Konjunktur(en) des Antisemitismus 

von Gerhard Hanloser

11/03    trend onlinezeitung

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Der Antisemitismus existiert zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht nur weiter, in den Krisengebieten in Osteuropa wie im Nahen Osten ist er eine verbreitete Ideologie, selbst in Malaysia werden "die Juden" für die ökonomische Misere verantwortlich gemacht.  Im vorletzten Jahrhundert haben dies die diversen fortschrittsgläubigen Theorien nicht absehen können. Sowohl die liberale Haltung zum Antisemitismus wie die marxistische Theorie transportierten im 19.Jahrhundert den Glauben, dass Antisemitismus als letztlich vormodernes Phänomen mit der Durchsetzung des Marktes und des ihn begleitenden "Überbaus" verschwinden würde. Die liberale Vorstellung "enthält das Bild einer Gesellschaft, in der nicht länger Wut sich reproduziert und nach Eigenschaften sucht" (Adorno/Horkheimer). Freiheit und Gleichheit, die Werte der Aufklärung, entziehen demnach dem Antisemitismus den Boden. 

Der Marxismus des 19.Jahrhunderts und die Sozialdemokratie zeigte sich als eine Sonderform der liberalen Geschichtsphilosophie und verkündete ebenso optimistisch, dass die mit der bürgerlichen Gesellschaft verbundene Proletarisierung den Antisemiten das "rückständige" Verhalten austreiben würde. Nur noch zwei Klassen - Proletarier und Kapitalisten - werden sich in Zukunft gegenüberstehen. Laut Friedrich Engels waren die Antisemiten seiner Zeit "mittelalterliche Schichten", die zum Untergang verdammt waren. 

Als sich trotz Assimilation und Kapitalisierung der letzten Winkel der Welt der spezifische Antisemitismus in Deutschland bis zur geplanten Vernichtung der europäischen Juden im 20.Jahrhundert steigerte, zeigte sich die enorme Modernisierungsfähigkeit des Antisemitismus.

Die Geburtsstunde des modernen Antisemitismus liegt im 19.Jahrhundert in Europa. Die Juden waren bis zur Zeit der Aufklärung eine klar erkennbare ethnisch-religiöse Minderheit, die aufgrund ihrer von Kirche und Fürsten aufoktroyierten ökonomischen Stellung das Stigma des Wuchers und des Geldgeschäfts trugen. Aufgrund der Assimilation in den westlichen europäischen Staaten, verloren sie ihre Sonderstellung. Dieser Prozess marginalisierte die Juden, im falschen Bewußtsein rückten sie aber ins Zentrum. Die bisherige Personalisierung des Wuchers in "dem Juden", wurde dahingehend ausgeweitet, dass Juden für sämtliche als negativ empfundene Formen der Moderne herhalten mussten. Besonders die neue abstrakte Herrschaft des Geldverhältnisses wurde von den unteren Schichten im Juden personalisiert. Der Antisemitismus schaffte so das, wozu die Ökonomie nicht im Stande war: Gemeinschaft. Die Juden schienen von der Durchsetzung des Marktes und der Aufklärung zu profitieren, traditionelle Schichten verloren jedoch angesichts der Übermacht der ökonomischen Gesetze den alten Schutz. An der Schnittstelle von vormodernem zu modernem Antisemitismus tauchte Antisemitismus in Frankreich, Russland aber auch minoritär in Deutschland bei bäuerlichen Bewegungen und Denkern des Anarchismus auf. Ob bei den Anarchisten Bakunin oder bei Proudhon: Antisemitismus war ihrer personalisierenden und dem Geldfetisch verhafteten Kapitalismuskritik geschuldet, die einen stark rückwärtsgewandten Charakter hatte. Dagegen war der Marxismus und die europäische Arbeiterbewegung des 19.Jahrhunderts aufgrund ihrer Fortschrittsgläubigkeit und dem Versuch, Kapitalismus als soziales Verhältnis zu begreifen, relativ immun gegenüber dem Antisemitismus. Im 20.Jahrhundert war die Frontstellung von Arbeiter- und Antisemitenbewegung jedoch Makulatur. In der Sowjetunion steigerte sich der Antisemitismus in dem Maße, wie der revolutionäre Impetus der Bolschewiki zurückging und mit Stalin ein Gegen-Revolutionär das Ruder in Rußland an sich riss, der politisch konservativ und nationalistisch war. Beide Formen der reaktionären Modernisierung - sowohl der Nationalsozialismus in Deutschland wie der Stalinismus in der Sowjetunion - brachten Antisemitismus hervor, wenn auch in unterschiedlicher Form und Intensität. In der Ideologie der Nazis war "der Jude" Kapitalist und Kommunist zu gleich, im Stalinismus steht "der Jude" für das Anationale.  Der rassistische, auf Vernichtung drängende Antisemitismus des Nationalsozialismus kulminierte in Auschwitz. "Wie die Tötungsmaschinerie zustande gekommen ist", lässt sich allerding "nicht aus der Geschichte des Antisemitismus, sondern nur aus der Geschichte der Gewalt nach der Novemberrevolution erklären, die über Freikorps, SA und SS zum terroristischen Konzentrationslager führt, das noch den klaren Zweck der Einschüchterung des innergesellschaftlichen Feindes besitzt." (Detlev Claussen) Doch die Vernichtung der europäischen Juden sprengte schließlich jede Zweck-Mittel-Relation. Der deutsche Antisemitismus hat sich in der Weltgeschichte so als einmaliges Mordprogramm verewigt. Die heutzutage vorgenommenen Versuche der Auschwitzleugnung und des Negationismus sollen den Antisemitismus von diesem Stigma wieder befreien und rehabilitieren. 

Offener und auf Mord drängender Antisemitismus findet sich heutzutage am ehesten im arabischen Raum. Der 11.September hat auch in den Metropolen auf dieses Phänomen aufmerksam gemacht: Al Quaida hetzt gegen "Juden und Kreuzfahrer" und will den "dekadenten" westlichen Kapitalismus treffen. Weil der Anschlag aufs World Trade Centre den USA in vielerlei Hinsicht gelegen kam, entstanden verschiedene Verschwörungstheorien rund um den 11.September. Einige mit klar antisemitischem Inhalt. Die perfideste Behauptung, die von Muslim-Demonstrationen in Indonesien bis zum internet-Anbieter freenet reicht, ist diejenige, wonach jüdische Angestellten im WTC im Vorfeld des Anschlags gewarnt worden seien. Die Täter des 11.September beziehen sich auf den unlösbar erscheinende Israel-Palästina-Konflikt. Doch ihr spezifische Antisemitismus hat Gründe und Wurzeln, die jenseits von Zion liegen. Die Politisierung des Islam und die weitere Auflösung traditionell geprägter Gesellschaften, macht den Antisemitismus zu einem passenden Bestandteil einer anti-westlichen Spielart der autoritären Modernisierung. 

Ursprünglich gibt es im Islam keine spezifische Doktrin gibt, welche den Juden zum Gegner des Islam erhebt. Der Import des Antisemitismus in Weltgegenden, die bislang Antisemitismus nicht kannten und in denen Judenhass bislang marginal geblieben war, liegt historisch vor der Vernichtung der europäischen Juden in Europa und ist mit dem europäisch-christlichen Kolonialismus verbunden. Mitte des 19.Jahrhunderts, mit dem Einzug der Kolonialmächte trat der Antisemitismus mit sehr europäischen Wurzeln in den islamischen Gesellschaften auf. So führte eine christlich motivierte Ritualmordbeschuldigung 1840 zur sogenannten Damaskus-Affäire. Die christlichen Anschuldigungen wurde von in Damaskus lebenden Kapuzinermönchen mit tatkräftiger Unterstützung des französischen Botschafters lanciert und waren insbesondere gegen die Juden in Damaskus gerichtet.

Die Rolle, die der europäische Antisemitismus spielte, lässt sich auch an einem Dokument ablesen, das als folgenreichster Exportartikel weltweit den Antisemitismus beflügelt und unterfüttert hat: "Die Protokolle der Weisen von Zion". In ihnen wird die Vorstellung einer jüdischen Weltverschwörung dokumentiert, die alles Bestehende niederreissen und unterlaufen will. Das erstmalig 1905 in Russland zur Abwendung von Liberalismus wie Revolution gleichermaßen veröffentlichte Buch wurde nach dem II.Weltkrieg zur Grundlage der antisemitischen Propaganda des arabischen Nationalismus, um Israel als ein Produkt der "jüdischen Weltverschwörtung" darzustellen.

Bereits mit der Einwanderung von Juden nach Palästina beginnt eine Geschichte von Migration, Kampf um Land, zionistische Besiedlung und antisemitischer Feindschaft, die sich nur noch schwer auseinanderdividieren lässt. In den 30er Jahren wehrten sich die arabischen Fallachen in Palästina gegen den Verkauf des Landes an zionistische Aufkäufer, die die arabischen Bauern durch jüdische Siedler ersetzen wollten. Zwei Momente kamen in diesen Protesten und Revolten zusammen: die Weigerung, sich von den eigenen Subsistenzmittel trennen zu lassen auf der einen Seite und eine sich steigernde antijüdische Haltung unter der arabisch-palästinensischen Bevölkerung. Die antisemitische Agitation palästinensischer Eliten, darunter der erklärte Hitler-Anhänger und Antisemit al Husseini, Großmufti von Jerusalem, heizte den Konflikt weiter an. 

In den arabischen Despotien erhob sich ein antijüdischer und später antiisraelischer Kanon, der an die nationalsozialistische Sprache der 30er Jahre erinnerte und zum Angriffskrieg kurz nach israelischer Staatsgründung führte. Mit dem Krieg von 1948 hatten schließlich die Despoten des arabischen Raums ihren Sündenbock markiert: auf einen ganzen Staat, der als "westlich", fremd und ausbeuterisch hingestellt werden konnte, sollten sämtlichen inneren Probleme der post-kolonialen Regimes abgewälzt werden.

So spielte der den Israel-Palästina-Konflikt instrumentalisierende Antisemitismus in einigen post-kolonialen Regimes eine nicht zu unterschätzende Rolle. Schon die Einhegung des Sozialismus "in einem Land", wie Stalin betonte, war von Antisemitismus und der Agitation gegen den "Kosmopolitismus" und "Zionismus" begleitet. Der Nationalismus und der Produktivismus, der mit der Industrialisierungspolitik verbunden war führte zur Ernennung eines "parasitären" und "ortlosen" Gegenprinzips. Das hat Parallelen zur Politik einiger post-kolonialer Regimes. Als "3.Welt"-Länder wollten sie sich durch eine nachholende Modernisierung eine bessere Startbedingung auf dem kapitalistischen Weltmarkt ergattern. Durch diesen eingeschlagenen Weg der forcierten Industrialisierung geriete die Bevölkerung unter starken Druck. Die peripher kapitalistische Entwicklung folgte einer ökonomische Modernisierungspolitik, die die gesellschaftlichen Freiheiten der Moderne allerdings als "westlich-dekadent" zurückwies. Hier wurden in einigen Ländern die Sprachsymbole, die auch aus der sich industrialisierenden Sowjetunion unter Stalin bekannt sind, wirkungsmächtig. So wurde in der staatlichen Propaganda sowohl im Iran wie im Irak dem hofierten Bauern und Arbeiter, der real aber der Verlierer der nachholenden Modernisierung war, "der Jude" in Form von "dem Zionisten" entgegengestellt. Dies traf sich in diesen Ländern mit einer positiven Orientierung am nationalsozialistischen Deutschland.  Es blieb nicht bloß bei der Agitation: Anfang der 40er Jahre hoffte die irakische Regierung mittels der Ermordung hunderter von Juden eine anti-britische Volkskampagne schüren zu können, die jedoch bei der Bevölkerung nicht zündete. In den 50er Jahren wurden im Irak wie auch in Ägypten unter Abd Al-Nasser antijüdische Gesetze erlassen, die viele Juden zur Emigration zwangen. 

Dieser aggressive Antisemitismus im arabischen Raum trug dem Staat Israel die unterschiedlichsten Sympathien zu. Auch viele Linke sahen zu Beginn der Staatsgründung einen neuen, mit Kibbuzims und Kollektivarbeit verbundenen real-sozialistischen Versuch, der sich vom arabischen Feudalismus positiv abhob. 

Nach dem Holocaust haben die Weltpolitik schreibenden Staaten sich für die Gründung Israels ausgesprochen, so lieferte die Sowjetunion noch dem bedrängten jungen Nationalstaat Waffen zur Verteigung. Sowohl die USA als auch die Sowjetunion versuchten, Israel als Bündnispartner zu gewinnen. Das sich vertiefende weltpolitische Schisma im Kalten Krieg führte aber bald zu einer Spaltung in östlichen Anti- und westlichen Philosemitismus. In beiden Gesellschaftssystemen nahm die fatale Gewissheit, Antisemitismus habe es mal gegeben, gebe es aber nicht mehr, einen Platz in der eigenen Legitimation ein. Die offizielle anti-antisemitische Staatsauffaussung in Deutschland zeigte nur die Künstlichkeit des restaurierten Liberalismus nach dem Faschismus. In den realsozialistischen Ländern erfolgte eine Wiederbelebung des Antisemitismus unter dem Etikett des Antizionismus. Letzterer wurde auch von der Linken in dem Maße vertreten, wie der Israel/Palästina-Konflikt nur noch als besonderer Kolonialkonflikt gewertet wurde. 

In Frankreich spalteten sich sich zwar 1967 die linken Vietnam-Komitees in pro-israelische und pro-palästinensische Fraktionen, doch mehrheitlich wollte die Linke im Israel-Palästina auch bloß einen weiteren Kampf eines "unterdrückten Volkes" gegen "den Imperialismus"erkennen. Ihr gelang es nicht, die von Ulrike Meinhof noch 1967 bekundete Sympathie mit Israel aufrechtzuerhalten. Viele Unterstützer der "unterdrückten Völker" identifizierten sich total mit ihrem Objekt der Solidarität und konnte den Palästinensern - der Logik der nationalen Befreiung folgend - den Verzicht auf Palästina nicht abverlangen. Parallel dazu wurde der Faschismusbegriff seines Inhalts entkleidet und die USA und Israel standen in der wüstesten antiimperialistischen Rhetorik als "faschistische Mächte" da. Der sich durchsetzende Antiimperialismus veränderte das antifaschistische Gedächnis bis zur Unkenntlichkeit. Heutzutage scheint über die Verkleidung des Antisemitismus in Israel-Kritik dieser verstärkt zu einem Problem der Linken geworden zu sein und das obwohl es den stalinistischen Antizionismus nicht mehr gibt. So ist es verdächtig, wenn hegemoniale Fraktionen der Linken angesichts des 11.September bloß über die ungerechte Weltwirtschaftsordnung reden wollen, sich jedoch über Antisemitismus und den reaktionären Gehalt des Islamismus ausschweigen. 

Ein jüngeres Beispiel hierfür ist Ted Honderichs Rechtfertigung palästinensischer Terroranschläge, eine Bekundung, die im Kontext einer linken moralisierenden Sozialkritik an den unterschiedlichen Lebenschancen im globalen Kapitalismus steht. Ein weiteres mal scheint die Aussage des Harvard-Präsidenten Lawrence Summers Bestätigung gefunden zu haben, wonach zutiefst antiisraelische Ansichten zunehmend Unterstützung in progressiven intellektuellen Kreisen finden würde. "Ernsthafte und nachdenkliche Leute befürworten und begehen Handlungen, die in ihrere Wirkung, wenn nicht ihrer Absicht nach antisemitisch sind", klagte Summers.

Alle Debatten um die Zulässigkeit einer solchen Diagnose bewegen sich im Spannungsfeld zwischen der Erkenntnis, dass sich der Antisemitismus zuweilen als Israel-Kritik gebärdet und der Bekundung, dass es - um Dan Diner zu zitieren - "billig und rationalisierend zugleich" ist, "eine jede Kritik an Israel, auch eine Fundamentalkritik am Zionismus, als antisemitisch abzutun." 

Denn die Realität des Nah-Ost-Konflikts und der unhaltbaren Besatzungspolitik Israels lässt sich nicht ausblenden. Wer Antisemit ist, wird es auch nach der Beendigung des Konflikts bleiben, aber ein Ende des Konflikts wird die Wirkungsmacht antisemitischer Propaganda einschränken. Eine klare Täter-Opfer-Wahrnehmung allein vor dem Hintergrund des tatsächlich vorhandenen Antisemitismus und der palästinensischen Mordaktionen verkennt und verdreht die Machtpositionen in diesem Kampf um Souveränität, Land und Staatswerdung. Daneben muss auch auf die Rolle und Funktion, die "Antisemitismus" gleichsam als Code im politischen Handgemenge einnimmt, refektiert werden. Der zum Staat gewordene Zionismus baut seine aggressiv-nationalistische Seite weiter aus und rechtfertigt nicht nur die Existenz eines jüdischen Staates in Palästina, sondern auch die reale Staatspraxis über die Existenz des Antisemitismus. Dies führt zur politischen Instrumentalisierung der Warnung vor Antisemitismus, auch bei Gruppierungen, die sich dem Staat Israel kritiklos verbunden fühlen. So machte sich jüngst die Anti-Defamation-League dafür stark, dass der italienische Regierungschef und Mussolini-Anhänger Berlusconi als Kämpfer gegen den Antisemitismus geehrt wird, begründet wird dies mit seiner Treue zu den USA und zu Israel. 

Auch einige ehemalige Linke und Liberale scheinen aus dem 11.September nur noch die Verteidigung liberaler Werte und des "pursuit of happiness" als historische Lehre zu ziehen. Der 11.September sorgt bei ihnen für einen anti-totalitären turn. Die krisengebeutelten, autoritär und patriotisch sich formierenden USA werden ihnen zum machtvollen antifaschistischen Garant für freedom and democracy im Kampf gegen einen weltweiten Anti-Liberalismus. Die Warnung vor dem Antisemitismus des Islamismus verkommt hier zur ideologischen Begleitmusik, um sich in einer zunehmend chaotischer werdenend Welt hinter dem Hegemon des kapitalistischen Weltsystems zu verschanzen. Auch hier macht sich der pessimistic turn, vorallem unter ehemaligen glühenden Linken, bemerkbar: An einer positiven, gar radikalen Veränderungsperspektive mag man nicht mehr festhalten. In den USA sind dies ehemals linksradikale Autoren wie Paul Berman, Autor des Buches Terror and Liberalism, in Deutschland finden sich solche Positionen in der liberalen Wochenzeitung Die Zeit oder bei sogenannten "antideutschen" Autoren aus der linken Szene.

Der scheinrevolutionäre Charakter des Antisemitismus droht auf alle wirklich revolutionären Versuche zurückzufallen. Der Nationalsozialismus inszenierte sich als revolutionär und "antikapitalistisch", allerdings zum Zweck der Konterrevolution und "im Dienste des Kapitals" (Ulrich Enderwitz), die Attentäter des 11.September wollten sich als Rächer der "unterdrückten Muslime" präsentieren und stellen doch bloß eine irrational-nihilistische Elite dar. In den Augen der bürgerlichen Ideologie und der Totalitarismustheorie ist das Scheinrevolutionäre nicht zu unterscheiden von radikalen Bestrebungen, die die bürgerliche Ordnung ablehnen. Eine an die Fundamente dieser Gesellschaft gehende Kritik wird mit dem autoritär nach Halt suchendem Fundamentalismus parallelisiert, um den postmodernen Relativismus als einzig adäquate anti-totalitäre Haltung zu präsentieren. Doch allein die wirkliche Kritik der globalen Verhältnisse, nicht ihre haltlose Verteidigung, mag der Scheinkritik des Antisemitismus wirksam zu begegnen. Jede Selbstbescheidung auf den "Kampf gegen Antisemitismus"erzeugt eine "Grenzziehung gegen die anderen Momente im Kampf von Herrschaft und Befreiung, ohne die eine Befreiung vom Antisemitismus selbst undenkbar ist" (Detlev Claussen). Schließlich kann der reaktionäre Hass auf Kapitalismus und "Moderne" die Bühne der Geschichte beherrschen, weil die revolutionäre Kritik sich verflüchtigt hat. 

Literatur: 

Adorno/Horkheimer, Elemente des Antisemitismus, in: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt am Main 1998

Detlef Claussen, Grenzen der Aufklärung. Die gesellschaftliche Genese des modernen Antisemitismus, Frankfurt 1987

Dan Diner, Täuschungen - Israel, die Linke und das Dilemma der Kritik, in: Wolfgang Kraushaar (Hg.) Frankfurter Schule und Studentenbewegung, Frankfurt 1998

Ulrich Enderwitz, Antisemitismus und Volksstaat. Zur Pathologie kapitalistischer Krisenbewältigung, Freiburg 1991

Michael Kiefer, Antisemitismus in den islamischen Gesellschaften. Der Palästina-Konflikt und der Transfer eines Feindbildes, Düsseldorf 2002

Editorische Anmerkungen:

Gerhard Hanloser ist Autor des Buch "Krise und Antisemitismus. Eine Geschichte in drei Stationen von der Gründerzeit über die Weltwirtschaftskrise bis heute" 

Der Autor stellte uns seinen Artikel in der vorliegenden Fassung für die Nr. 11-03 zur Veröffentlichung zur Verfügung.