Ökonomenlexikon
Hilferding, Rudolf


von Werner Kraus
11/05

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10.8. 1877 Wien -11.2. 1941 Paris; Theoretiker, Politiker und Publizist der österreichischen und der deutschen Sozialdemokratie (USPD und SPD) und der II. Internationale; Begründer des Austromarxismus und in seiner ersten Schaffensperiode Schöpfer wichtiger politökonomischer Schriften marxistischen Inhalts.

H. besuchte als Sohn eines Kaufmanns das Gymnasium, studierte an der Wiener Univ. Medizin und beschäftigte sich außerdem mit Nationalökonomie und Einanzwirtschaft. Er promovierte 1901 zum Dr. med. und praktizierte von 1901 bis 1906 und von 1915 bis 1919 als Kinderarzt. In Berlin gehörte er zu den Autoren der »Neuen Zeit«, des theoretischen Organs der deutschen Sozialdemokratie. Von 1907 bis 1915 war er Redakteur des »Vorwärts«. Anfangs auf dem Boden des Marxismus stehend, nahm H. im ersten Weltkrieg eine zentristische und pazifistische Position ein. Er schloß sich 1917 der USPD an und gehörte während der Novemberrevolution zu den führenden Vertretern ihres rechten Flügels. Von 1918 bis 1923 war er als Chefredakteur des Zentralorgans der USPD, der »Freiheit«, tätig. Er erwies sich nach dem Krieg als offener Revisionist und Theoretiker der unwissenschaftlichen Doktrin vom »organisierten Kapitalismus«. Er nahm an den Kongressen der II. Internationale teil und bekannte sich 1922 auf dem Parteitag der USPD offen zur Koalitionspolitik und zur Verschmelzung mit der SPD. Als führender Vertreter der Theorien vom »organisierten Kapitalismus« und als Propagandist der »Wirtschaftsdemokratie« hatte er entscheidenden Einfluß auf die opportunistische Politik der rechten SPD-Führer. Er war der Auffassung, daß es durch Koalitionspolitik mit der Bourgeoisie möglich sei, die Monopole den Interessen der Gesellschaft unterzuordnen.

H. war von 1924 bis 1933 Mitglied des Deutschen Reichstages, 1923 und vom Juni 1928 bis zum Dezember 1929 Reichsfinanzminister. Er emigrierte 1933 zunächst in die Schweiz (Zürich) und dann nach Paris, wo er im Exilvorstand der SPD arbeitete. Maßgeblichen Anteil hatte er an der Ausarbeitung. des Manifests des Exilvorstands vom 28. 1. 1934, »Kampf und Ziel des revolutionären Sozialismus« lehnte aber den gemeinsamen antifaschistischen Widerstandskampf mit der KPD ab. Er wurde 1941 von der französischen Polizei verhaftet und an die Gestapo ausgeliefert, wo er den Mißhandlungen erlag.

H. hat sich in seiner ersten Schaffensperiode wiederholt mit Problemen der marxistischen politischen Ökonomie beschäftigt. Sein Hauptwerk, »Das Finanzkapital. Eine Studie über die jüngste Entwicklung des Kapitalismus«, war 1910 erschienen und gehörte seinerzeit in.,' der internationalen Arbeiterbewe-, gung zu den hervorragendsten marxistischen Analysen des Imperialismus. H. stellte sich die Aufgabe, die eigentümliche Bewegung des Finanzkapitals zu untersuchen, um die Zusammenhänge deutlich zu machen, die zwischen dem Finanzkapital und anderen Kapitalformen bestehen. Er untersuchte die Rolle und das Wesen des Kredits, abgeleitet von der Rolle des Geldes, und entwickelte eine Theorie der Aktiengesellschaft, analysierte die . Stellung, die das Bankkapital gegenüber dem industriellen Kapital einnimmt. Dabei kommt er zu wertvollen Aussagen über die Effekten- und Warenbörse. H. untersuchte die Konzentrationserscheinungen des Kapitals im Zusammenhang mit einer Analyse der ökonomischen Krisen und zog daraus Schlußfolgerungen über die weitere Entwicklung der bürgerlichen Klassengesellschaft.

Hervorzuheben ist auch H.s Leistung zur Weiterentwicklung der marxistischen Kredittheorie. Er machte den Unterschied zwischen Zirkulationskredit und Kapitalkredit deutlich und beschäftigte sich mit der Freisetzung und Mobilisierung von Kapital. Hoch einzuschätzen ist H.s Analyse des fiktiven Kapitals, besonders der Aktiengesellschaften, und die Entdeckung des Gründergewinns, der Differenz zwischen dem Preis der Aktien, die bei Gründung einer Aktiengesellschaft ausgegeben werden, und dem Kapital, das wirklich angelegt wird. Die Begründung der ökonomischen Kategorie »Gründergewinn« durch H. war eine echte Bereicherung der marxistischen politischen Ökonomie.

Sein Buch war nicht frei von theoretischen Schwächen, doch ist die insgesamt positive Leistung seines Autors hervorzuheben, wie das auch —» Kautsky, —» Lenin u. a. taten. So hob z. B. Oelßner, der 1947 in Berlin eine Neuauflage des Werkes herausgab, hervor, daß H. die marxistische Krisentheorie um neue wesentliche Gesichtspunkte bereichert habe, so bei der Entwicklung des Zusammenhangs zwischen dem Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate und der Krise, bei der Darstellung der Rolle des fixen Kapitals und der Kreditverhältnisse sowie der Börsen- und der Geldkrise im Zusammenhang mit der industriellen Krise.

H., der sich zur Zeit der Erarbeitung des »Finanzkapitals« noch als echter marxistischer Theoretiker erwies, ging aber später völlig auf die Position eines Revisionisten über. Am deutlichsten wird dies in seiner "Theorie vom organisierten Kapitalismus". Auf dem Parteitag der SPD 1927 in Kiel sprach H. davon, daß im »Spätkapitalismus« an die Stelle der freien Konkurrenz eine organisierte Wirtschaft getreten sei und daß sich eine Partnerschaft zwischen Unternehmern und Lohnarbeitern herausbilde, die sich als »Wirtschaftsdemokratie« manifestiere. Die rechtssozialistischen Propagandisten der »Wirtschaftsdemokratie« wollten mit ihrer antimarxistischen Partnerschaftsideologie den Eindruck vermitteln, daß die Verhältnisse in der Weimarer Republik es gestatteten, mit reformistischen Mitteln und auf evolutionärem Wege eine sozialistische Gesellschaft zu errichten. Zu dieser groben Verfälschung des Klassencharakters des bürgerlichen Staates und der bürgerlichen Demokratie lieferte H. neben Kautsky - als seinerzeit namhafteste Theoretiker der deutschen Sozialdemokratie - die theoretische Argumentation. H.s These, daß der moderne Kapitalismus ein »organisierter Kapitalismus« sei, der kraft neuer Erscheinungen wie Planmäßigkeit und Abwendung von der freien Konkurrenz sowie mit Hilfe eines angeblichen Demokratisierungsprozesses zur Partnerschaft zwischen Kapitalisten und Lohnarbeitern führe, erwies sich bei Ausbruch der großen Weltwirtschaftskrise Ende der 20er Jahre als ein großer Betrug an den Volksmassen und zerstörte alle Illusionen über die H.sche Konzeption.

Publikationen: Böhm-Bawerks Marx-Kritik. In: Marx-Studien, Bd. l, Wien 1904; Das Finanzkapital, Wien 1910; Revolutionäre Politik oder Machtillusionen?, Berlin 1920; Die Sozialisierung und die Machtverhältnisse der Klassen, Berlin 1920; Für die soziale Republik, Berlin 1924; Die Schicksalsstunde 'der deutschen Wirtschaftspolitik, Berlin 1925; Die Eigengesetzlichkeit der kapitalistischen Entwicklung. In: Kapital und Kapitalismus, Berlin 1931; Gesellschaftsmacht oder Privatmacht über die Wirtschaft, Berlin 1931; Nationalsozialismus und Marxismus, Berlin 1932.

Literatur: F. Oelßner: Vorwort zu R. Hilferding: Das Finanzkapital, Berlin 1947; R. Sieber: Wirtschaftstheorien, die die Rechtssozialisten verteidigen, Berlin 1962; W. Gottschalch: Strukturveränderungen der Gesellschaft und politisches Handeln in der Lehre von Rudolf Hilferding, Berlin (West) 1962.

Editorische Anmerkungen

Der Text stammt aus: Krause, Werner; Graupner, Karl-Heinz & Sieber, Rolf (1989). Ökonomenlexikon. Berlin: Dietz. S. 213ff

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