veränderten theoretisch-praktischen Kontext einbezogen wird. Man kann es dahingehend zuspitzen, daß man sagt: Das Marxsche Denken, die darin vollzogene Ausbildung eines materialistischen Dialektik-Modells gewinnt seine kritische Dimension gegenüber der gesamten traditionellen Philosophie durch den bewußten und ausdrücklichen Bezug auf die Praxis der geschichtlichen Situation, in der es aufgestellt wird. Diese Praxis bestimmt sich genauer als der Zusammenhang von ökonomisch-gesellschaftlichen, politischen und geistigen Auseinandersetzungen, von denen die theoretischen Bemühungen ausgehen und m denen sie eine bestimmte Funktion ausüben.

Der Zusammenhang mit der Praxis in dieser Form und die darauf beruhende kritische Distanzierung von der vermeintlich reinen philosophischen und wissenschaftlichen Theorie enthalten wesentliche Aspekte des ideologiekritischen Verfahrens, die deshalb zu den Voraussetzungen des neuen Dialektik-Modells gerechnet werden müssen. Genauer gesagt enthält die Marxsche Theorie eine doppelte ideologiekritische Ausrichtung. Sie überprüft andere philosophische und wissenschaftliche Konzeptionen auf ihr ausdrückliches oder unausdrückliches Einbezogensein in einen umfassenden theoretisch-praktischen Wirkungszusammenhang. Und sie erkennt, daß sie selbst nicht außerhalb eines solchen Zusammenhanges steht, auch diese Überprüfung nicht von einem gewissermaßen neutralen oder absoluten Standpunkt aus vollziehen kann, sondern daß ihre eigene Bedingtheit durch die Praxis und durch andere theoretische Arbeiten, sowie ihr bedingendes Einwirken auf sie ständig mit reflektiert und zum Bewußtsein zu bringen gesucht werden muß. Auf diesem Weg bestimmt das ideologiekritische Verfahren die Art und Weise, in der Marx bei der Begründung seiner Dialektik-Konzeption die Voraussetzungen der gesellschaftlichen und geistigen Entwicklung Europas aufgenommen und verarbeitet hat. 

Die Ideologiekritik, besonders ihre zweite genannte Ausrichtung sagt ferner etwas darüber aus, in welchem Sinn Marx für die folgenden Modelle materialistischer Dialektik zur Voraussetzung werden konnte und wie diese durch das Marxsche Modell hindurch bzw. durch es vermittelt bestimmte historische Voraussetzungen aufnehmen und verarbeiten konnten. Damit soll gesagt werden: In derselben kritischen Art und Weise, in der sich Marx auf seine Voraussetzungen bezieht, beziehen sich die materialistischen Dialektik-Modelle nach ihm auf seine Konzeption. Es ist die Methode der Kritik, der Auflösung von Voraussetzungen des Denkens, die nicht bewußt an der Wirklichkeit mit ihren ökonomisch-gesellschaftlichen, politischen und geistigen Kämpfen orientiert sind, durch die von Marx her ein Dialektik-Modell als materialistisch bestimmt werden kann. Darin wird das Marxsche Modell zur Voraussetzung für die späteren. Der kritische Bezug auf Marx und auf die übrigen theoretischen Bemühungen vor ihnen und gleichzeitig mit ihnen, sowie ihre auf sich gerichtete kritische Reflexion begründet den Anspruch eines selbstkritischen undogmatischen Charakters dieser Dialektik-Modelle. 

Dieser Anspruch ist in der Tradition der marxistischen Philosophie nicht immer verwirklicht worden. Im Stalinismus verliert die marxistische Philosophie ihre kritische Potenz und verfällt in das entgegen gesetzte Extrem einer „Legitimationswissenschaft" für machtpolitische Entscheidungen.(2) Sofern der kritische Anspruch sich aber in der gesamten Entwicklung dieser Philosophie schließlich zur Geltung gebracht hat, entsteht eine Vielfalt unterschiedlicher Modelle, in der die zeitlichen und sozial-geographischen Verschiedenheiten der jeweils gegebenen Situationen zum Ausdruck kommen. Diese Vielfalt umspannt die Veränderungen in der Entwicklung der inneren Verhältnisse der betreffenden Gesellschaften und in der ökonomisch-gesellschaftlichen, politischen und geistigen Weltlage seit den Jahren 1843-1883, d.h. seit der Zeit, in der Marx seine Konzeption entwickelt hat. In den innergesellschaftlichen und globalen Verhältnissen werden dabei auch durch die Begründung sozialistischer Gesellschaften entscheidende neue Bedingungen geschaffen, die von den darauf bezogenen Dialektik-Modellen kritisch reflektiert werden müssen. 

Im Rahmen der Bestimmung der Voraussetzungen der materialistischen Dialektik muß man die kritische Rezeption der Philosophie Hegels gesondert untersuchen. Marx beruft sich für sein Dialektik-Modell auf Hegel; für die streng genommen nicht isolierbare methodische Seite seiner Dialektik verweist er immer wieder auf ihre Darstellung bei Hegel, insbesondere auf die „Wissenschaft der Logik," aber auch auf die „Phänomenologie des Geistes," sowie auf die „Philosophie des Rechts" und die „Philosophie der Geschichte." Das Hegelsche Dialektik-Modell, obgleich es von idealistischen Prämissen aus entworfen wird, behält in gewisser Hinsicht für die Konzeptionen der materialistischen Dialektik seine Gültigkeit. Die materialistische Umdeutung dieses Modells fuhrt nicht zu seiner völligen Zurückweisung. Es enthält die methodische Seite der Dialektik in einer ausgeführteren Weise, als dies in den materialistischen Modellen zu finden ist. Das wird von Marx anerkannt, und es führt zur direkten Bezugnahme der marxistischen Theoretiker auf Hegel in dieser Frage. 

Von hier aus entsteht das Problem, wie sich die Betrachtung der für sich gestellten methodischen Seite der Dialektik bei Hegel zu ihrem materialistischen Begründungszusammenhang verhält. Zweifellos lassen sich die idealistischen Prämissen, von denen aus Hegel die dialektische Methode begründet, nicht einfach subtrahieren und durch materialistische Prinzipien ersetzen. Trotzdem behalten die Abfolge der abstrakten Bestimmungen des dialektischen Denkens und vor allem ihr innerer prozessualer Zusammenhang, wie sie in der „Wissenschaft der Logik" entwickelt werden, für die Übernahme in die materialistischen Dialektik-Modelle eine maßgebende Bedeutung. Das gilt jedenfalls für die expliziten Äußerungen von Marx zu dieser Frage und für die folgenden Theoretiker bis hin zu Althusser. Der letztere sucht demgegenüber deutlich zu machen, daß die materialistische Umdeutung der dialektischen Methode auch das innere Gerüst der abstrakten Denkbestimmungen entscheidend verändern muß. 

Wie sieht in diesem Punkt eine materialistische Lektüre Hegels aus? Wie wird sie von den marxistischen Theoretikern betrieben und was läßt sich daraus entnehmen? Die Klärung dieser Fragen wird in einem eigenen Abschnitt innerhalb dieses Kapitels herbeizuführen gesucht. Die Ergebnisse der Hegel-Lektüre sind bei Engels und Lukacs, bei Lenin und Marcuse, bei Kosik und Althusser offensichtlich sehr verschieden. Es scheint entscheidend für den Grundcharakter eines Modells der materialistischen Dialektik zu sein, in welchem Maß es auf Hegel als direkte Voraussetzung der eigenen Konzeption zurückgeht. Die Frage der Einbeziehung der Hegeischen Konzeption in den materialistischen Begründungszusammenhang bildet ein untergründiges, nicht rigoros durchdachtes Problem der marxistischen Theorie-Entwicklung. 

Indem Althusser dieses Problem aufwirft, sucht er zugleich den Bruch mit Hegel weit schärfer zu akzentuieren, als dies bis dahin in der marxistischen Philosophie geschehen ist. Die Konstituierung der materialistischen Dialektik wird von ihm als etwas fundamental anderes gegenüber der Hegeischen Konzeption dargestellt. 

B. DIE QUELLEN DES MARXISMUS ALS VORGESCHICHTE DER MATERIALISTISCHEN DIALEKTIK 

Die Klärung der Bedeutung Hegels ist die wichtigste Aufgabe des hier versuchten Aufweises der Voraussetzungen der materialistischen Dialektik. Im Vergleich hierzu kann es als ein mehr oder weniger gelöstes Problem betrachtet werden, irrweichem Sinn neben der deutschen idealistischen Philosophie die gesamte Tradition der materialistischen Philosophie seit Demokrit und Epikur, die englische politische Ökonomie, sowie der französische Sozialismus als die „drei Quellen und gleichzeitig Bestandteile des Marxismus" betrachtet werden müssen, die auch für die Begründung der materialistischen Dialektik entscheidende Voraussetzungen enthalten.(3) Lenins kurze Andeutungen zu dieser Frage sind nach ihm sehr viel genauer und ins einzelne gehender ausgearbeitet worden. In neuerer Zeit sucht P. Kaegi von diesen Voraussetzungen aus die Genesis der Marxschen Theorie zu rekonstruieren.(4) A. Cornu geht den historischen und zeitgeschichtlichen Einflüssen auf die Entwicklung von Marx und Engels unter Aufbietung umfangreicher Detailkenntnisse nach.(5) Biographische und entwicklungsgeschichtliche Forschungen behandeln mit unterschiedlicher Ausführlichkeit die Voraussetzungen der Marxschen Theorie. Als Beispiele hierfür seien die Marx-Biographien von F. Mehring, K. Korsch und H. Lefebvre(6) sowie die kurze, aber stringent argumentierende Studie von G. Lukacs über die Entwicklungsschritte der Marxschen Philosophie bis 1845(7) angeführt. 

Die fortgesetzte Bemühung um diese Fragen in den sozialistischen Ländern, auch mit Ausrichtung auf die Dialektik, wird in den Arbeiten von M. Rosental und einer Gruppe von Forschern im Institut für Philosophie der Moskauer Akademie der Wissenschaften dokumentiert.(8) In einem Sammelband, der aus der Zusammenarbeit von marxistischen Autoren aus Ost- und West-Deutschland, sowie aus der Sowjetunion hervorgegangen ist, wird Lenins Quellen-Schrift zur leitenden Perspektive einer Präzisierung und Aktualisierung dieses Themas gemacht. Dabei zeigt sich, daß die „klassische bürgerliche Philosophie" in ihren materialistischen und idealistischen Richtungen das Hauptinteresse auf sich zieht und daß zur Bestimmung des Materiebegriffs die Entwicklung der modernen Naturwissenschaft herangezogen wird.(9) Diese Interessenrichtung wird durch eine Reihe von Veröffentlichungen von M. Buhr, G. Irrlitz, sowie von G. Stiehler bestätigt, die vordringlich die deutsche idealistische Philosophie als „theoretische Quelle des Marxismus" thematisieren und die darin enthaltenen Dialektik-Modelle als Vorstufen der marxistischen Dialektik betrachten, in denen das Entwicklungsdenken als unbewußtes Korrelat der Veränderbarkeit gesellschaftlich-geschichtlicher Verhältnisse ausgearbeitet worden ist.(10) Die Arbeit von J. van der Hoeven, die sich mit den „Wurzeln" des Marxschen Denkens beschäftigt, faßt indessen den Rahmen ihrer Erörterung zu eng, wenn sie nur noch die Voraussetzungen in der Tradition der idealistischen Philosophie freizulegen sucht.(11) 

Die angeführte Literatur gibt aber im ganzen nur unzureichende Auskunft darüber, inwieweit die „Quellen des Marxismus" als spezifische Voraussetzungen der darin enthaltenen Dialektik-Modelle zu betrachten sind. Vranicki hebt in seiner „Geschichte des Marxismus" entgegen einem verbreiteten Mißverständnis hervor, worauf schon Engels hingewiesen hat, daß der französische Materialismus des 18. Jahrhunderts, den man „mit Recht einen mechanischen nennt" nicht nur revolutionäre politische Aspekte ausgearbeitet hat, sondern daß „die Werke von Diderot, von Holbach und vor allem Helvetius auch dialektische Elemente ... enthielten." Diese sind auf dem Gebiet der Ontologie in der Konzeption „vom ewigen Wechsel," auf dem Gebiet der Gnoseologie im „Gedanken von der Entwicklung der Erkenntnis als Prozeß" genauer festzumachen. Sie erfassen indessen im Rahmen der damaligen Materialismus-Konzeption nicht genügend „die Besonderheit des spezifisch Menschlichen," d.h. derjenigen Widersprüche, die den Prozeß der gesellschaftlich-geschichtlichen Entwicklung erklärbar machen können.(12) Dieser Aufriß des Problems bei Vranicki ist deshalb wichtig, weil er deutlich macht, daß man für die Vorgeschichte der materialistisch-dialektischen Philosophie die beiden Seiten, die ihre Voraussetzungen in unterschiedlichen Traditionen der Philosophie besitzen, die des Materialismus und die der Dialektik nicht einfach auseinanderdividieren kann. 

Für die Geschichte der materialistischen Philosophie muß man freilich sehen, daß es innerhalb ihrer Entwicklung immer wieder zur Reduktionen des Materiebegriffs, zur Verflachung und Vulgarisierung des philosophischen Denkens gekommen ist. Nach E. Bloch ist diese Geschichte in ihren offiziellen Traditionszusammenhängen auf weite Strecken durch eine „Auslassung der uralten Tiefe im Materiebegriff" gekennzeichnet, die das Schöpferische, Unabgeschlossene, Experimentelle im Weltprozeß zur Geltung bringt.(13) Das Aufkommen von bestimmten Formen dialektischen Denkens ist an die Überwindung dieser reduktionistischen Tendenz innerhalb der materialistischen Philosophie gebunden. Dies ist für die frühe französische Aufklärung, vor allem bei den genannten Vertretern, eindeutig vorauszusetzen. Mit der Verflachung des materialistischen Denkens in einigen späteren Richtungen der Aufklärungsphilosophie und schließlich bei L. Büchner, Moleschott und Vogt, sowie bei E. Haeckel in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gehen auch die dialektischen Elemente in ihm wieder verloren. 

Eine besondere Stellung in der Geschichte des Materialismus kommt Feuerbach zu. Er hat versucht, den Status der menschlichen Wirklichkeit innerhalb der materiellen Entwicklung näher zu bestimmen. Dabei hat er auch die gesellschaftliche Seite der menschlichen Wirklichkeit durchaus thematisiert. Aber er hat die sozialen und ökonomischen Bedingungen des Zusammenlebens der Menschen nicht konkret erfaßt. Der Begriff der menschlichen Gattung, den Marx zunächst übernimmt, vermag den unangemessenen Naturalismus im Zusammenhang der Erfassung des gesellschaftlich-geschichtlichen Lebens der Menschen, der für die materialistische Tradition kennzeichend ist, noch nicht zu überwinden. Die Grenze der Feuerbachschen Position wird dabei letztlich durch den Mangel an Dialektik bezeichnet. Der überzeugenden Kritik am Idealismus der Hegelschen Philosophie und der ihr vorausliegenden philosophischen und theologischen Tradition steht nach der Darstellung des Verhältnisses von Marx und Engels zum Feuerbachschen Materialismus durch Engels - die Unfähigkeit gegenüber, die Bestimmungen des dialektischen Denkens, wie sie von Hegel entwickelt worden sind, kritisch zu rezipieren.(14) 

Ähnlich wie Engels im Blick auf den Feuerbachschen Materialismus argumentiert Marx gegenüber dem französischen Sozialismus, der ihm ursprünglich vor allem von P. J. Proudhon nahegebracht worden ist. Das System der ökonomischen Widersprüche erfährt bei Proudhon eine Darstellung, die zwar den Begriff der Dialektik gebraucht, die aber selbst kein dialektisches Denken praktiziert; Der „gerechte Tausch," der die Grundlage der bestehenden Gesellschaftsordnung bildet, die dem Aufkommen der Widersprüche vorausliegt, kann wiederhergestellt werden, wenn die „Formel" hierfür gefunden ist. Diese Formel stellt Proudhon am Ende seines Buches als „Theorie der Mutualität" auf.(15) Die begriffliche und methodische Begründung des Systems der ökonomischen Widersprüche bei Proudhon wird von Marx als flach und unwissenschaftlich qualifiziert. Dieses Denken vermag die Härte der Negativität nicht auszudrücken. Ferner reiht es die einzelnen Bestimmungen nur aneinander, ohne sie genetisch herzuleiten, indem Widerspruch und Einheit als Stufen eines in sich zusammenhängenden Prozesses gedacht werden(16). 

Das Urteil von Marx über die englische politische Ökonomie erfordert eine differenziertere Argumentation. An einer entscheidenden Stelle der Auseinandersetzung zeigt er, dass Adam Smith und D. Ricardo „fixes" und „zirkulierendes Kapital" im Grunde zutreffend voneinander unterscheiden, daß sie sich aber in der Begründung dieser Unterscheidung in eine Reihe von Schwierigkeiten verwickeln. Es gelingt ihnen zwar, diese Begriffe, die innerhalb der Zirkulationssphäre auftreten, auf den Unterscheid des „konstanten" und „variablen Kapitals" zurückzuführen, die in die Sphäre der Produktion des Kapitals gehören. Das „konstante Kapital" kann konsistent als die dingliche Seite der Kapitalproduktion erklärt werden, die in Fabriken und Maschinen ihren konkreten Ausdruck findet. Das „variable Kapital" erscheint indessen als Lohn für die geleistete menschliche Arbeit, ohne daß der darin steckende Widerspruch sichtbar gemacht wird. Demgegenüber zeigt Marx: „Das Charakteristische des variablen Kapitals ist, daß ein bestimmter, gegebener ... Kapitalteil, eine gegebene Wertsumme ... ausgetauscht wird gegen eine sich verwertende, wertschaffende Kraft - die Arbeitskraft, welche nicht nur ihren vom Kapitalisten bezahlten Wert reproduziert, sondern zugleich einen Mehrwert produziert, einen vorher nicht vorhandenen und durch kein Äquivalent erkauften Wert."17 Auf der Erfassung dieses Widerspruchs beruht aber nach Marx der dialektische Begründungszusammenhang des Systems der bürgerlichen Ökonomie. Von ihm aus ist auch die Erklärung des Unterschieds von „fixem" und „zirkulierendem Kapital" erst in einer durchgängig konsistenten Weise möglich. 

In methodischer Hinsicht ist diese Kritik so zu fassen, daß die Zirkulationssphäre nicht in zutreffender Weise auf die Produktionssphäre zurückgeführt wird. Der Mangel an Dialektik versteht sich hier als das Fehlen einer Systematik, die dje Erscheinungen an der Oberfläche des gesellschaftlich-ökonomischen Geschehens zu den diesem Geschehen zugrundeliegenden Widersprüchen ins Verhältnis setzt. So kann die konkrete Wirklichkeit der ökonomischen Verhältnisse nicht als ein System von Widersprüchen erklärt werden, das den Zusammenhang dieser Wirklichkeit adäquat zum Ausdruck bringt. Deshalb bleiben die Analysen der englischen politischen Ökonomen trotz ihrer konkreten Gehalte letzlich abstrakt, ohne konkreten Aufweis der inneren Einheit der entgegengesetzten Bestimmungen. 

C. REVOLUTIONÄRE PRAXIS ALS VORAUSSETZUNG DIALEKTISCHER THEORIE 

Es ist überraschend genug, daß als maßgebende Queue des Marxismus und der marxistischen Dialektik die praktisch-revolutionären Kämpfe, an denen Marx beteiligt gewesen ist und die er beobachtet hat, von der Literatur zu dieser Frage nicht ausreichend berücksichtigt werden. Selbst von Lenin werden diese Kämpfe nicht immer in der notwendigen Weise als Voraussetzung des von Marx Gesagten aufgearbeitet, obgleich er in ihnen für seine eigene Theorie und Praxis und für die Entwicklung des revolutionären Denkens in der Arbeiterklasse stets eine entscheidende Instanz gesehen hat. K. Korsch hat erkannt, daß die Ausbildung des dialektischen Denkens bei Marx zur revolutionären Politik der Bourgeoisie und der beginnenden Arbeiterbewegung in den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in Beziehung gesetzt werden muß. Er zeigt aber nicht, wie die Entwicklung dieser Theorie mit dem Fortgang der revolutionären Kämpfe im einzelnen in Wechselwirkung zu sehen ist.(18) Dies wird lediglich von Lenin in seiner Schrift „Staat und Revolution" für die politische Theorie von Marx und Engels in einigen Ansätzen dargelegt.(19) 

Mit dem Scheitern der Revolution von 1848 beginnt nach K.Korsch eine Periode der politischen Praxis und der sozialistischen Theorie, die durch das Unterdrücktwerden revolutionärer Entwicklungen und das Fehlen einer dialektischen Argumentation gekennzeichnet werden. Dies gipfelt in der revisionistischen Politik und Theorie der Sozialdemokratie und ihrer maßgebenden theoretischen Führerinder II. Internationalen den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts. Die revolutionären Ereignisse in Rußland und die Ansätze hierzu in den westeuropäischen Ländern, die 1917/18 ihren Höhepunkt erreichen, sieht Korsch als die Voraussetzung für die Erneuerung des dialektischen Denkens im Marxismus an, zu deren Entstehung und Vertiefung er durch sein eigenes Werk, das zuerst 1923 erschienen ist, beizutragen sucht. 

Die Schwierigkeit einer solchen direkten Zuordnung von revolutionärer Politik und dialektischer Theorie wird jedoch offensichtlich, wenn man bedenkt, daß damit auch den Werken von Marx nach 1848, selbst dem wichtigsten Dokument materialistisch-dialektischen Denkens überhaupt, den Arbeiten zum „Kapital," die Grundlage dialektischer Argumentation entzogen wird. Die „Kritik der politischen Ökonomie" und das „Kapital" werden von Korsch als Werke der marxistischen Ökonomie eingestuft, die keinen direkten dialektisch-philosophischen Gehalt besitzen und demgemäß keine praktisch-revolutionäre Wirkung entfalten. Die „philosophischen Elemente" der Marx-Engelsschen Theorie sind vielmehr in ihren Arbeiten aus der Zeit vor 1848 zu sehen und müssen mit den späteren ökonomischen Werken zusammengenommen werden, damit diese in ihrer theoretisch-praktischen Relevanz bestimmt werden können. 

Der revolutionäre Prozeß, der für das materialistisch-dialektische Denken vorausgesetzt wird, muß aber in Wahrheit nicht an der Oberfläche des gesellschaftlich-politischen Geschehens sichtbar sein. Es ist durchaus möglich daß dieser Prozeß für eine oberflächliche Betrachtung und auch für eine letztlich nicht systematisch verfahrende undialektische wissenschaftliche Analyse überdeckt bleibt durch reaktionäre oder reformistische politische Maßnahmen. Das „Kapital" zeigt, daß das dialektische Denken durch seinen systematischen Charakter von den Erscheinungen an der Oberfläche zur Tiefenstruktur der gegebenen gesellschaftlich-geschichtlichen Situation vorzudringen und die darin enthaltenen Bedingungen revolutionärer Entwicklungen aufzuzeigen in der Lage ist. Auf diese Weise erhält das „Kapital" für die materialistisch-dialektische Argumentationsweise, im Gegensatz zur Einschätzung durch Korsch, eine paradigmatischen Charakter (20). 

Daraus ergibt sich, daß der Zusammenhang von revolutionärer politischer Entwicklung und dialektischer Theorie zwar stets vorauszusetzen ist, daß die erstere aber nicht immer im gesellschaftlich-politischen Geschehen unmittelbar zum Ausdruck kommt, daß sie zu ihrer Begründung einer tiefer dringenden theoretischen Untersuchung und einer weiter ausgreifenden Perspektive des praktischen Handelns bedarf. Dieser Zusammenhang wird von Lenin und Mao Tsetung in Verbindung mit den von ihnen geleiteten revolutionären Prozessen auf einer konkreteren Stufe weiter durchdacht. Die Darstellung der von ihnen entwickelten Dialektik-Modelle ist unter diesem Aspekt der Voraussetzungs-Problematik zuzurechnen. Der entscheidende Gedanke in diesem Zusammenhang ist, daß der dialektische Charakter der Theorie in ihrer Anpassungsfähigkeit an wechselnde politische Konstellationen zum Ausdruck kommt. Das Instrumentarium des dialektischen Denkens wird im Blick auf die Erfassung der jeweils verschiedenen Bedürfnisse des praktischen revolutionären Kampfes weiter ausgebaut. Der eindeutig Primat der Praxis gegenüber der Theorie kann in diesem Zusammenhang dazu führen, daß ein problematisches Verhältnis beider Seiten zueinander entsteht, indem die theoretischen Bemühungen letztlich nur als Hilfsmittel gelten für eine erfolgreiche revolutionäre Politik. Demgegenüber muß die theoretische Aufarbeitung der praktischen revolutionären Politik für ihren Vollzug und ihre Leitung eine konstitutive Bedeutung behalten, indem sie die tagespolitischen und die weiterreichenden Perspektiven der Praxis bestimmt. 

D. ZWISCHENERGEBNIS UND SCHEMATISCHE ZUSAMMENFASSUNG DER VORAUSSETZUNGEN 

Was Marx für die Begründung seines Dialektik-Modells aus der Geschichte der materialistischen Philosophie, dem französischen Sozialismus und der englischen politischen Ökonomie übernehmen kann, ist die darin geleistete konkrete Bestimmung des Gegenstandes des Denkens. Daß die materielle Wirklichkeit in den gesellschaftlich-geschichtlichen Entwicklungen als solche anerkannt und erfaßt wird, bildet die erste Vorbedingung für ein Denken, das sich als materialistisch-dialektisch versteht. Die gedanklichen und begrifflichen Mittel der Wirklichkeitserfassung werden dabei entscheidend durch die Beteiligung an und die engagierte Beobachtung von praktisch revolutionärer Politik formiert. Hierfür findet Marx in den genannten „theoretischen Quellen" keine zureichenden Voraussetzungen. 

Das Denken des Konkreten ist bei den materialistischen, sozialistischen und ökonomischen Vorgängern von Marx nicht auch schon konkretes Denken. Das theoretische Instrumentarium, mit dem sie arbeiten, ist nicht in zureichender Weise entwickelt, um die materielle Wirklichkeit als Einheit von Widersprüchen, d.h. als einen Prozeß zu begreifen, dessen Erfassung die Bedingungen seiner Weiterführung zur Verfügung stellt. Für diese Seite der Sache ist nach Marx auf die idealistische Tradition, insbesondere auf Hegel zurückzugehen. Dabei müssen sich die theoretischen Bedingungen der idealistischen Dialektik aufgrund ihrer Anwendung im Zusammenhang materialistisch-dialektischer Untersuchung in ihrer Brauchbarkeit, d.h. in ihrer Anwendbarkeit für diese Untersuchung erweisen. Das bedeutet, daß sie, zumindest in der entwickelten Gestalt der Hegeischen dialektischen Methode, "einen Wirklichkeitsbezug besitzen, der ihrem idealistischen Begründungsanspruch widerspricht. 

Die Voraussetzungen der materialistischen Dialektik lassen sich in dieser Weise freilich erst von der Position des „Kapitals" aus erfassen und verständlich machen. Sie enthalten gegenüber den Thesen von Marx „ad Feuerbach" einige wesentliche Modifikationen(21). In der 1. These wird richtig gesagt, daß der „bisherige Materialismus" wegen der Konkretheit seiner Gegenstandbestimmung positiv zu bewerten ist. Es ist aber eine einseitige Darstellung, wenn dieser Materialismus in der 1. und 9. These auf die Form der Anschauung und damit auf die passive Seite der Erkenntnis festgelegt werden soll. Ebensowenig kann man bei Feuerbach das völlige Fehlen der gesellschaftlichen Dimension konstatieren, wie es in der 1., sowie in der 6. und 7. These geschieht. Die Kehrseite hiervon ist, dass Marx auf den Idealismus als Voraussetzung für die „tätige Seite" des Erkennens rekurriert, die im Zusammenhang einer materialistisch-dialektischen Theorie-Praxis erforderlich ist. Auf beiden Seiten ist das Verhältnis differenzierter zu sehen, als es in den kurzen Formulierungen dieses Textes zum Ausdruck kommt. Die Bedeutung der revolutionären Praxis für die materialistisch-dialektische Theorie, die in den Feuerbach-Thesen hervorgehoben wird, muß in ihrer strukturierenden Funktion für den Theoriezusammenhang als solchen in Ansatz gebracht werden. 

Schematisch dargestellt, ergibt sich auf der Grundlage der Thesen von Marx über Feuerbach folgender Zusammenhang für die Voraussetzungen des materialistisch-dialektischen Denkens:

Dieser Zusammenhang ist von der Position des "Kapitals" aus folgendermaßen zu erweitern und zu modifizieren:

E. GRUNDLINIEN EINER KRITISCHEN MATERIALISTISCHEN REZEPTION DER HEGELSCHEN DIALEKTIK

Die besonderen Probleme, die sich durch die Voraussetzung der Hegeischen Philosophie für die materialistische Dialektik ergeben, wobei diese für die Seite der Dialektik durchaus von maßgebender Bedeutung ist, müssen nun noch genauer untersucht werden. Der besondere Charakter dieser Voraussetzung ergibt sich aus dem idealistischen Begründungszusammenhang der Dialektik. Dieser ist in sich selbst widersprüchlich zu bestimmen. Während die außeridealistischen Voraussetzungen die Theorie von Marx als Denken des Konkreten (d.h. der materiellen Wirklichkeit) qualifizieren, ohne daß das vorhandene theoretische Instrumentarium als konkretes Denken gefaßt werden konnte, führt das dealistische Denken Hegels dazu, daß von ihm die Voraussetzungen für ein konkretes Denken zur Verfügung gestellt wurden. Da Hegel als Idealist in seiner Philosophie gerade nicht von der konkreten Wirklichkeit ausgeht, sondern, wenn man dem Selbstverständnis seiner Philosophie folgt, vom reinen, sich als seinen einzigen Gegenstand erfassenden Denken, entsteht der paradoxe Sachverhalt, der noch einer besonderen Erklärung bedarf, daß Hegel auf dieser höchsten Stufe der Abstraktion vom Gegenstand das Denken in seinem inneren Vollzug als konkretes Denken erfaßt, das in seiner eigenen Prozessualität dem Prozeß der gegenständlichen Welt entspricht.

1. Die materialistischen Implikationen der „Jugendschriften" (1793-1800) und der „Jenaer Schriften" (1801-1807) G. W. F. Hegels

Um den genannten in sich widersprüchlichen Charakter des idealistischen Begründungszusammenhanges der Hegeischen Dialektik zu erklären, ist es notwendig, auf die ursprüngliche Fragestellung seines Denkens zurückzugehen. Diese ist unmittelbar auf die praktischen Verhältnisse seiner Zeit bezogen. Hegel geht davon aus, daß in der Kantischen Philosophie eine theoretische Revolution passiert ist, die noch nicht in das allgemeine Bewußtsein eingedrungen und insofern noch nicht praktisch wirksam geworden ist. Das Kantische System der Vernunft gipfelt nach seiner Auffassung im B^griffder Frei-Jieit. Die theoretische Vernunft zeigt auf, daß Freiheit im Bereich der Natur und der Naturerkenntnis nicht unmöglich ist, daß für das menschliche Ich trotz seiner Bindung an die Naturgesetze Freiheitsspielräume offen bleiben. Diese Freiheit erweist sich in der praktischen Vernunft als unbedingte Forderung, als Gesetz des moralischen Handelns, das im außerempirischen geistigvernünftigen Wesen des menschlichen Ich verankert ist. Nur für den Bereich des Schönen, für die Ideologische und die ästhetische Urteilskraft gibt es so etwas, wie das freie Gestalten des naturhaften empirischen Materials. Deshalb begreift Hegel die Werke der Kunst im Sinne Schillers als „Freiheit in der Erscheinung." Er ist überzeugt, „daß der höchste Akt der Vernunft ... ein ästhetischer Akt ist und daß Wahrheit und Güte (theoretische Vernunfterkenntnis und praktisch-vernünftiger guter Wille) nur in der Schönheit ver-schwistert sind."(22)

Den Leitfaden für die praktische Anwendung seiner Philosophie der Freiheit auf das allgemeine Bewußtsein der Zeit hat Kant selbst in seiner Philosophie der Religion erblickt. Für ihn steht dabei im Vordergrund, daß durch die Religion der „Hang zum Bösen," die naturhafte Seite des menschlichen Handelns allmählich immer besser überwunden werden kann. Als endzeitliche Perspektive eröffnet sich ihm die Vorstellung einer „ethischen Gemeinschaft," in der die Freiheit durchgehend das Handeln der einzelnen und damit auch die grundlegende Form der Vergesellschaftung, den Staat, bestimmen wird.(23) Hier setzt Hegel ein. Er sucht den Dualismus von theoretischer und praktischer Vernunft, von Natur und Geist zu überwinden. Was Kant allein für die ästhetische Sphäre zugesteht, daß der freie vernünftige Wille und die naturhaften Bedingungen eine Einheit bilden, soll nach Hegel mit-hilfe der Religion für das Handeln der einzelnen und die gesellschaftlich-politischen Verhältnisse in der eigenen Gegenwart Wirklichkeit werden. Dabei richtet sich seine Kritik in gleicher Weise gegen die erstarrten, veräußerlichten, entfremdeten Verhältnisse im religiös-kirchlichen und im gesellschaftlich-politischen Bereich. Die Erneuerung der christlichen Religion soll zugleich das gesellschaftliche und staatliche Leben revolutionieren.

G. Lukacs hat in seinem Buch über den „jungen Hegel" den Zusammenhang der ökonomischen und politischen Studien Hegels mit der Entstehung des dialektischen Denkens deutlich herausgestellt.(24) Die abstrakten Forderungen der Freiheit auf der einen Seite, die in der Nachfolge Kants im idealistischen Denken aufgestellt werden, die mechanistischen Prinzipien der Produktion und der Konkurrenz auf der anderen Seite, die die Vertreter der politischen Ökonomie wie J. Steuart und A. Smith aufgezeigt haben, bilden für Hegel die äußersten Gegensätze, die das geschichtliche Leben der Gegenwart zerreissen. Im Unterschied zu unserer Darstellung hält Lukacs, der die Zuspitzung dieses Gegensatzes in der Ökonomie richtig aufzeigt, die Möglichkeit seiner Überwindung mithilfe der Religion für eine Ausflucht, für eine gegenläufige Tendenz zur Entstehung des dialektischen Denkens. Demgegenüber ist es wichtig zu sehen, daß beim jungen Hegel der Gegensatz von lebendiger geschichtlicher Kraft und erstarrten äußeren Formen auf eine parallele Weise im religiös-kirchlichen und im gesellschaftlich-politischen Bereich aufgesucht wird, daß es deshalb durchaus konsequent ist, wenn die Überwindung dieses Gegensatzes, die Herstellung der „allgemeinen Freiheit und Gleichheit der Geister" von der Erneuerung der Religion ausgehen und dadurch auch im gesellschaftlichen und staatlichen Leben verwirklicht werden soll.(25)

In seinen Jenaer Schriften tritt im Hegeischen Denken die Philosophie an 'die Stelle der Religion mit ihren praktischen Konsequenzen. Die Überwindung des Gegensatzes, die Wiederherstellung der Einheit von innerer Ausrichtung und äußeren Formen des geschichtlichen Lebens soll durch das Denken und im Denken herbeigeführt werden. Darin liegt die Wurzel für die Verweltlichung unü zugleich für die Spiritualisierung des Hegeischen Ansatzes. Er hält es nicht mehr für ausreichend, die Prinzipien der Kantischen Philosophie mithilfe der Religion praktisch anzuwenden und in Verbindung mit dieser Aufgabenstellung begrifflich weiterzuentwickeln. Er sucht vielmehr die absolute Identität der Gegensätze, die nun in ihrer allgemeinsten philosophischen Form als das Objektive der Natur und der äußeren Wirklichkeit, sowie als das Subjektive des Ich und seines Wissens von dieser Wirklichkeit gefaßt werden, im System der Philosophie gedanklich-begrifflich darzustellen und in eins damit praktisch herzustellen.

Bei der Konzeption dieses Systems der Philosophie arbeitet Hegel zunächst sehr eng mit Schelling zusammen, der die Fichtesche Philosophie des absoluten Ich durch die Begründung einer idealistischen Naturphilosophie erweitern und überbieten will. Der Schellingsche Ansatz kommt der Problem-' Stellung Hegels insofern entgegen, als er ebenfalls unausdrückliche materialistische Elemente enthält. Die Philosophie der Natur ist als Wissen vollständig im Ich gesetzt, die Korrelate dieses Wissens müssen jedoch in der äußeren Natur aufgesucht werden. Umgekehrt zeigt die Philosophie der Intelligenz, daß das Ich aus der Innerlichkeit seines Wissens heraustreten und in Gesellschaft und Staat äußere Gestalten annehmen muß. Auf beiden Seiten kann so der Gegensatz des subjektiven Wissens und der objektiven Wirklichkeit auf eine entsprechende Weise aufgestellt und überwunden werden, so daß in der Entsprechung beider Seiten die absolute Identität dieses Gegensatzes zum Ausdruck kommt.

Hegels Jenaer Systemwürfe, die von Schellings Position ausgehen, diese aber bald wieder verlassen, können hier nicht im einzelnen betrachtet werden.(26) Es muß genügen, zwei kurze Bemerkungen über ihren dialektischen und ihren verborgenen materialistischen Gehalt zu machen. Der Begriff Dialektik bezeichnet zunächst nur die negative Seite der Philosophie, die Zerstörung der Formen des endlichen fixierenden Denkens, die die Einheit der Gegensätze nicht begrifflich erfassen können. Erst seit der „Phänomenologie des Geistes," dem letzten großen Werk der Jenaer Periode, ist es eindeutig bei Hegel so, daß mit der Negation des endlichen fixierenden Denkens, indem dabei die Vollständigkeit seiner Formen systematisch durchlaufen wird, das

dialektische Denken*zugleich seine positive Seite entfaltet. Die Negation der Formen des endlichen Wissens, wie sie bisher in der Geschichte hervorgetreten sind, führt zum „absoluten Wissen" oder zu der Einsicht, daß die Bestimmungen des endlichen Denkens, indem sie vollständig aufgeführt und vernichtet werden, zugleich als in sich unendliches Ganzes begriffen werden.

Damit ist der Ansatz der „Wissenschaft der Logik" bezeichnet, in der die Bestimmungen des Denkens als entgegengesetzte, sich gegeneinander fixierende und in einer höheren Einheit diese Fixierung überwindende durchlaufen werden. Dies wird von Hegel als der Prozeß des reinen, nur auf sich selbst gerichteten Denkens aufgefaßt, das von jedem Gegenstand abstrahiert. Die zunächst noch gegebene Rückbindung an die „Phänomcnologie des Geistes" und die darin enthaltenen geschichtlichen und zeitgeschichtlichen Bezüge wird von Hegel zunehmend zur Zufälligkeit des Auffmdens der Problematik des reinen Denkens herabgesetzt. Es kommt schließlich zur völligen Leugnung der konkreten Entstehungsgeschichte des reinen Denkens in ihrer Bedeutung für seinen Vollzug. Nach der Darstellung in der „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften" ist es für Hegel „der freie Akt des Denkens, sich auf den Standpunkt zu stellen, wo es für sich selber ist und sich hiermit seinen Gegenstand selbst erzeugt und gibt."(27)

Die Thematik der „Phänomenologie des Geistes," durch die das reine Denken an seine Entstehungsgeschichte zurückgebunden ist, besteht darin, daß das Bewußtsein auf allen Stufen seines Wissens erkennt: die scheinbaren Bestimmungen des Gegenstandes des Wissens, die auf seinen verschiedenen Stufen in bestimmten historischen Epochen vorherrschend waren, erweisen sich in Wahrheit als Bestimmungen des Wissens selbst. Der Gegenstand erscheint als Entäußerung des Wissens. Diese wird indessen auf jeder Stufe erneut ins Wissen zurückgenommen, bis schließlich der Gegenstand, das andere des Wissens, vollständig als Wissen bestimmt worden ist. Diese Bewegung der Negation der Formen des gegenständlichen Wissens wird von Hegel als die Bewegung des Geistes aufgefaßt, der sich von dem Schein einer gegenständlichen Bestimmtheit des Wissens befreit und schließlieh das reine Wissen, das sich nur selbst zum Gegenstand hat, erzeugt.

Indem Marx, durch Feuerbachs Hegel-Kritik geleitet, innerhalb dieser Thematik an die Stelle des Geistes den Menschen setzt, liest er die „Phänomenologie" als die Darstellung des Prozesses der „Selbsterzeugung des Menschen." Die Entäußerung seiner Wesenskräfte und die Aufhebung dieser Entäußerung wird dabei von Marx als das „Wesen der Arbeit" erfaßt und der Mensch, der „gegenständliche, wahre, weil wirkliche Mensch" als das „Resultat seinen eigenen Arbeit" begriffen.(28) Diese Umdeutung der Hegel-schen „Phänomenologie des Geistes" durch Marx, der fast alle marxistischen

Theoretiker folgen, verleiht diesem Werk, daß den absoluten Idealismus der Hegeischen „Logik" begründen soll, einen deutlichen materialistisch-dialektischen Sinn. Dabei kann es durch einige Äußerungen Hegels in der „Phänomenologie" untermauert werden, daß es berechtigt ist, den Prozeß der schrittweisen Aufhebung des Gegenstandes als Arbeit des Geistes zu bestimmen. Was Marx für seine kritische Rezeption dieser Thematik nicht berücksichtigen konnte, kann im nachhinein entscheidend zu ihrer Unterstützung dienen. Der Begriff der Arbeit, der in der „Phänomenologie" ganz in die darin schließlich erzielte idealistische Gcistkonzeption integriert ist, beruht in den „Jugendschriften" und „Jenaer Schriften" Hegels auf konkreten materialistischen Elementen in seinem Denken, auf dem Praxisbezug und der zeitkritischen Ausrichtung seiner Philosophie, die die radikalsten Formen der Veräußerlichung und Entfremdung des geschichtlichen Lebens in der ökonomischen Sphäre aufgesucht hat.

2. Die mystifizierte Gestalt der Bewegungsformen des dialektischen Denkens in Hegels „Wissenschaft der Logik" (1812/16)

Auf der Grundlage des Ergebnisses der „Phänomenologie des Geistes" behauptet Hegel daß das Wissen rein auf sich beziehbar ist, daß die in ihm enthaltenen Bestimmungen nicht nur unabhängig von allem gegenständlichen Wissen erfaßt werden können, sondern sogar diesem Wissen als die Bedingungen seiner Möglichkeit zugrundeliegen. Von einer materialistischen Lektüre dieses Werkes ausgehend, wie Marx sie vorgeschlagen hat, kann man sagen: dieses Wissen ist nicht das reine Wissen, sondern das Wissen des Menschen, der zu dem Bewußtsein gekommen ist, daß er sich selbst, sein materielles Leben durch Arbeit produziert und reproduziert. Materialistisch betrachtet, setzt der Mensch als Naturwesen seine physischen Organe und Kräfte in Bewegung, um den ihn umgebenden Raum der Natur zum Gegenstand der Bearbeitung zu machen. Das Verhältnis Mensch-Natur, die Entgegensetzung zwischen beiden, ist deshalb so zu sehen, daß die Natur als übergreifende in sich dialektische Einheit vorausgesetzt werden muß. Von hier aus stellt sich das Problem, wie das Denken in sich strukturiert ist, das die Natur, den in ihr existierenden Menschen, die Objektivierung dieses Gegensatzes und die Zurücknahme dieser Objektivierung in der menschlichen Arbeit als seinen allgemeinsten Gegenstand zu erfassen sucht.

Es erscheint als eine wichtige philosophische Fragestellung, welche für sich gestellten dialektischen Bestimmungen in diesem Denken enthalten sind. Dies bildet den Ausgangspunkt für eine kritische materialistische Interpretation der „Wissenschaft der Logik." Der Anspruch Hegels, daß die Bestimmungen des reinen Wissens vor allem bestimmten gegenständlichen Wissen und unabhängig von ihm erfaßt werden können, daß sie für dieses die Voraussetzung und die Bedingungen seiner Möglichkeiten darstellen, ist der Ausdruck für'die mystifizierte Gestalt, in der die Darstellung der Bewegungsformen des dialektischen Denkens vorliegt. In Hegels Schriften bestätigt sich wiederum selbst, daß die materialistische Interpretation seiner Philosophie die darin ausgedrückte Intention richtig getroffen hat, wenn er die Selbstentfaltung des reinen Denkens in seiner „Logik" als die „Darstellung Gottes" bezeichnet, „wie er in seinem ewigen Wesen vorder Erschaffung der Natur und eines endlichen Geistes ist."(29) Die mystifizierte Gestalt des Denkbestimmungen, die im Denken der Wirklichkeit ausgearbeitet werden, kann kaum deutlicher zum Ausdruck kommen.

Aus der Tatsache, daß bei Hegel die für sich gestellten allgemeinen Bestimmungen des Denkens nicht als das Denken einer bestimmten Wirklichkeit, eines historisch und gesellschaftlich festzumachenden Gegenstandsbereiches gelten, entsteht aber auch ein Problem ihrer inneren Strukturierung. Das reine Denken kann in sich die Objektivität nur als die notwendige Projektion seiner selbst in die äußere Welt betrachten. Alle Bestimmungen der Objektivität sind als Bestimmungen des reinen Denkens aus ihm selbst gewonnen. Das Denken bewegt sich nicht innerhalb einer komplexen Gegenständlichkeit, die es theoretisch reproduziert. Es ist Produktion seiner selbst und seiner möglichen Gegenstandsbereiche. Der Widerspruch, auf dem es beruht, ist der Widerspruch, der in ihm selbst liegt, der Widerspruch des Denkens mit sich selbst, mit der Projizierbarkeit seiner Bestimmungen in die äußere Welt. Das bedeutet: der Widerspruch des reinen Denkens, von dem Hegel in der „Wissenschaft der Logik" ausgeht, ist der einfache Widerspruch dieses Denkens mit sich. Alle folgenden, immer komplizierter werdenden Bestimmungen dieses Denkens lassen sich auf den einfachen Widerspruch zurückführen.

Diese Eigenart der Hegelschen Dialektik, daß sie von einem einfachen Widerspruch ausgeht und sich darin von der materialistischen Dialektik in ihrem inneren strukturellen Gcfüge unterscheidet, ist im Rahmen der Tradition der marxistischen Philosophie mit Hinweis auf die Widcrspruchslehre von Mao Tsetung durch Althusser erkannt worden.30 Die mystifizierte Gestalt der Bewegungsformen des dialektischen Denkens bei Hegel ist somit zugleich die Ursache dafür, daß diese Bewegungsformen für eine materialistische Dialektik schon in ihrem Ausgangspunkt in entscheidender Hinsicht modifiziert werden müssen. Diese These läßt sich durch den Hinweis auf das „Kapital" erhärten, durch die Betrachtung der Art und Weise, in der Marx an dieser wichtigen Stelle mit den Bestimmungen der Hegeischen „Logik" arbeitet. Die Warenform aller Dinge, von der Marx hier ausgeht und die er auf das Wertverhältnis zweier Waren als die einfachste allgemeinste Bestimmung der bürgerlichen Ökonomie zurückführt, ist in sich selbst ein komplex strukturiertes Ganzes. Die Ware B bildet für die Ware A, mit der sie ihrem Wert nach identisch ist, den unaufhebbaren, ihr entgegengesetzten zweiten Pol im Wertverhältnis.(31) Am Anfang steht also ein Verhältnis, in dem Identität und Gegensatz enthalten sind. Es bildet als solches die nicht weiter zerlegbare einfachste Einheit, von der die theoretische Reproduktion der komplexeren Bestimmungen der Wirklichkeit ausgeht.

Bei dem Vergleich der Logik des reinen Denkens mit der „Logik des .Kapitals'" muß man freilich bedenken, daß es im ersten Fall um den Aufweis der allgemeinen Bestimmungen des dialektischen Denkens geht, während es sich im Marxschen „Kapital" um die Anwendung dieses Denkens auf das Gebiet der politischen Ökonomie der bürgerlichen Gesellschaft handelt. Bei einer solchen Anwendung sind stets bestimmte Modifikationen der allgemeinen Formen aufgrund der besonderen Bedingungen des Gegenstandsbereiches erforderlich. Andererseits ist der Vergleich keinesweges beliebig. Denn die politische Ökonomie ist dasjenige Anwendungsgebiet des dialektischen Denkens, in dem der allgemeine Gegenstandsbereich dieses Denkens, der nach Marx in der Hegelschen „Phänomenologie" als konstitutiv für die Entstehung dieses Denkens vorausgesetzt wird: das Auftreten des Menschen in der Natur, die Produktion seiner selbst und seiner Welt durch Arbeit, in seinem grundlegenden historisch konkreten Gestalten untersucht wird.

Der einfache Widerspruch, von dem Hegel in der „Wissenschaft der Logik" ausgeht, ist der Widerspruch von Sein und Nichts und seine Einheit im Werden. Das reine Denken, dem sein materielles Korrelat verborgen bleibt, is nach Hegel Bestimmen, sich in seinem Bestimmen mit sich Vermitteln. Den Ausgangspunkt dieses Bestimmens bildet die unmittelbare Unbestimmtheit. Diese muß ebensosehr als das aller Bestimmtheit Vorausliegende, das Daß des Bestimmens oder das reine Sein gedacht werden wie als die völlige Bestimmungslosigkeit, das Fernhalten eines Was des Bestimmens oder das reine Nichts. Das eine kann indessen nicht gedacht werden ohne das andere. Indem da reine Sein gedacht wirdt, wird es von seiner Negation aus expliziert: es ist nichts anderes als es selbst. Indem das reine Nichts gedacht wird, wird es von seiner Position aus expliziert: als Fernhalten von etwas ist es nicht Nichts, sondern Sein. Das Denken des Seins und des Nichts ist das Übergehen vom einen in das andere, es ist die Bewegung des Werdens. Dies ist zugleich auch die Bewegung, die das Denken der Bestimmtheit von einer Stufe zur anderen vorantreibt, von der Stufe der Qualität zu derjenigen der Quantität und von dieser schließlich zur Einheit von beiden in der Stufe des Maßes, das bestimmte Quantitäten von bestimmten Qualitäten ausdrückt: „Alles, was da ist, hat ein Maß ... eine Größe, und diese Größe gehört zur Natur von Etwas selbst."(32)

Weil auf diese Weise jede einzelne Bestimmtheit ist, indem sie sich selbst negiert, ist keine Bestimmtheit als solche festzuhalten. Übrig bleibt allein die Bewegung des Übergehens von einer Bestimmtheit zu anderen oder ihr Verhältnis. Als reines Verhältnis bezieht es sich auf die Bestimmtheit überhaupt, für die die einzelne Bestimmtheit gleichgültig ist. Aber es enthält in sich bestimmte Momente, die es in seiner Einheit als strukturiert erweisen: die Momente der Identität, des Unterschieds und des Widerspruchs. Als solches bildet das Verhältnis die angemessene allgemeine gedankliche Form, die das begriffliche Gerüst für den Ausgangspunkt der Erfassung konkreter gesellschaftlich-geschichtlicher Verhältnisse abgeben kann. Vom Anfang des Marxschen „Kapitals" aus ist zu überlegen, ob beim Verhältnis nicht der Einsatzpunkt für den Aufweis der allgemeinen Bewegungsformen der materialistischen Dialektik zu sehen ist, so daß die Bestimmtheiten der Qualität, Quantität und des Maßes von vornherein als Bestimmtheiten in einem Verhältnis gedacht werden müssen.

Bei Hegel folgen auf die Erfassung der Strukturiertheit des Verhältnisses als solchen die geläufigen Verhältnis- oder Relationskategorien: Grund und Begründetes, erscheinende und an sich seiende Welt, Substantialität, Kausalität, Wechselwirkung. Als die Einheit der Bestimmtheit und des Verhältnisses wird schließlich der Begriff abgeleitet. Er ergibt sich aus dem Verhältnis in seiner vollständigen inneren Bestimmtheit. Darin vollzieht sich die Rückkehr aus dem Verhältnis zur Bestimmtheit. Dies als allgemeine Strukturform gefaßt, die Rückkehr zu sich, bezeichnet Hegel als die absolute Subjektivität. Sie enthält in sich die Bestimmungen ihres Gegenteils, der Objektivität. Die Mystifikation der Bewegung des vermeintlich reinen Denkens wird definitiv in der These, daß die Objektivität nur das Sichwiederfinden der Subjektivität in der äußeren Natur darstellt, genauer in der Teleologie des organischen Lebens. Die Einheit von Subjektivität und Objektivität drückt aber die absolute Vermittlung der Bestimmungen des Denkens mit sich aus. Der Kreis der Selbstvermittlung dieser Bestimmungen ist vollständig durchlaufen. Die erreichte absolute Selbstvermittlung des Denkens, die Vollständigkeit ihres Vollzuges heißt bei Hege! die absolute Idee.

Die absolute Selbstvermittlung des Denkens, die sich in der Bewegung des Sichvermitteins seiner Bestimmungen vollzieht, ist aber keine eigene Bestimmung neben der Gesamtheit dieser Bewegung. Die absolute Idee ist das „Werden zu sich,"(33) sie ist die Gesamtheit der Bewegung des Sichvermittelns des reinen Denkens. Als solche wird sie am Schluß der „Logik" noch einmal für sich gestellt und in ihrer allgemeinen Bewegungsstruktur erfaßt. Dies ist die Darstellung der absoluten Idee als absoluter Methode.(34) Unmittelbarkeit und Vermittlung bilden eine Einheit. Die erste wird durch die zweite negiert: =>. Das setzt voraus, daß die Unmittelbarkeit U bereits als Vermitteltwerdenkönnen (V) gedacht wird. Die Vermittlung V, die die Unmittelbarkeit negiert, enthält diese als negierte (U), als das, woraus sie hervorgeht, in sich. Durch die Negation ihrer selbst => kehrt die Vermittlung insofern zur Unmittelbarkeit zurück, als der Vermittlungsprozeß ihr ganzes Sein, ihre Unmittelbarkeit ausmacht. Diese zweite Unmittelbarkeit ist aber nicht nur allgemeines Vermitteltwerdenkönnen. Sie enthält in sich als negierte die erste Unmittelbarkeit U (V) und deren Negation durch die Vermittlung V (U). Von daher läßt sich das Grundmodell der dialektischen Methode durch folgendes Schema ausdrücken:

Die realphilosophischen Teile des Hegeischen Systems der Philosophiere Philosophie der Natur und des Geistes, bilden die äußere Bestätigung für die voll entwickelte innere Struktur des reinen Denkens. Einerseits erweisen sich die allgemeinen Formen dieses Denkens in ihrer Anwendung auf bestimmte Bereiche der Wirklichkeit als ein äußerst anpassungsfähiges und darin sachgemäßes Instrumentarium zu ihrer Erfassung. Hegel selbst,verabscheut es, wenn das Prinzip der absoluten Methode, die „Triplizität" zu dem „Formalismus" von These, Antithese und Synthese heruntergebracht wird, der „zu einem äußerlichen Ordnen," aber nicht zum Begreifen der Wirklichkeit geeignet ist.3S Am Ende der Realphilosophie erweist sich dann aber doch als wahr, was sich schon in der „Logik" ergeben hat, daß die „äußerliche Idee" nur bestätigt, was sich in den Bestimmungen der „reinen Idee" als dem „sich begreifenden reinen Begriff findet."(36) Die Idee ist für Hegel somit in der Tat der „Demiurg des Wirklichen,"(37) das nur ihre äußere Erscheinung bildet. Sie zeichnet die Bestimmungen der Wirklichkeit in sich vor, die in ihrem sachlichen Gehalt durch ihre äußere Erscheinung letztlich nicht verändert oder auch nur in Frage gestellt werden können.

3.Vergotttung des Staats in Hegels „Rechtsphilosophie" (1821) und Mythos des Weltgeists in seinen „Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte'''' (1822/23 und öfter) im Kontext konkreter Analysen gesellschaftlich-geschichtlicher Verhältnisse

In den realphilosophischen Teilen des Hegeischen Systems ergibt sich eine besondere Zuspitzung des Widerspruchs zwischen der dialektischen Methode und ihrer idealistischen Begründung in der Philosophie der Gesellschaft und des Staates, sowie in der Philosophie der Geschichte. Hier erweist sich auf der einen Seite, daß der Gegenstandsbereich der darauf angewandten dialektischen Methode auf besondere Weise angemessen ist. Auf der anderen Seite dokumentiert der Rekurs auf den Staat als den „erscheinenden Gott" und auf den Weltgeist als den eigentlichen Träger der Geschichte um so deutlicher, daß das dialektische Denken bei Hegel auch an diesen Stellen seine mystifizierte Gestalt nicht abzustreifen vermag.

Die innere Zerrissenheit der bürgerlichen Gesellschaft aufgrund des Profitinteresses und der Konkurrenz, sowie aufgrund der „Art der Arbeit" durch die weitgehende „Spezifizierung der Mittel" wird von Hegel in der „Rechtsphilosophie" deutlich herausgearbeitet. Er folgt der liberalen Wirtschaftstheorie der englischen politischen Ökonomen, die ihm seit seiner Beschäftigung mit diesen Problemen in der Jugendzeit und in der Jenaer Zeit geläufig ist, wenn er gerade im Verfolgen der partikularen Interessen der einzelnen Unternehmer, in der äußerlich und mechanisch gewordenen Form der Arbeit die Voraussetzung eines formellen Allgemeinen sieht, das sich ohne die Absicht der Beteiligten, gewissermaßen hinter ihrem Rücken herstellt. Er formuliert dies so: „In dieser Abhängigkeit und Gegenseitigkeit der Arbeit und der Befriedigung der Bedürfnisse schlägt die subjektive Selbstsucht in den Beitrag zur Befriedigung der Bedürfnisse aller anderen um." Die „dialektische Bewegung" der Selbstvermittlung des Einzelnen und Besonderen zu einem Allgemeinen findet ihre reale Entsprechung in dem ökonomischen Sachverhalt, „daß, indem jeder für sich erwirbt, produziert und genießt, er eben damit für den Genuß der Übrigen produziert und erwirbt."

Bei Hegel finden sich in diesem Zusammenhang bereits Hinweise darauf, daß im System der bürgerlichen Gesellschaft die Voraussetzungen enthalten sind, die zur Entstehung von grenzenlosem „Luxus" und einer „ebenso unendlichen Vermehrung der Abhängigkeit und Not" führen müssen.(38) Trotzdem begnügt er sich auf der Stufe der bürgerlichen Gesellschaft bewußt mit dem formellen Allgemeinen des ökonomischen Gleichgewichts, das als Einheit dieses Gegensatzes gedacht wird. Das kann an dieser Stelle als inkonsequent erscheinen. Es erklärt sich daraus, daß nach Hegel die substantielle Allgemeinheit, die das Zusammenleben der Menschen letzlich ermöglicht, nicht auf der Stufe der Gesellschaft, sondern erst auf der des Staates verwirklicht wird.

Vom Staat heißt es bei Hegel, daß er die „Wirklichkeit der sittlichen Idee" und als solcher im Bereich des objektiven Geistes das „an und für sich Vernünftige" ist. Der Fortschritt des modernen Verfassungsstaates, daß er das „Prinzip der Subjektivität," die Freiheit des einzelnen garantiert, wird mit der traditionellen Substanz-Metaphysik verbunden, die den Staat zur naturgegebenen Einheit der Individuen erklärt, die ihre Freiheit nur durch die unbedingte Einordnung in die innere Gliederung des Staatsorganismus realisieren können. Die Einheit von Freiheit und Notwendigkeit, die so entsteht, gilt letztlich nur für die absolute, göttliche Subjektivität, die zugleich beanspruchen kann, alle Substanz der endlichen Wirklichkeit zu bestimmen.(39) Dieser theologisch-religionsphilosophisch bestimmte Begriff des Staates wird von der These des jungen Marx durchaus getroffen, die an Feuerbachs Religionskritik orientiert ist und die besagt, daß hier eine Vertauschung von Subjekt und Prädikat vorliegt. Der Staat als die Wirklichkeit, die der Idee gemäß ist, wird von Hegel zum Subjekt gemacht, während Familie und bürgerliche Gesellschaft, aus denen sich der Staat autbaut, zu seinen „ideellen Sphären," zu Prädikaten dieses Subjekts herabgesetzt werden.(40)

Eine entsprechende innere Widersprüchlichkeit von konkreter Analyse und mythologischer Überhöhung der Wirklichkeit findet sich in Hegels Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte. Die Begründung der dialektischen Methode in der „Wissenschaft der Logik," die das Denken als Prozeß erfaßt, gelangt in der Geschichte auf ein Anwendungsgebiet, das ihr auf besondere Weise angemessen ist. Nun haben wir aber bereits gesehen, daß die logische Genesis der Begriffe, die in einem durchgehenden Ableitungszusammenhang aus dem einfachen Widerspruch von Sein und Nichts entwickelt werden, zu einer mystifizierten Gestalt der Bewegungsformen des dialektischen Denkens führt. Die absolute Vermittlungsstruktur dieses Denkens wird als absolute Subjektivität aufgefaßt, die die Bestimmungen der Objektivität in sich enthält.

Wenn die Abfolge der Bestimmungen des reinen Denkens in dieser Form zum Modell des Begreifens der Geschichte gemacht wird, dann muß diese durch alle dialektischen Brüche hindurch als eine Totalität erscheinend und der „Weltgeist" zum „identischen Subjekt-Objekt" dieser Totalität erhoben werden. Lukacs hat zum Begriff des Weltgeists in der Hegelschen Geschichtsphilosophie zutreffend bemerkt: „Hier ist der Punkt, wo die Philosophie Hegels mit methodischer Notwendigkeit in die Mythologie getrieben wird." Der Weltgeist als das identische Subjekt-Objekt der Geschichte ist nicht selbst innerhalb der Geschichte anzutreffen. Durch die „List der Vernunft" bedient er sich der endlichen Subjekte zur Verwirklichung seiner Ziele. Die Vertauschung von Subjekt und Prädikat, die dieser Auffassung zugrundeliegt, wird jedoch von Lukacs nicht wirklich zurückgenommen, wenn er demgegenüber die Geschichte zum umfassenden Korrelat der dialektischen Methode erklärt und nun innerhalb ihrer Totalität das Subjekt-Objekt ihres gesamten Entwicklungszusammenhang aufzuzeigen sucht. An die Stelle des Weltgeists tritt das Proletariat, das nun zum identischen Subjekt-Objekt des Geschichtszusammenhanges eingesetzt wird, ohne daß dessen durchgängige Einheit konkret begrenzt wird. Es gibt aber materialistisch betrachtet keine zureichenden Belege dafür, daß die Geschichte als diese Einheit den „lebendigen Körper der Totalität des Systems" bildet, innerhalb dessen die Struktur der absoluten Vermittlung als verwirklicht gedacht werden kann.(41)

Die Totalität einer gegebenen durchgängigen Vermittlungsstruktur, von der im Sinne des Materialismus ausgegangen werden kann, ist allein der Zusammenhang der gegenwärtigen ökonomisch-gesellschaftlichen, politischen und geistigen Verhältnisse. Ebensowenig wie das dialektische Denken als Abfolge der Bestimmungen anerkannt werden kann,die sich vollständig aus dem einfachen Anfang des Selbstwiderspruchs des reinen Denkens mit sich ableiten lassen, ist die Geschichte die einheitliche entstehungsgeschichtliche Erklärung der Totalität der Gegenwart. Der historische Materialismus als konkrete philosophisch-wissenschaftliche Erfassung der Geschichte sieht sich vielmehr darauf verwiesen, in der Geschichte bestimmte belegbare Entwicklungszusammenhänge (Totalitäten) aufzusuchen, die zur Gegenwart hinführen und die bestimmte Aspekte in ihrer vielfältigen Struktur, nicht jedoch die Totalität ihres Seins aus ihrem Gewordensein erklären können.

Anmerkungen

1) Vranicki, Geschichte des Marxismus, vol. l, S. 19.

2) Negt, Einleitung zu: Deborin/Bucharin, Kontroversen über dialektischen und mechanistischen Materialismus.

3) Lenin, „Drei Quellen und drei Bestandteile des Marxismus, "Werke, vol. 19,8.4.

4) Kaegi, Genesis des historischen Materialismus.

5) Cornu, Karl Marx et Friedrich Engels, 4 vol.

6) Mehring, Karl Marx, Geschichte seines Lebens; Korsch, Karl Marx; Lefebvre, Marx 1818-1883.

7) Lukacs, Zur philosophischen Entwicklung des jungen Marx.

8) Rosental, Die marxistische dialektische Methode; Die Dialetik in Marx' „Kapital"; Rosental/Kursanow (Red.), Geschichte der marxistischen Dialekttik, 2 vol.

9) Buhr u.a.,Theoretische Quellen des wissenschaftlichen Sozialismus.

10) Buhr/Irrlitz, Der Anspruch der Vernunft; Stiehler, Der Idealismus von Kant bis Hegel; Stiehler (Hrsg.), Veränderung und Entwicklung.

11) Van der Hoeven, Karl Marx. The Rools of His Thought. '2 Vranicki, Geschichte, S. 21.

13) Bloch, Das Materialismuxproblem, seine Geschichte und Substanz, S. 17.

14) Engels, „Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie," MEW, vol. 21, S. 25^-307.

15) Proudhon, Philosophie der Staatsökonomie oder Notwendigkeit des Elends, vol. 2,S. 489-492.

16) Marx, „Das Elend der Philosophie," MEW, vol. 4, S. 63-182.

17) Marx, „Das Kapital," vol. 2, MEW, vol. 24, S. 220.

18)  Korsch, Marxismus und Philosophie, S. 35-48; vgl. für die weiteren Erörterungen bes. S. 37-40.

19) Lenin, „Staat und Revolution. Die Lehre des Marxismus vom Staat und die Aufgaben des Proletariats in der Revolution." Werke, vol. 21,8.463-577.

20) Kimmerle, Paradigma der Logik des revolutionären Denkens.

21) Marx, „Thesen über Feuerbach," MEW, vol. 3, S. 5-7.

22) Hegel, Werke in zwanzig Bänden, vol. i, S. 235. Einfügung im Zitat vom Verf. .

23) Kant, Die Religion innerhalb dar Grenzen der blassen Vernunft, S. 28-32 und 137-153.

24) Lukacs, Der junge Hegel, über die Beziehungen von Dialektik und Ökonomie.

25) Hegel, Werke, vol. i, S. 236,420-423,451-460.

26) Eine Rekonstruktion von „Hegels .System der Philosophie' in den Jahren 1800 bis 1804" findet sich bei Kimmerle, Das Problem der Abgeschlossenheit des Denkens. Dort wird an zahlreichen Stellen eine auffällige Parallelität des Hegelschen Denkens auf dieser Stufe seiner Entwicklung und der Marxschen Theorie herausgestellt.

27) Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (Ausg. Nicolin/ Pöggeler), S. 50(817).

28) Marx, „Philosophisch-ökonomische Manuskripte," MEW, Erg. Band i, S. 574.

29) Hegel, Wissenschaft der Logik, vol. l (Ausg. Lassen), S. 31.

30) Althusser, Für Marx, S. 66-70, 100-101; Mao Tsetung, „Über den Widerspruch." In: Werke, vol. i, S. 353-400.

31) Marx, Das Kapital, vol. i, MEW, vol. 23, S. 62-63.

32) Hegel, Logik, vol. i (Ausg. Lassen), S. 343.

33) Guzzoni, Werden zu sich. Eine Untersuchung zu Hegels „ Wissenschaft derLogik."~

34) Hegel, Logik, vol. 2 (Ausg. Lassen), S. 494-500. 33 a.a.O., S. 498.

36) a.a.O., S. 506.

37) Marx, Das Kapital, vol. i, MEW, vol. 23, S. 27.

38) Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (Ausg. Hoffmeister), S. 172-175 (§§ 195-200).

39) Hegel, Philosophie des Rechts (Ausg. Hoffmeister), S. 207-208 (§§ 257-258) und 217-218 (§§262 und 266).

40) Marx, „Kritik des Hegelschen Staatsrechts," MEW, vol. i, S. 207-209.

41) Lukacs, „Geschichte und Klassenbewußtsein," Werke, vol. 2, S. 329.

Editorische Anmerkungen

Der Aufsatz ist das 1. Kapitel des Buches: Modelle der materialistischen Dialektik - Beiträge der Bochumer Dialektikarbeitsgemeinschaft, hrg. von Heinz Kimmerle, Den Haag 1978, S. 7-31

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