Frankreich erlebt den
ziellosen Aufstand eines wenig gelittenen und besonders schlecht
behandelten Teils seiner Überbevölkerung.
Es heißt, die Jugendlichen, die in
Frankreich auf die Straße gehen, hätten "keine
Perspektive". Eine sehr vornehme Umschreibung ihres Status in
dieser Gesellschaft: Für die allermeisten von ihnen gibt es
nämlich keine nützliche Verwendung. Wie sie sich
überhaupt nur nützlich machen können, ist in dieser
Gesellschaft klar und eindimensional definiert: durch Arbeit gegen
Lohn. Für die randalierenden Jugendlichen gilt insofern dasselbe
wie für alle anderen Franzosen, die nicht das Glück hatten,
reich geboren zu werden. Doch auch in Frankreich lassen Unternehmer
nur unter der Voraussetzung für sich arbeiten, dass der Lohn,
den sie vorschießen, sich auf ihrer Seite als Mehrung ihres
Reichtums niederschlägt. Und das Urteil, das über die
Jugendlichen aus den französischen Vorstädten in ihrer
großen Mehrheit ergangen ist, lautet: Nein danke, kein
Interesse. Wie in ganz Europa befleißigen sich französische
Unternehmer zunehmender Zurückhaltung, was die Bestückung
ihrer Fabriken und Büros mit menschlichem Inventar angeht. Auch
in Frankreich ist die Karriere vom Arbeitslosen zum
Langzeitarbeitslosen schon sehr normal geworden - und auch in
Frankreich hat man sich daran gewöhnt, dass eben diese
Langzeitarbeitslosen früher oder später im obigen Sinne
endgültig 'nutzlos' sind. Ironisch gesprochen, bleibt sehr
vielen Jugendlichen in den Banlieues der großen Städte -
ebenso wie ihren Eltern - die übliche Karriere eines
Lohnarbeiters gleich "erspart": Mit Arbeit bzw. mit dem
Zwang, sich damit einen Lebensunterhalt zu verdienen, anschließend
mit dem Verlust der Arbeit und dem sich daran anschließenden
Zwang, sich doch irgendwie wieder eine zu ergattern, kommen sie gar
nicht erst in Berührung. Sie starten ihr Leben gleich als
Bestandteil der Überbevölkerung, also der Leute, die
das Kapital ein für allemal aus seinem Kreislauf ausgeschieden
hat, und ihre "Perspektive" ist, dass sie das auch bleiben.
Aber wollen diese Jugendlichen sich über diese
"Perspektivlosigkeit" beschweren, wenn sie Autos anzünden,
wollen sie dagegen protestieren?
Nun sind Zeitungen und TV-Sendungen voll
mit Informationen über die soziale Lage in den französischen
Vorstädten und es gibt Sozialexperten, die in der Randale
"Verzweiflung" und einen "Hilferuf" entdeckt
haben wollen. Wenn die Jugendlichen via Fernsehen oder Zeitung selbst
etwas erzählen dürfen, dann kommen durchaus Äußerungen
über fehlende Ausbildungs- und Arbeitsplätze vor. Aber
immer als Bild dafür, dass sich um sie eh keiner kümmert,
sie wie der letzte Dreck betrachtet und behandelt werden. Wenn sie
überhaupt ein Anliegen oder gar eine Forderung vorbringen, dann
ist die folgerichtig auf der höheren Ebene der persönlichen
Ehre angesiedelt: Frankreichs Innenminister Sarkozy soll sich
dafür entschuldigen, vielleicht auch deswegen zurücktreten,
dass er sie als "Gesindel" und "Abschaum"
bezeichnet hat und ihnen mit dem "Hochdruckreiniger" kommen
will. Diese Äußerungen waren zwar nicht der Auslöser
der Randale - Sarkozy sagte das erst, nachdem sie schon angefangen
hatte -, aber dass sich der Unmut der Aufsässigen daran
besonders entzündete, wirft ein Licht auf das, was man ihre
'Seelenlage' nennen könnte.
"Ständig heißt es,
wir müssten dies und das respektieren. Aber wer respektiert uns?
Solange wir uns still halten, kümmert man sich einen Dreck um
uns!" (NZZ Online, 6.11.05)
Diese Jugendlichen beschäftigt
nicht die Frage, wie und warum sie unbrauchbar sind bzw. gemacht
werden. Der kapitalistische Arbeitsmarkt und warum ihnen der so
feindselig gegenübersteht, ist ihr Ding nicht. Sie sind wütend
über die Folgen ihres Ausgeschlossenseins, und dabei
erregen sie sich weniger über das fehlende Geld, als vielmehr
über den alltäglichen Rassismus, der ihnen entgegenschlägt,
über die Diskriminierung durch Polizei und andere staatliche
Behörden, also über ihren Status als Außenseiter, für
die die Staatsgewalt schikanöse Kontrollen übrig hat und
sonst nichts.
"Die gehen nur nach dem Aussehen
und beschimpfen dich. Selbst wenn du dich ausweisen kannst, schlagen
sie dir den Ausweis aus der Hand und drücken dich mit dem
Gesicht gegen die Wand. Dann ziehen sie dich fast aus und greifen dir
in den Intimbereich, um nach Drogen zu suchen." (SZ,
10.11.05)
Dagegen halten sie, dass sie - trotzdem
- doch "auch wer sind". Und für den Beweis,
dass man ihnen - egal, wie ihre so genannte "soziale Lage"
ist - staatlicherseits Respekt schuldet, schmeißen sie
Steine und Molotow-Cocktails. Das ändert zwar nichts an ihrer
"sozialen Lage", aber darum geht es ihnen auch nicht mit
ihrem nächtlichen Ausrasten, sondern um Rache dafür, dass
sie aus der französischen Gesellschaft ausgegrenzt werden, also
darum, dass man sie nicht ausgrenzen soll. Immerhin sind sie doch
Franzosen - was sie gerade dadurch unterstreichen, dass sie
sich enttäuscht und verbittert geben und stolz den Rassismus der
Normalbürger zitieren, indem sie sich selbst als "Araberfressen"
bezeichnen. Die Tatsache, dass sie von der Staatsgewalt täglich
unter den Verdacht gestellt werden, sich als eben dieser
ausgemusterte Bevölkerungsteil unruhestiftend und kriminell
aufzuführen - viel anderes bleibt ihnen ja nicht -, und dass sie
entsprechend bekämpft werden, legen sie sich so zurecht, dass
ihr Vaterland nicht einsieht und respektiert, dass es sich bei ihnen
keinesfalls um schlechte, nur eben um besondere Franzosen
handelt. Und genau das soll der französische Staat gefälligst,
notfalls mit ein wenig gewalttätiger Nachhilfe ihrerseits,
einsehen und respektieren.
Hartgesottene Staatsdiener wie Sarkozy
drehen diese Sichtweise der jugendlichen Randalierer einfach um:
Solche Politiker sind sich sicher, dass die "Ursache" des
Aufruhrs darin liegt, dass die Armen aus den Vorstädten
ihrerseits nicht genügend Respekt aufbringen - vor der
gesellschaftlichen Ordnung nämlich. Sarkozy interessiert sich
nicht für den wirklichen Status dieses Segments der
französischen Klassengesellschaft: Dass diese Gesellschaft
menschlichen Ausschuss produziert, wenn sie z. B. an
diesen Jugendlichen keinen Nutzen für sich entdeckt, ist für
ihn bloß ein Ordnungsproblem, dem mit den entsprechenden
Ordnungsmaßnahmen beizukommen ist. Daher gehen die Regierung
Frankreichs und ihr zuständiger Minister schon seit einiger Zeit
gegen die "rechtsfreien Räume" mit Klein- und
Bandenkriminalität vor, die sie in den Banlieues entdeckt haben
wollen. In diesem Sinne gehören die Unmutsäußerungen
der in diesen Gegenden wohnenden Leute gewaltsam unterdrückt -
dann passen sie sich vielleicht wieder an und fallen nicht unangenehm
auf.
Der Aufruhr aus den Vorstädten
kommt aber auch bei der akademisch gebildeten Öffentlichkeit an.
Die Randale deckt auf - und das nicht zum ersten Mal -, welches Elend
in Frankreichs Vorstädten herrscht. Darum ist es auch für
sie - zum x-ten Mal - "höchste Zeit, die Ursachen zu
erforschen". Kritische Personen melden sich und fragen, ob man
diese Leute auch nachdrücklich und überzeugend genug darauf
aufmerksam gemacht hat, dass man sich mit der richtigen Einstellung
und mit ein wenig Hilfestellung durch geschultes Fachpersonal im
Elend tatsächlich einrichten und sich mit ihm abfinden kann.
Hat man denn den Aufruhr nicht geradezu provoziert, indem man diese
Leute in die Vororte verbannt und die Ausgaben für Sozialarbeit
reduziert hat? Könnten nicht umgekehrt die Unruhestifter wieder
auf den richtigen Weg geführt werden, wenn man ihnen nicht mit
der Polizei, sondern mit staatlich bestellten Armutsberatern kommt? -
Premierminister de Villepin antwortet mit einer Doppelstrategie: Er
verstärkt einerseits die Polizeikräfte und verhängt
eine nächtliche Ausgangssperre, aber er verweist andererseits
auch darauf, dass er ein Herz für die "sozial
Benachteiligten" hat, was man daran erkennen könne, dass er
einen Vorzeige-Benachteiligten, der doch wohl ein Vorbild für
die entgleiste Jugend ist, auf Vorrat hat:
"Demonstrativ favorisiert de
Villepin den jungen Azouz Begag, Ministre délégué,
was etwa einem Staatsekretär entspricht. Der gelernte Soziologe
Begag, der Kindheit und Jugend in einem verkommenen Slum verlebt hat,
ist gewissermaßen das soziale Gewissen dieser Regierung."(SZ,
3.11.05)
Diese Geheimwaffe zieht der
Ministerpräsident heraus und schickt seinen Staatsekretär
auf die Straße - das wird allgemein als schöne Geste
empfunden und keiner fragt, was sich dadurch eigentlich für die
Jugendlichen verbessert. Aber das scheint sogar deren 'Seelenlage'
entgegenzukommen. Eine Gruppe lässt sich glatt von de Villepin
zu einem Gespräch einladen, nachdem sie vorher Sarkozy diese
Ehre verweigert hat. Doch der Premierminister tut noch mehr und legt
ein paar zusätzliche Sozialprogramme auf. Kein Mensch kommt
dabei auf die abwegige Idee, damit würde ein einigermaßen
anständiger Lebensunterhalt für die Armen finanziert.
Aufgabe der Sozialarbeit ist es schließlich noch nie gewesen,
der kapitalistisch produzierten Überbevölkerung das Geld
zur Verfügung zu stellen, das man sie mit Arbeit nicht verdienen
lässt. Es geht vielmehr darum, dass die Leute sich "aufgehoben"
fühlen können, dass man ihnen "zuhört", dass
man ihnen Tipps und Unterstützung gibt, wie sie in und mit
ihrem Elend zurechtkommen können. Dafür wird sogar
von Staats wegen ein bisschen Geld locker gemacht.
Diesen Vorteil hat die Randale in
Frankreich dann doch gehabt: Selten wurde so umstandslos und deutlich
ausgedrückt, dass Sozialarbeit und das dazugehörige Gerede
von der "Integration" sich nur dem einen obrigkeitlichen
Zweck verdankt: Diese Leute, die Grund genug hätten, sich gegen
das hohe Gut des "sozialen Friedens" zu wenden, sollen
stillhalten - damit die Klassengesellschaft ungestört
ihren Gang gehen kann. Dafür werden dann Sozialarbeiter
ausgebildet und eingestellt; und Architekten dürfen sich
überlegen, wie man Wohnblöcke mehr "integrierend"
zueinander arrangiert - und solche werden dann tatsächlich auch
noch gebaut. Welche Wohltat! Bis sie dann wieder total
heruntergekommen sind. Aber das liegt dann garantiert wieder daran,
dass "solche Leute mit Wohltaten einfach nicht vernünftig
umgehen können..."