Einwanderungs-Abwehrpolitik:
Die EU erhöht den Druck auf Algerien und Marokko, sich in die europäische Grenzsicherung zu integrieren


von
Bernhard Schmid
11/05

trend onlinezeitung

Große Mauern gab und gibt es einige in der Menschheitsgeschichte. In der Regeln dienten sie dazu, die Wohlhabenden vom Elend der „Ausgesperrten“ abzuschirmen, so jedenfalls die Sichtweise derer auf der „falschen“ Seite der Mauer – oder die Zivilisierten vom Ansturm der Barbaren zu verschonen, so die Botschaft auf der anderen Seite der Trennlinie.

 Eine Ausnahme bildete die befestigte DDR-Grenze, die nicht durch die reicheren Länder errichtet wurde, um die Bürger der Nachbarstaaten vom Grenzübertritt abzuhalten, sondern die im Gegenteil eine eher ein- denn ausschließende Wirkung entfalten sollte. Wohl deswegen war in der Vergangenheit in allen westlichen Industrieländern die ebenso billige wie folgenlose Anklage, es handele sich um eine „Mauer der Schande“, so verbreitet. Dabei war die Ummauerung der DDR - die prinzipiell kritikwürdig bleibt - insofern eindeutig weniger schlimm als die aktuelle faktische Ummauerung rund um Europa, als der DDR-Staat (mangelnde Demokratie hin oder her) zumindest die Versorgung für die Versorgung der Menschen übernahm und dafür, dass niemand im Elend umkommen musste. Aber hier handelte es sich eher um einen Ausnahmefall der Geschichte, reden wir also lieber von der Regel.

Eine solche Mauer, die ein dramatisches Wohlfahrtsgefälle absichern soll, bildet die Südgrenze Europas, die den „alten Kontinent“ vom postkolonialen Afrika und Asien trennt. Ein „Glücksfall“ der Geographie, vom Standpunkt der Befürworter einer Abschottung, dass die Wassermassen des Mittelmeers die Errichtung von Sperranlagen erübrigen. Rund um die spanischen Enklaven Ceuta und Melilla dereinst Vorposten der katholischen“ Reconquista“ im Feindesland -, die zwölf bzw. acht Kilometer Grenzlinie vom umgebenden Marokko trennen, dagegen nimmt das Grenzregime manifeste Formen an. Die stacheldrahtbewehrten Absperrungen, an denen seit Ende August bereits offiziell – 14 Personen den Tod fanden, mehrheitlich durch Schüsse aus den Waffen spanischer Grenzwächter, sollen nunmehr von drei auf sechs Meter Höhe aufgestockt werden. Die Überlebeden wurden per Charterflug ausgeflogen, sofern sie aus dem Senegal oder Mali kamen – diese Länder haben Rücknahmeabkommen mit Marokko abgeschlossen -, ansonsten durch die marokkanischen Behörden in die Wüste im Süden des Landes gekarrt und dort ohne Wasser und Nahrung ausgesetzt. 1.000 der fast 3.000 Ausgesetzten, die man später wiedergefunden hat, wurden inzwischen in Sammellager auf Militärbasen aufgenommen.

Doch in der Gegend gibt es noch eine zweite „Mauer der Schande“, wie sie jedenfalls durch die algerischen Nachbarn bezeichnet wird; Sie umgibt die Kernzonen der von Marokko beanspruchten und seit 1975 annektierten Westsahara, auf die auch die von Algerien unterstützte „saharaouische Befreiungsbewegung“ Polisario Anspruch erhebt. Es hängt wohl auch mit der Existenz dieser anderen Mauer zusammen, wenn das größere Algerien bisher die durchreisenden Migranten aus dem Rest des afrikanischen Kontinents, die nach Marokko und von dort aus weiter auf spanisches Territorium streben, relativ reibungslos passieren ließ. Denn durch ihre Präsenz auf marokkanischem Boden wuchs wiederum der Druck der Europäischen Union auf Rabat, doch bitte die Schmutzarbeit zu übernehmen und diese Leute von der Wohlstandsfestung fern zu halten. Einen gezielten „Versuch der Destabilisierung“ seines Landes durch den Nachbarn prangerte vorige Woche der marokkanische Premierminister Driss Jettou an. Die algerische Presse giftete zurück, die Tageszeitung El Watan sprach von einem „Delirium der marokkanischen Behörden“. Die französischsprachige Liberté publizierte empörende Erlebnisberichte afrikanischer Migranten, die – wie viele andere – durch die marokkanische Polizei misshandelt und danach in der Wüste ausgesetzt worden waren. Dabei suchte sich die Zeitung solche Migranten heraus, die nach ihrer Deportation in die südmarokkanische Wüste durch die auf algerischem Staatsgebiet angesiedelte Polisario aufgenommen worden waren, und verortete ihren Aufenthaltsort in der Nähe „der Mauer der Schande“. Die Instrumentalisierung der Empörung, die über die marokkanischen Praktiken erweckt wurde, für „nationale Anliegen“ war überdeutlich.

Die EU möchte ihr Anliegen, die überwiegend immaterielle „große Mauer“ besser bewacht zu sehen, nicht durch die Rivalität zwischen den beiden nordafrikanischen Regionalmächten gefährdet sehen. Deshalb plant sie, bis zum Ende des laufenden Jahres einen gemeinsamen Gipfel der Union mit Marokko und Algerien über die „Kontrolle der Migrationsströme“ abzuhalten. Dessen Beschlüsse sollen einen repressiven Aspekt – eine verstärkte Absicherung der eigenen Grenzen durch die nordafrikanischen Staaten – und einen „Marshallplan für Afrika“ miteinander verbinden. Denn offiziell hat man auch bei der EU erkannt, dass die Elenden eines Kontinents auf Dauer nicht allein durch Mauern, und auch nicht durch Schüsse, von der Suche nach einem besseren Leben abzuhalten sein werden – dort, wo der Mehrwert angehäuft wird, der auf den Reichtümern ihrer Länder basiert. Konkret ist aber bisher allein die Rede von einer Verdoppelung des Entwicklungshilfebudgets. Almosen statt der erforderlichen radikalen Änderung der „internationalen Arbeitsteilung“: Auch dies wird allenfalls für kosmetische Abhilfe sorgen, aber keines der drängenden Probleme lösen, aufgrund derer Millionen das Elend ihrer Herkunftsländer verlassen möchten.

Die deutsche Politik hat es im schlechtesten Sinne vorgemacht, wie eine repressive „Lösung“ geht: Als die Bundesrepublik im Mai 1993 das Asylrecht im Grundgesetz weitgehend demontierte, schloss sie mit sämtlichen Nachbarländern in ihrem Osten „Rücknahmeabkommen“ für unerwünschte Einwanderer und Flüchtlinge. Polen, Tschechien und Ungarn wiederum taten desgleichen mit Rumänien und der Ukraine, wo sich daraufhin faktische Auffangbecken bildeten, in denen Hunderttausende Flüchtlinge festsaßen. Ähnliches plant die EU jetzt an ihrer Südflanke. „Wir wollen nicht der Mülleimer Europas werden“: Diese Erklärung der Präfektur im ostmarokkanischen Oujda zur Rechtfertigung der Deportation afrikanischer Flüchtlinge in die Wüste, die durch die französische Libération aufgeschnappt wurde, drückt die Gesamtphilosophie dieses Projekts ebenso rücksichtslos wie treffend aus - die Verdammten dieser Erde sind Abfall, den man loswerden will.
 

Editorische Anmerkungen

Der Autor übergab uns seinen Artikel am 2.11.2005 zur Veröffentlichung.