Deutschland, Frankreich und der EU-Beitritt der Türkei:
Die Quadratur des Kreises zwischen Ressentiment und Geostrategie


von
Bernhard Schmid
11/04

 
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Einen Gast, der 2,8 Milliarden Dollar mitbringt ­ in diesem Fall als Kaufpreis für 36 Airbus-Flugzeuge ­ wird man in der Regel nicht allzu unhöflich hinauskomplimentieren. Und so endete das Berliner Gipfeltreffen des französischen Präsidenten Jacques Chirac und des deutschen Bundeskanzlers Gerhard Schröder, denen sich der türkische Premierminister Recep Tayyip Erdogan fürs Gruppenfoto hinzugesellte, am Dienstag dieser Woche in mit einer freundlichen Note: Beide großen EU-Länder befürworten offiziell den Beitritt der Türkischen Republik zur Union. Chirac dämpfte freilich voreilige Erwartungen mit seinen zusätzlichen Bemerkungen. Der Verhandlungsprozess bis zu einer möglichen Aufnahme der Türkei in die EU werde bestimmt "zehn oder fünfzehn Jahre" dauern, und an deren Ende würde erst einmal das französische Wahlvolk per Referendum konsultiert. Das hieße wohl nach derzeitigem Stand, dass, nachdem der Verhandlungsmarathon einmal beendet wäre, die Volksabstimmung in Frankreich das ganze Beitrittsprozedere doch noch zum Scheitern bringen dürfte. Doch, so tröstete Chirac, in anderthalb Jahrzehnten "wird das Problem mit weniger Leidenschaft gestellt werden".  

Auf ihrem nächsten Gipfel am 16. und 17. Dezember dieses Jahres werden die Staats- und Regierungschef der Europäischen Union vermutlich beschließen, im kommenden Jahr oder spätestens Anfang 2006 Beitrittsverhandlungen mit Ankara zu eröffnen. Wenn sich nicht doch noch einer aus der Runde quer legt, zu denken wäre an den österreichischen Bundeskanzler Wolfgang Schüssel. Dem macht zu Hause die mit regierende, aber seit den Europaparlaments- und Landtagswahlen dieses Jahres spürbar geschwächte, "Freiheitliche Partei" FPÖ zu Hause Dampf: Wenn die EU ohne österreichisches Veto die Aufnahme des Verhandlungsprozesses mit der Türkei akzeptiere, dann wollen die Rechtspopulisten in Wien für Ärger sorgen oder gar die Koalition platzen lassen. Dennoch ist unwahrscheinlich, dass das kleine Österreich es sich erlauben könnte, die gesamte übrige Union an seinem Veto auflaufen zu lassen - auch wenn laut Umfragen 76 Prozent der dortigen Bevölkerung gegen eine Aufnahme der Türkei sein sollen, mehr als in jedem anderen EU-Mitgliedsstaat. Im Übrigen ist die FPÖ derzeit kaum noch in der Lage, ernsthaft die Machtfrage zu stellen, nachdem die diesjährigen Europaparlamentswahlen ihr nur noch 6,6 Prozent der Stimmen übrig ließen (gegenüber 27 Prozent bei den österreichischen Parlamentswahlen im Oktober 1999).  

Dennoch sind es nicht nur die österreichischen Rechtspopulisten, die sich jedem Gedanken an eine Aufnahme der Türkei ­ in ihren Augen in erster Linie ein moslemisches Land und damit ein "kultureller Fremdkörper" in Europa ­ versperren. In mehreren führenden EU-Staaten ist die Opposition vehement gegen die Eröffnung ernsthafter Beitrittsverhandlungen, so etwa die deutsche Rechtsopposition der CDU/CSU. Diese musste freilich jüngst ihre geplante Unterschriftensammlung unter eine Petition gegen die Aufnahme der Türkei abblasen, weil sie dabei unerwünschte und anrüchige Unterstützer anzog: Die rechtsextreme NPD erklärte lautstark, dass sie ebenfalls für die Petition mobilisieren werde. Und selbst in Frankreich ist zwar der amtierende Staatspräsident Chirac seit längerem für die historische Perspektive eines EU-Beitritts der Türkei, aber seine eigene politische Formation ­ die zu seiner Unterstützung im Jahr 2002 als bürgerliche Einheitspartei gegründete UMP ­ ist mehrheitlich deutlich dagegen. Beim Wahlkampf für die Europaparlamentswahl im zurückliegenden Frühjahr machte die gesamte politische Rechte mit einem einzigen zentralen Thema mobil, nämlich dem Schüren von Ressentiments gegen "die Türken in der EU". Das gilt für die oppositionellen Neofaschisten (um Jean-Marie Le Pen) und die halb oppositionellen und halb zum Regierungslager zählenden Nationalkonservativen (um Graf Philippe de Villiers). Aber auch für die UMP, die kurz vor dem Beginn des Wahlkampfs die Idee aus dem Hut zauberte, doch eine Volksabstimmung in Frankreich darüber abzuhalten, wenn die Ergebnisse der Beitrittsverhandlungen der EU mit der Türkei vorlägen.  

Die Quadratur des Kreises  

Das ist blanke Demagogie, denn es ist eher schlecht vorstellbar, dass das Votum eines einzelnen Mitgliedslands nach 15 Jahren Verhandlungen noch eine diplomatische Entscheidung der EU-Maschinerie zu Fall bringen könnte; an so viel Rücksicht auf den Wählerwillen in Einzelstaaten ist die Europäische Union nicht gewohnt. Aber es ist nur eine von mehreren Variante, mit denen europäische Regierungsparteien derzeit die Quadratur des Kreises versuchen ­ denn in der Türkeifrage geraten ein außen- und ein innenpolitischer Imperativ in Widerspruch zueinander. Außenpolitisch geht es darum, den Einfluss des sich formierenden europäischen Machtblocks auf die Türkei nicht zu verlieren. Denn wirtschaftlich sind dort nach wie vor US-amerikanische Kapitalfraktionen dominierend. Und als Alternative zu dem derzeit durch die gesamte politische Klasse in Ankara angestrebten EU-Beitritt stünde dem Land immer noch eine verstärkte Hinwendung zu seinen regionalen Nachbarn oder, im Extremfall, eine "islamische Blockbildung" zur Verfügung. Deswegen sprechen geostrategische Gründe aus Sicht der EU dagegen, die Türkei "fallen zu lassen". Selbst ein Jörg Haider ist ja derzeit, ganz im Gegensatz zum großen Rest seiner Partei freilich, für eine Aufnahme des Landes in die Union.  

Gleichzeitig aber bilden die Ressentiments gegen Moslems allgemein und gegen "allesamt auf die Einwanderung nach Westeuropa wartende" Türken speziell einen wichtigen innenpolitischen Resonanzboden, und zwar für rechtsradikale Oppositionsparteien wie für bestimmte konservative Kräfte gleichermaßen.  

Ein in fernerer Zukunft abzuhaltendes Referendum in Aussicht zu stellen, wie Chirac es ­ nach einem Kompromiss mit seiner UMP ­ es tut, ist nur eine Methode, um mit der heißen Kartoffel umzugehen. Eine andere besteht darin, statt eines EU-Beitritts der Türkei eine so genannte "privilegierte Partnerschaft" zu favorisieren, die im Wesentlichen darauf hinausläuft, dass das Land am Bosporus den Soldaten und Wachmann am Südostrand Europas spielen soll. Diese Idee wird insbesondere durch die deutsche CDU unter Angela Merkel, und seit kurzem auch durch den französischen Christdemokraten François Bayrou favorisiert. Doch Erdogan erklärte am Dienstag deutlich, davon nichts wissen zu wollen. Eine dritte Option, die von europäischen Sozialdemokraten favorisiert wird, läuft auf einen Beitritt der Türkei mit ­ zeitweisem ­ Verzicht auf die Freizügigkeit türkischer Arbeiter in der EU hinaus, ähnlich dem zu Anfang des Jahrzehnts mit Polen vereinbarten Modell. Und EU-Kommissar Günter Verheugen macht dem Publikum dadurch Hoffnung, dass er öffentlich darauf hinweist, durch einen zukünftigen Unions-Beitritt der Türkei werde sich die dortige Wirtschaftslage bessern ­ und deswegen würden auch bereits jetzt in den EU-Ländern lebende und arbeitende Türken dorthin zurückkehren. Das ist zwar vermutlich völlig illusorisch, das Argument soll aber innenpolitische Wirkung entfalten.  

Eine vierte Möglichkeit besteht nunmehr darin, in Brüssel die Entscheidung nochmals zu vertagen, in dem Sinne, dass man beschließt, erst einmal 12 Monate lang die Details Revue passieren zu lassen, bevor man 2006 an "richtige" Verhandlungen geht. Diese Idee gilt derzeit der französischen Presse als aussichtsreich. Eine solche Verzögerungstaktik würde den Regierenden in Paris erlauben, erst die im zweiten Halbjahr 2005 anstehende französische Volksabstimmung über den EU-Verfassungsentwurf erfolgreich über die Bühne zu bringen. Auf der Linken besteht eine starke Opposition gegen die wirtschaftsliberalen und rüstungspolitischen Imperative, die in der Verfassung festgeschrieben werden sollen; ferner ist die Haltung zur Verfassung in den letzten zwei Monaten zum Spielmaterial im innerparteilichen Machtkampf unter den französischen Sozialdemokraten geworden. Rechtsaußen wiederum würde man nicht zögern, das zum Schüren von Ressentiments geeignete Türkeithema in den Abstimmungskampf einzubringen. Deswegen soll ein geschicktes Taktieren der Staatsspitze es nun erlauben, diese Thematik auf dem kommenden Referendum herauszuhalten und so den größten Teil des rechten Spektrums mobilisieren zu können - um die neoliberale und militaristische Verfassung doch noch in trockene Tücher zu bringen.

Editorische Anmerkungen

Diesen Artikel schickte uns der Autor am 27.10.2004 in der vorliegenden Fassung zur Veröffentlichung. Eine Kurzfassung erschien in der Züricher "Wochenzeitung" (Die WoZ) vom 28.10.2004.