Frankreich wird von einer
Welle des Aufruhrs erschüttert, die der Tod der
beiden Jugendlichen Bouna und Zyed am 27. Oktober
ausgelöst hat, die während einer Hetzjagd
der Polizei ums Leben kamen. Spontan mobilisierte die lokale
Jugend auf den Straßen und protestierte. In dieser Nacht
sind mehr als Tausend Autos verbrannt,
Dutzende Busse und Gebäude aller Art angezündet und
zerstört worden (Geschäfte, Schulen,
Polizeikommissariate, verschiedene
öffentliche Einrichtungen).
Die Randale wäre vermutlich nach
ein paar Tagen abgeflaut und auf den
Vorort Clichy-sous Bois oder die Region Paris begrenzt
geblieben, hätte nicht der Innenminister die toten
Jugendlichen beschuldigt, einen Diebstahl
vorbereitet zu haben, weitere Lügen verbreitet und sich
seiner Verachtung über sie Luft gemacht. Die Lügen, die
wiederholten Ausfälle des Innenministers
Sarkozy, der vor laufenden Kameras - bis heute -
die Jugendlichen als "Gesindel" bezeichnet, der die
Vorstädte mit einem "Kärcher-Hochdruckreiniger"
säubern lassen will", sich weigert, den Tod der
Jugendlichen öffentlich untersuchen zu lassen, sowie die
Ankündigungen der Regierung, mit starker
Hand gegen die Aufstände vorzugehen, brachte nicht
nur die Jugendlichen in den Vorstädten weiter in Rage,
sondern auch einen nicht zu
unterschätzenden Teil der restlichen Bevölkerung auf die Palme.
Während der darauf folgenden
Zusammenstöße mit den Jugendlichen in den
Banlieues wurden wiederum Tausende von Autos angezündet und
zahlreiche Gebäude (u.a. auch Läden,
Turnhallen, Schulen, weitere Busse, Jugendzentren,
Migrantentreffs) zerstört - allerdings jetzt in ganz
Frankreich. Es gab Hunderte von
Verletzten und bis jetzt bereits mehr als 1.600 Festnahmen. In
Schnellverfahren wurden drastische Strafen verhängt,
Festgenommenen ohne französischen Pass
wird mit Abschiebung gedroht - Aufenthaltsberechtigung
hin oder her.
Am 8. November verhängte der
Ministerrat nun den Ausnahmezustand und
setzte ein aus 1955 datierendes Notstandsgesetz aus dem
Algerienkrieg wieder in Kraft. Dieses Gesetz ermöglicht -
vorerst für 12 Tage - nicht nur lokale
Ausgangssperren, sondern legalisiert auch nächtliche
Hausdurchsuchungen ohne Durchsuchungsbefehl, die
Schließung von Veranstaltungsräumen,
Treffpunkten, Bars usw. Es sieht bei Bedarf auch
Einschränkungen der Pressefreiheit, die Internierung von
Gefangenen in Lagern und weitere
gefährliche Maßnahmen vor. Außerdem galt am vergangenen
Wochenende ein weitreichendes Versammlungsverbot in Paris
und Umgebung. (Dies alles sollte eine
Warnung für alle sein, die die "demokratischen
Rechte" für ganz oder einigermaßen unanfechtbar halten!)
Die Missachtung und dauernden
Erniedrigungen der Vorstadtjugendlichen durch
die Polizei, besonders durch die rassistische
Landespolizei (CRS), hat System. Die Zahl
der Landespolizisten wurde seit den 70er-Jahren von etwa
100.000 auf 150.000 erhöht. Man könnte hier auch eine
endlos lange Liste von Polizeiopfern
(Tote, Verletzte und Gefolterte) der letzten 30 Jahre
veröffentlichen. Drei Dinge haben aber fast alle Fälle
gemeinsam: Die Opfer kamen fast immer aus
den unteren Schichten der Arbeiterklasse, haben häufig
arabische Namen und die Täter, d.h. die Polizisten,
wurden entweder nie angeklagt oder
letztendlich nicht bzw. lediglich zu Bewährungsstrafen
verurteilt. Hier nur einige von zahlreichen Beispielen:
Am 6. August 1977 erschießt ein Brigadier
den unbewaffneten, am Boden liegenden Mustapha
Boukhezzer mit 7 Schüssen in den Rücken. Der Polizist
hatte vorher schon einmal einen Algerier
erschossen und erhält jetzt eine Bewährungsstrafe. ...
Im Oktober 1980 wird Lahouari Ben Mohammed von einem CRS
mit einer Maschinenpistole erschossen,
die Sache wird nicht weiter verfolgt ... 1984
foltert ein Kommissar in Annonay einen Jugendlichen - er
wird von Kollegen angezeigt und es stellt
sich heraus, dass er dies regelmäßig macht - er
verbüßt eine kurze Haftstrafe. 19987 erschießt ein
Inspektor Abdel Benyahia ohne
ersichtlichen Grund - er bleibt auf freiem Fuß. Dieser Vorfall
löste 1987 Proteste, größere
Demonstrationen und Studentenunruhen aus. Die ersten
Aufstände hatte es bereits 1981 und 1983 gegeben. In
deren Folge wurden in den 80er-Jahren von
der damals amtierenden "sozialistischen" Regierung ein
paar wenige der damals versprochenen sozialen Maßnahmen
umgesetzt und damit die Lage vorerst
beruhigt. Anführer der Aufstände wurden ein wenig
"integriert", ein paar Sozialarbeiter wurden in die
Vorstädte geschickt, von tiefgreifenden
Reformen konnte jedoch keine Rede sein.
1984 wurde SOS Racisme begründet.
Diese viel beachtete und große
Organisation war allerdings von Anfang an eine
Alibiveranstaltung der "Sozialistischen"
Partei. Die "Linke" schaffte es nicht, den Rassismus und
die ökonomischen Ursachen für die Zustände in den
Armutsvierteln beim Namen zu nennen.
Angesichts der mageren Versuche, die Verhältnisse in den
Banlieues zu verbessern, gab es 1990
einen weiteren Aufstand. Zu diesem Zeitpunkt hatte
die "sozialistische" Partei bereits die Rhetorik des
starken Staates und der Inneren
Sicherheit tief verinnerlicht. Der Polizeiapparat wurde mehr und
mehr aufgerüstet.
Und 2005?
Abgesehen von der zunehmenden täglichen Polizeigewalt und
-schikane gibt es
eine Menge weiterer Gründe für die Aufstände: total
heruntergekommene, isolierte Vorstädte
aus den 60ern und 70ern, mehr als 25 Jahre soziale
Misere, bis zu 50 % Arbeitslosigkeit, zu enge Wohnungen,
Viertel ohne nennenswerte öffentliche
Einrichtungen, schlechte öffentliche
Verkehrsanbindungen, miserable Gesundheitsversorgung,
katastrophale Verhältnisse insbesondere
für Frauen, alleinerziehende Mütter und, und,
und...
Die aktuelle Feuersbrunst
entstand weitgehend spontan. Die Jugendlichen sind
diejenigen, die am wenigsten von all den sozialen
Schichten des Landes organisiert sind:
nicht von anarchistischen Gruppen, nicht vom schwarzen
Block, schon gar nicht von der kommunistischen Linken -
und auch nicht von islamistischen
Gruppen, wie es die Presse in Frankreich und im europäischen
Ausland, sogenannte Migrationsforscher und andere
Märchenerzähler jetzt gerne
herbeiphantasieren. Im Gegenteil - der moslemische Klerus spielt
die Rolle des verantwortungsvollen, das
Gesetz respektierenden Vermittlers und
macht der Regierung Versprechungen, den Frieden in den Vierteln
wieder herzustellen. Sarkozy hat sogar
vorgeschlagen, die Trennung von Kirche
(Religion) und Staat wieder aufzuheben und öffentliche
Finanzierung von Religionsgemeinschaften
zu erlauben - mit dem strategischen Ziel, eine
gemeinschaftliche Kontrolle der Bevölkerung durch Staat
und Klerus voranzutreiben. Auch die
Behauptung, kriminelle Banden hätten den Aufstand
organisiert, ist absurd. Gerade in Vierteln, die
tatsächlich unter mafiösen Strukturen zu
leiden haben, gab es keine nennenswerte Randale. ... Auch die
Mafia zieht es vor, ihren Machenschaften in Ruhe
nachgehen zu können und desperate
Jugendliche für ihre Geschäfte einzuspannen.
Die protestierenden, wenig
politisierten Jugendlichen sind nicht mit der
Jugend der 80er-Jahre zu vergleichen, die teils radikale
Ideen vertrat, teils Illusionen in die
Reformen hatte. Sie haben wenig zu verlieren und
noch weniger Zukunftsperspektiven, sind mit den
Repressionen des Staates aufgewachsen -
und viele sind jünger als 16! In ihrem Aufbegehren gegen den
Staat sind sie politisch weitgehend isoliert.
Die Linke tut wenig, um dies zu
ändern. So lässt die trotzkistische
Organisation Lutte Ouvriere zwar ein wenig Verständnis für die
Jugendlichen zu, ruft aber gleichzeitig
nach einer starken lokalen Polizei, so als gäbe
es im Kapitalismus eine Reformierbarkeit der Polizei, die
immer und überall dieselbe Rolle
innehatte, nämlich Tumulte niederzuschlagen und im Sinne der
Herrschenden für Recht und Ordnung zu sorgen! Einzige
Ausnahme: Die Tage der
Pariser Kommune, als die Polizei kurzfristig von der Bildfläche
verschwunden war. Eine ernsthafte
Intervention verschiebt LO - wie immer - auf "später".
Die Ligue Communiste Révolutionnaire (LCR) und andere
trotzkistische Gruppen propagieren den
Rücktritt Sarkozys oder der gesamten Regierung und schüren
Illusionen in einen Regierungswechsel. Für die nächsten
Präsidentschaftswahlen plant die LCR sich in einem
breiten Wahlbündnis in
Szene zu setzen und favorisiert die Wahl des linksbürgerlichen
Politikers Fabius im 2. Wahlgang. Die von
diesen Gruppierungen erhobene Forderung nach
einer gewerkschaftlichen Organisierung der Jugendlichen
ist somit nur die ideologische
Begleitmusik für ihre parlamentsfixierten Winkelzüge. Die
Politik dieser Gruppen zielt nicht auf Ausweitung und
Verallgemeinerung der Proteste, sondern
auf staatliche Eingemeindung. Die Aufstände in den
Banlieues sind das Produkt des Rassismus und der sozialen
Misere. Sie spiegeln gleichermaßen die
zunehmende Brutalisierung und Barbarisierung der
kapitalistischen Verhältnisse wieder.
Es macht für MarxistInnen wenig
Sinn die Riots in analytischen
Schnellschüssen entweder als "unpolitische Gewalt"
abqualifizieren oder ihnen eine immanent kommunistische
Tendenz andichten zu wollen. Auf der
Ebene unorganisierter und sporadischer Scharmützel mit den
Bullen sind den Revolten in den Banlieues enge Grenzen gesetzt.
Gleichzeitig besteht jedoch die Chance,
dass aus dem Unmut über die soziale Misere und
die Repressionsmaßnahmen des Staates eine neue
außerparlamentarische Bewegung erwächst,
die in der Lage ist Spaltungslinien zu überwinden und die
Angriffe des Staates mit einer Klassenoffensive zu
beantworten.
Für die staaten- und klassenlose
Gesellschaft
Gruppe Internationaler SozialistInnen (im November 2005)
Editorische Anmerkungen
Die Gruppe
übersandte uns ihren Artikel in der beiliegenden Fassung am
15.11.05.
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